Russische Putin-Gegner in Georgien: Begegnungen im Exil

Viele russische Regimegegner fliehen nach Georgien. In Tiflis gibt es Selbsthilfegruppen und kulturelle Aktivitäten. Aber auch Konflikte.

Straßenszene in Tiflis. Auf einem Auto steht auf Georgisch "Putin ist ein Dummkopf"

Mit Russland haben Georgier wenig am Hut. „Putin ist ein Dummkopf“ steht auf dem Wagen Foto: Laetitia Vancon/NYT/Redux/laif

Vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis liegt ein ziemlich großer Findling. Damit er zwischen dem stark befahrenen Rustaweli-Boulevard und dem 16 Säulen starken sowjetischen Architekturriesen nicht verloren geht, hat man ihn mit einem Betonrahmen umgeben. Eine Gedenkplakette erinnert an den 9. April 1989, den Tag, an dem sich vor dem Parlamentsgebäude über 100.000 Georgier öffentlich gegen die Sowjetmacht aussprachen. Sowjetische Truppen griffen ein. 21 Menschen überlebten das nicht, unter den Opfern war eine schwangere Frau.

Im Sommer 2022 ist der Stein umgeben von Fotos, die junge Georgier und junge Belarussen zeigen, die für die Ukraine gekämpft haben und gefallen sind. Und was außerdem auffällt: Vor dem Parlament sind zwei Flaggen aufgezogen, die georgische Flagge – ein großes rotes Kreuz und vier kleine rote Kreuze auf weißen Grund – und die Flagge der Europäischen Union.

80 Prozent der georgischen Bevölkerung wünscht sich laut einer Umfrage den Beitritt des Landes zur EU. Vor Kurzem haben Demonstrierende die Absetzung der gegenwärtigen Regierung gefordert, denn die, so erläutern mir vier georgische Journalistinnen, tue nichts, um die geforderten Standards zu erreichen, etwa beim Abbau von Korruption.

Besetzung durch russische Truppen in 2008

Die EU hat dem Anwärterstaat Georgien eine Frist bis Ende des Jahres zur Erfüllung der Aufnahmebedingungen gesetzt. Die Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude wollen eine Übergangsregierung, die aus NGOs und Technokraten besteht, denn nur so könne effektiv an den „Hausaufgaben der EU“ gearbeitet werden. Davon sind auch die Journalistinnen überzeugt.

Im Jahr 2008 marschierten russische Truppen in Georgien ein und besetzten Abchasien und Nordossetien – ein Fünftel des georgischen Territoriums. Seitdem gibt es keine bilateralen Beziehungen mehr zwischen beiden Ländern. Das macht Georgien zu einem sicheren Land für russische RegimegegnerInnen, denen in Russland eine Strafverfolgung droht.

So sind lange schon vor dem 24. Februar 2022 russische MenschenrechtsaktivistInnen und MitarbeiterInnen von Alexei Nawalnys Antikorruptionsstiftung ins georgische Exil gegangen. Die Einreise ist unkompliziert. RussInnen brauchen nur einen gültigen Pass, die Sputnik-Impfung gegen Corona wird akzeptiert. Und es gibt eine lokale Organisation, die sich um die EmigrantInnen kümmert und die auch einen guten Draht zu Behörden hat: „Free Russia“ heißt sie.

Der Kontakt zu „Free Russia“ kann für russische ExilantInnen nützlich sein, aber auch dazu führen, dass VertreterInnen dieser alteingesessenen Organisation den ExilantInnen eine Teilnahme an den Antiregierungsprotesten verbieten wollen. Begründung: Sonst würde die Organisation ihre guten Beziehungen zu den Behörden aufs Spiel setzen. Direkte Drohung: Wer mitdemonstriert, dem wird nicht mehr geholfen.

Solidaritätsfest für die Ukraine

Seit dem Kriegsanfang sind über 35.000 russische StaatsbürgerInnen nach Georgien geflohen. Inzwischen haben sich vor Ort aus der russischsprachigen Community heraus zwei neue NGOs gegründet: „Frame“ und „Emigration for action“. Durch Spenden finanziert „Emigration for action“ die Miete für ein einstöckiges Häuschen unweit der Tifliser Altstadt. Der Keller ist vollgestellt mit Regalen voller Medikamente. Die werden in die Ukraine, zum Beispiel nach Mariupol geschickt und an ukrainische EmigrantInnen in Georgien abgegeben.

Im Erdgeschoss befindet sich eine Bar, in der neben Getränken einfache Stofftaschen mit der russischen Aufschrift „Meinungsfreiheit“ zum Projekt-Unterstützerpreis von 70 Lari (circa 23 Euro) verkauft werden. Evgenij, einer der Organisatoren, zeigt mir das große Zimmer neben der Bar, in dem einmal im Monat ein Solidaritätsfest für die Ukraine gegeben wird, und er erzählt von den verschiedenen Gesprächsformaten, die dort wöchentlich stattfinden, um für RussInnen im Exil einen Raum der Begegnung zu schaffen.

An diesem Abend haben sich knapp zwanzig EmigrantInnen eingefunden. Alle sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, bis auf Natascha, sie ist über sechzig. Alle sitzen sie im Kreis. Es ist die Auftaktveranstaltung für eine Selbsthilfegruppe, die sich über erlittene Gewalt, existierende Traumata, die jetzige Situation und Zukunftsperspektiven austauscht.

Alle TeilnehmerInnen (bis auf einen) waren bis zu ihrer erzwungenen Emi­gra­tion politische AktivistInnen in Russland. Alle (bis auf Natascha) sind kinderlos. Die meisten haben keinen Partner. Da ist man flexibler und weniger erpressbar.

Als ausländischer Agent geführt

Mascha hat am 16. Januar Russland verlassen, weil ihr aufgrund eines Posts zwölf Jahre Haft drohten. Sie erinnert sich: „Irgendwann füllte Geldverdienen mein Leben nicht mehr aus, ich wollte etwas wirklich Sinnvolles tun. Da wurde ich Mitarbeiterin beim Nawalny-Stab in meiner Heimatstadt Tscheljabinsk im Ural.“

Mascha wird wie fast alle anderen in diesem Raum in Russland inzwischen als ausländischer Agent geführt (im Russischen wird diese Bezeichnung nur in der männlichen Form verwendet). Wenn sich abzeichnet, dass man in Kürze in diese Rubrik fällt, was in der Regel eine gelenkte Gerichtsverhandlung am selben Tag bedeutet – mit der Aussicht auf jahrelangen Freiheitsentzug –, sollte man so schnell wie möglich das Land verlassen. Das ist einer der Hauptgründe für die Emigration vor dem 24. Februar.

Natascha und Mischa sind Menschenrechtsaktivisten aus Sankt Petersburg. Mischa erzählt, dass er sich um Obdachlose gekümmert hat. Er hat eine leise Stimme, doch als er aufzählt, in wie vielen Bereichen er als Freiwilliger aktiv war, und die Liste der lokalen, ganz unterschiedlich gelagerten Menschenrechtsinitiativen gar nicht mehr aufhört, ist klar: Hier sitzt jemand, der sich als Bürger eines repressiven Staats bewusst dafür entschieden hat, seine ganze Kraft in die Verwirklichung der Menschenrechte vor Ort zu stecken.

Viele sind traumatisiert

Für ihn wie für Mascha hat der Krieg in der Ukraine 2014 mit der Annexion der Krim begonnen. Natascha engagiert sich für die Rechte der Krimtataren und ist deshalb oft von der russischen Polizei verfolgt worden. Die Flagge der Krimtataren gilt in Russland als extremistisches Symbol. Sie resümiert: „In den letzten Jahren konnte ich nur ruhig schlafen, wenn ich nicht in Russland war.“

Viele der Anwesenden sind traumatisiert. Sie sprechen das nicht direkt aus. Aber sie erzählen zum Beispiel vom Hochschrecken um 5 Uhr morgens, wenn sie ein Geräusch hören. Der frühe Morgen ist die von der Polizei und Putins Nationalgarde bevorzugte Tageszeit, um Regimegegner zu Hause zu verhaften und gleich mitzunehmen. Die russischen Exilanten müssen in Geor­gien auch neu lernen, in der Polizei keine Gefahr zu sehen. Das konnten sie bei der Gay Pride am 2. Juli erleben, während der ein großes Polizeiaufgebot die TeilnehmerInnen effektiv und unterstützend von den Pride-Gegnern abschirmte, wie sich Mascha – immer noch ungläubig – erinnert.

„Wie viel Energie ich durch die ständige Bedrohungssituation in Russland verbraucht habe, begreife ich erst hier. Denn hier lässt man mich in Ruhe. Und darum fühle ich mich in Georgien sicher“, denkt Mascha laut nach. Julia, Juristin mit Fokus auf die Durchsetzung von Menschenrechten in Russland, pflichtet ihr bei.

Wo wart ihr 2008?

Die meisten EmigrantInnen sind nach Tiflis gekommen, weil die Einreise einfach ist und sie hier jemanden kannten, bei dem sie erst einmal unterkommen konnten und der bei den ersten Formalitäten behilflich war, der Eröffnung eines Bankkontos bei einer georgischen Bank zum Beispiel.

So eine Kontoeröffnung wird inzwischen schwieriger für Menschen mit russischem Pass. So verlangt eine private Bank mittlerweile, dass man sich vor der Eröffnung schriftlich gegen den russischen Angriffskrieg positioniert. Das ist für die Mehrzahl der ExilantInnen kein Problem, für einige aber doch.

Es gibt auch nicht wenige, die nach dem ersten Schock, der sie zur Ausreise trieb, wieder nach Russland zurückgekehrt sind. Das sind diejenigen, die sich vor dem 24. Februar nicht wirklich politisch gegen das Regime positioniert hatten. Und so unterstellen die vier geor­gischen Journalistinnen nicht wenigen russischen EmigrantInnen, dass sie nur nach Tiflis geflohen sind, weil es in Russland endgültig keine Wohlfühlnischen mehr gibt. Und sie fragen: Wo wart ihr 2008, als Russland den Krieg gegen Georgien begann?

Regimekritische Dramatik

Nicht nur das Parlamentsgebäude liegt am Rustaveli-Boulevard, einer der Hauptachsen der Stadt, dort findet man auch das Nationale Kunstmuseum und das Gribojedow-Theater. Es ist bis heute ein russischsprachiges Theater, das seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, als die Kaukasusrepublik Teil des russischen Zarenreichs war.

Sergos Mutter ist in diesem Theater seit über vierzig Jahren als Schauspielerin angestellt. Durch sie, die Georgierin ist, aber Russisch wie eine zweite Muttersprache beherrscht, ist Sergo zweisprachig aufgewachsen. Er ist Gastregisseur am Theater und hat sich viel vorgenommen. Er will neue russische regimekritische Dramatik mit russischsprachigen ExilschauspielerInnen auf die Bühne bringen.

Seinen Cast für die erste Inszenierung hat er über den russischen Messengerdienst Telegram gefunden. Anfang Oktober soll „Wie wir Josef Stalin beerdigten“ vom Exilautor Artur Solomonow Premiere haben. Thema: die Stalinisierung der Gesellschaft – ohne dass es die Peitsche von oben bräuchte, denn ein Wink genügt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Sergo ist von seinem Ensemble begeistert: „Jeder möchte unbedingt spielen. Und jeder möchte genau in diesem Stück auftreten und sich dadurch politisch positionieren.“

Jurek war bis zum 24. Februar ein russischer Film- und Seriendarsteller. Er spielt Waldemar, einen Regisseur, der Stalin verkörpert und allmählich selbst zum Despoten wird. Seit 2012 engagiert er sich politisch und ist den russischen Behörden als Aktivist bekannt. Am 24. Februar überwies er Geld in die Ukraine, einen Tag später galt das als Straftat. Seitdem ist er in Tiflis. Er möchte die russische Staatsbürgerschaft ablegen und hat nichts gegen die georgische einzuwenden.

Und wer wird zur Premiere kommen? Mascha sagt: „Wer schon, die ExilrussInnen!“ Sergo hofft auf das georgische Publikum. Wenn beide Gruppen kämen, wäre das ein Moment der Begegnung – zwischen den ExilantInnen und den eingesessenen TifliserInnen –, den es so bislang nicht gegeben hat.

Reise und Recherche zu diesem Text wurden von der taz Panter Stiftung unterstützt.

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