Papst-Entschuldigung in Kanada: Bitte um Vergebung

In Kanada bittet Papst Franziskus Indigene erstmals in deren Heimat um Verzeihung für früheres Unrecht. Hinter manchen Erwartungen bleibt er zurück.

Ein Mann wischt sich Tränen aus dem Gesicht

Nach der Rede von Papst Franziskus fließen bei manchen die Tränen

CALGARY taz | Als Chief Marie-Anne Day Walker-Pelletier vor ein paar Monaten in Rom den Papst besuchte, brachte sie ihm aus Kanada zwei Paar kleine Kinderschuhe mit. Die handgefertigten Mokassins aus Leder sollten Franziskus stets daran erinnern, dass in den berüchtigten „Residential Schools“ in Kanada unter der Aufsicht der Kirche viele indigene Kinder starben und nie zu ihren Familien zurückkehrten.

Die Häuptlingsfrau aus Saskatchewan übergab die Mokassins in der Hoffnung, sie irgendwann wieder zurückzubekommen. Und zwar dann, wenn eine mahnende Erinnerung nicht mehr nötig ist, weil sich Franziskus in der Heimat der gestorbenen Kinder für die Verfehlungen der Kirche in den Schulen entschuldigt, in denen über ein Jahrhundert bis zu 6.000 indigene Kinder ums Leben kamen.

Am Montag war der Moment endlich gekommen. Um kurz nach elf Uhr morgens an einem regnerischen und kühlen Sommertag bat der Papst zum Auftakt seiner sechstägigen Reise durch Kanada in der indigenen Gemeinde Maskwacis bei den kanadischen Ureinwohnern offiziell um Entschuldigung für das erlittene Unrecht. Danach gab der Papst die Mokassins an Walker-Pelletier zurück. Sie sei erleichtert, die Schuhe wieder in Händen zu halten, sagte sie hinterher.

Die Übergabe der Schuhe war der emotionale Höhepunkt eines Tages, an dem der Papst deutlichere Worte wählte als bislang zu diesem Thema. „Ich bitte um Verzeihung für die Art und Weise, in der leider viele Christen die Mentalität der Kolonialisierung unterstützt haben“, sagte er in der kreisrunden Arena von Maskwacis nahe Edmonton, in der sich rund 2.000 Ureinwohner aus allen Teilen Kanadas versammelt hatten.

„Kulturelle Zerstörung und erzwungene Assimilierung“

Die Internatsschulen in Kanada stünden als Beispiel für „kulturelle Zerstörung und erzwungene Assimilierung“ indigener Gemeinschaften, bekannte Franziskus und bedauerte die Mitwirkung von Kirchenvertretern und Ordensleuten an dem System, das vom Staat finanziert wurde. Die Folgen für indigene Familien seien katastrophal gewesen, die Teilnahme der Kirche ein verheerender Fehler. Live übersetzt wurden die Worte unter anderem in zwölf indigene Sprachen.

Bei seiner Rede wirkte Franziskus sichtlich angeschlagen, umrahmt wurde er von den vier Häuptlingen der Region. Der kreisrunde Versammlungsort in einer traditionellen Tanzarena war bewusst gewählt, denn Kreise stehen bei vielen indigenen Völkern für das ewige Leben – und den Akt der Heilung und Versöhnung. Den will der Papst mit den Betroffenen nun gemeinsam gehen.

„Ich bitte um Vergebung für das Böse, das so viele Christen indigenen Menschen angetan haben“, schloss Franziskus unter Applaus, bevor er einen traditionellen Federschmuck übergestülpt bekam und als Ehrenmitglied in die Stämme von Maskwacis aufgenommen wurde. Begleitet wurde die Veranstaltung von traditionellen Trommelgesängen, die in vielen indigenen Gemeinschaften den Herzschlag symbolisieren und heute für die Vitalität indigener Kultur stehen.

Viele der Anwesenden waren in traditionellen Ornaten gekommen, einige trugen orange T-Shirts mit der Aufschrift: „Every child matters“ – jedes Kind zählt. Auf einem riesigen Banner im Zentrum der Arena hatten die Veranstalter unter den Augen des Papstes die Namen von tausenden gestorbenen und vermissten Kindern aufgelistet, von denen viele in anonymen Gräbern verscharrt wurden.

Die letzte Schule schloss erst 1996

Die meisten der Kinder starben an Unterernährung oder Krankheiten, manche auch an den Folgen der physischen und sexuellen Gewalt, der Entfremdung oder Einsamkeit. Nach offiziellen Schätzungen mussten rund 150.000 Ureinwohnerkinder die Internate besuchen, mit dem Ziel, ihre indigene Kultur zu tilgen und sie in der weißen Gesellschaft zu assimilieren. Die letzte der Schulen schloss im Jahre 1996.

Nur wenige Schritte von der Arena von Maskwacis entfernt befand sich lange eine der größten derartigen Schulen in Kanada: Die „Ermineskin Indian Residential School“ war zwischen 1916 und 1975 in Betrieb, wurde mittlerweile aber abgerissen. Heute haben die Ureinwohner dort auf einer grünen Wiese fünf Tipi-Zelte aufgebaut, unweit wurden auf einem Friedhof wohl auch Internatskinder begraben.

Manche der Gräber sind markiert mit weißen Kreuzen, manche bleiben unmarkiert. Am Montag stoppte Franziskus an beiden Orten für ein stilles Gebet – es war das erste Mal, dass ein Papst den Standort einer ehemaligen „Residential School“ besuchte. Gekommen war der Papst im Rollstuhl, immer wieder hielt er sichtlich ergriffen inne, später sprach er von einem „Schmerzschrei“ im Angesicht der Gräber.

Schmerzvoll war der Tag aber besonders für die ehemaligen Schülerinnen und Schüler. Mit Sondermaschinen und Bussen waren sie aus dem ganzen Land angereist, um bei der historischen Entschuldigung dabei zu sein. Viele verfolgten die Äußerungen des Papstes unter Tränen, manche mit geschlossenen Augen. Für manche war es ein notwendiges Signal der Versöhnung, andere hatten sich mehr erhofft.

Der Papst hat den Begriff des „kulturellen Genozid“ vermieden

„Nachdem ich den Papst gehört habe, bin ich überzeugt, dass wir gemeinsam bei der Versöhnung vorangehen können“, meinte hinterher Häuptling George Archand von der Alexander First Nation in Alberta. „Die Entschuldigung war aufrecht. Ich akzeptiere sie und bin bereit, zu vergeben“, sagte Andre Tautu aus Chesterfield Inlet dem Sender CBC. Tautu musste selbst eine der Schulen besuchen und gehört dem Volk der Inuit an.

Die oberste Vertreterin der kanadischen Ureinwohner, RoseAnne Archibald, sprach von einem Schritt voran, der Überlebenden viel bedeute. Sie wies aber auch darauf hin, dass es sich nur um einen Anfang handle und dass die Entschuldigung zu kurz greife. Beispielsweise habe der Papst nicht die Institution Kirche als Ganzes in Verantwortung genommen und anders als die kanadische Wahrheits- und Versöhnungskommission den Begriff „Kultureller Genozid“ für die Verbrechen vermieden.

Enttäuscht waren auch jene, die darauf gehofft hatten, dass der Papst Dekrete aus dem 15. Jahrhundert widerrufe, die die Kolonialisierung von nicht christlichen Ländern rechtfertigten. Die sogenannte „Doktrin der Entdeckung“ beschrieb Kanada zur Zeit der Pioniere als ein leeres und nicht bewohntes Land, was zu Landnahme und Missachtung indigener Rechte und Kulturen führte.

„Leider ist der Geist des Kolonialismus noch nicht verschwunden“, bemängelte Judy Wilson von der Union of British Columbia Indian Chiefs. Die Kritiker hoffen, dass sich der Papst bis zum Ende seines Besuches noch klarer zu dieser Frage äußert. Morgen reist der Papst weiter nach Québec, danach geht es weiter in die Arktisgemeinde Iqaluit, wo er sich ebenfalls mit Überlebenden der Schulen treffen will.

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