Artilleriebeschuss in der Ostukraine: Das Grauen von Charkiw

In einigen Stadtteilen können Bewohner die Trümmer beseitigen. Doch der russische Beschuss dauert an.

Ein Haus mit weggesprengter Fassade. Innen Trümmer, Bäder, ein Bett, eine heruntergestürzte Heizung

In das das 16-stöckige Hochhaus in der Straße der Völkerfreundschaft sind mehrere Granaten eingeschlagen Foto: Metin Akas/AA/Picture Alliance

CHARKIW taz | Sergei klingt bitter. „Gefühle? Habe ich nicht mehr“, sagt der 52-Jährige in den Räumen, die mal seine Wohnung waren. Seit vergangenem März ist er zum ersten Mal zurück in Sewernaja Saltowka, dem Stadtteil von Charkiw, der am schwersten von russischen Angriffen betroffen ist. Unter dem Feuer der Artillerie holt Sergei acht Säcke mit Glasscherben, kaputten Fliesen und zerbrochenem Geschirr aus seiner Wohnung im Haus Nummer 271 in der Straße der Völkerfreundschaft heraus. „Das ist alles nur aus einem Zimmer“, sagt er.

Sergei kann überhaupt nur in seine Wohnung, weil zeitgleich ukrainische Helfer zusammen mit kanadischen Kollegen von der Organisation „Canadian International Rescue Organization“ (CIRO) das Dach des 16-stöckigen Wohnhauses von Trümmern befreien. Mehrere Granaten sind dort eingeschlagen, und die Helfer müssen in 50 Metern Höhe aufgehängte Platten entfernen und dort Reparaturen vornehmen.

Jeden Tag kommen zwei bis drei Familien in das Haus, um ihre Habseligkeiten herauszuholen oder in ihren Wohnungen aufzuräumen. Ewgeni Wasilenko, Sprecher der ukrainischen Hauptverwaltung für Katastrophenschutz (GSCS), ist sich nicht sicher, ob das 16-stöckige Hochhaus in der Straße der Völkerfreundschaft angesichts der Schäden erhalten werden kann. „Das lässt sich erst abschätzen, wenn die Angriffe hier weniger werden.“ Eine Kommission aus Architekten und Bauarbeitern werde dann entscheiden, ob das Haus restauriert werden kann oder abgerissen werden muss, sagt er.

Und tatsächlich: Ab der neunten Etage weisen die Treppenläufe starke Krümmungen auf, einige Stufen sind ungewöhnlich schräg und neigen sich nach vorne sowie nach links. Einige Stockwerke höher sind Risse in den Stützkonstruktionen zu erkennen, zwischen manchen Platten klaffen handtellergroße Lücken. In jeder Etage türmen sich Berge von Glasscherben, Putz und Resten von Wohnungstüren, die von den Druckwellen zerstört wurden.

Das Problem mit den kaputten Kühlschränken

Der 13. Stock riecht nach Leichen. Es ist nicht herauszufinden, ob der süßliche Verwesungsgeruch von einem toten Menschen oder einem Haustier stammt, das zurückgelassen wurde. Vielleicht ist es auch nur ein Kühlschrank, in dem, mangels Stromversorgung, Fleisch schlecht geworden ist. Das sei Ende Mai der Fall gewesen, als Helfer nach einer Vermisstenmeldung unter den Trümmern eines Hochhauses alles absuchten, weil sie Geruch von verwesendem Fleisch wahrgenommen hätten. Wasilenko erzählt: „Das war auch in Sewernaja Saltowka. Die Helfer hatten dort fast den ganzen Tag gearbeitet. Schließlich fanden sie unter den Trümmern einen Kühlschrank, voll gestopft mit verdorbenem Fleisch.“

Die meisten Türen sind mit einem Schloss verriegelt, die Helfer dürfen die Wohnungen, die dahinter liegen, nicht betreten. „Die Leute müssen sich zunächst an die Polizei wenden, dass zum Beispiel jemand vermisst wird oder sie sicher sind, dass jemand von den Trümmern begraben wurde. Dann begeben wir uns dorthin und bergen die Leiche“, sagt Wasilenko.

Auf dem Dach, das eine Rakete weggerissen hat, ist die internationale Helfergruppe zugange. Sie zerschneiden Metallkonstruktionen, an denen tonnenschwere Betonblöcke hängen – sie stammen von einem Treppenaufgang. Ohne eine spezielle Absicherung geht es hier nicht weiter. Alle bleiben vor der kaputten Treppe stehen, die zum elektrischen Versorgungsraum des Hauses führt, und einem fast 50 Meter tiefen Abgrund.

Der Beschuss geht weiter

Von oben sieht das Haus wie eine Mini-Kopie des zerstörten vierten Reaktors des Atomkraftwerkes Tschernobyl aus. „In dieses Gebäude sind alle möglichen Geschosse eingeschlagen. Diese Häuser wurden mit Mehrfachraketensystemen unter Beschuss genommen, hier wurde alles der Reihe nach weggeräumt“, sagt Wasilenko.

Angaben des Katastrophenschutzes zufolge wurden in Charkiw bis zum 7. Juni in insgesamt 17 Wohnhäusern und Verwaltungsgebäuden die Trümmer beseitigt. Vor den Helfern liegt aber noch viel Arbeit, insbesondere in den Charkiwer Stadtteilen Sewernaja Saltowka, Pjatichatki sowie den Siedlungen Schukow und Horizont. Die genaue Anzahl beschädigter Wohngebäude ist bisher nicht bekannt. Charkiw wird weiterhin täglich von Raketen und Artillerie angegriffen.

Die Helfer steigen schließlich vom Dach des 16-stöckigen Wohnhauses herab. Auf der Straße der Völkerfreundschaft steht eine junge Frau, sie ist unauffällig gekleidet und es hat den Anschein, als sei sie betrunken.

Sie bietet, ob im Scherz oder im Ernst, Sex an – dafür sollen ihr die Helfer Zutritt zu ihrer Wohnung im dritten Stock verschaffen. Dann tauchen drei Teenager auf. Sie berichten, dass 100 Meter entfernt, in der Straße Metrostroitelja 40, unter den Trümmern eines neunstöckigen Gebäudes die Leiche eines älteren Mannes liege. Angeblich sei er zu Tode gekommen, als eine Granate das Haus traf.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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