Soziologe über Russland im Krieg: „Putins System steht unter Druck“

Der Moskauer Soziologe Greg Judin ist überzeugt: Mit Kriegsbeginn hat in Russlands Gesellschaft ein Umsturz stattgefunden. Mit welchem Ausgang?

Schatten von Polizisten, im Hintergrund eine Russland-Flagge.

Die Polizei ist nicht weit: Proteste gegen Putins Angriffskrieg im März in St. Petersburg Foto: Valentin Yegorshin/itar-tass/imago

taz: Herr Judin, trägt die russische Gesellschaft eine Mitverantwortung für Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Greg Judin: Um mit Hannah Arendt zu sprechen: Kraft dessen, dass jeder Mensch einer politischen Gemeinschaft angehört, trägt er für diese auch Verantwortung. Davon kann sich niemand freimachen.

Aber offensichtlich passiert genau das in Russland …

Laut Arendt gibt es Situationen im Leben, in denen es sich nicht lohnt, für den Frieden zu kämpfen. Doch jeder muss sich darüber klar werden, wofür er oder sie in einer bestimmten Situation die Verantwortung trägt. Hier kann man zwei Dinge tun: Position beziehen, selbst wenn das etwas kostet. Und in Russland kann das der Fall sein. Das Zweite ist, darüber nachzudenken, was ich in dieser Situation tun kann. Was hängt jetzt von mir ab? Das muss man sich selbst abverlangen.

1983 bei Moskau geboren. Lehrt als Soziologe und Politikwissenschaftler an der Moscow School for the Social and Economic Sciences und schreibt Kolumnen in der Zeitung Wedomosti.

Sie haben wiederholt von einer Atomisierung der russischen Gesellschaft gesprochen. Was bedeutet das genau?

Atomisierung ist die Zerstörung von Solidarität, jeder sieht sich nur als Individuum. Russland ist eines der Länder, in dem die Menschen am wenigsten Vertrauen haben. Diese Atomisierung hat schon früher eingesetzt, jedoch hat Wladimir Putin jetzt angefangen, diese Politik auch als strategisches Mittel einzusetzen.

Mit welchem Ziel?

Wenn jeder für sich ist, macht es das Regieren für ein totalitäres Regime leichter. Das heißt: Jede kollektive Aktion blockieren oder den Glauben daran, dass Menschen gemeinsame Interessen haben.

In einem Beitrag zum 9. Mai haben Sie von einem neuen russischen Faschismus gesprochen.

Unter Faschismus verstehe ich die klassische Triade Führer, Staat und Volk, die sich alle miteinander identifizieren. Faschismus, das ist ein totaler Staat, der mit dem Führer und der Gesellschaft eins ist. Du kannst nicht innerhalb der Gesellschaft sein, wenn du kein Teil des Staates bist. Wenn du gegen den Staat bist, bist du gezwungen, die Gesellschaft zu verlassen. Du bist ein Fremder, ein Verräter, ein Feind. Und du musst den Führer unterstützen. In Russland gab es diese Tendenzen schon früher, doch mit dem 24. Februar hat ein Umsturz stattgefunden. Er hat die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft verschwinden lassen.

Jeder Faschismus setzt eine Mobilisierung voraus. Bislang gründete Putins Regime auf einer Depolitisierung und Demobilisierung. Eine passive demobilisierte Masse ist das ideale Material für eine Mobilisierung. Warum? Weil zwischen den Menschen keine horizontalen Verbindungen bestehen. Doch das ändert sich jetzt. Der Faschismus ist eine Bewegung und eben mehr als eine Einheit zwischen Führer, Nation und Staat. Wenn wir verstehen wollen, was weiter passieren wird, müssen wir uns nicht nur auf das Regime konzentrieren, sondern auf diese starke faschistische Bewegung, die eine Mission hat. Deshalb wird das alles nicht aufhören, solange diese Mission nicht erfüllt ist oder dieses Regime nicht verschwindet.

Sie unterrichten an der Moskauer School of Economics. Wie wirkt sich die gegenwärtige Entwicklung auf das akademische Leben aus?

Der Druck auf das Bildungssystem ist massiv gewachsen, es ist zu einem Propagandasystem geworden. Hunderte Lehrkräfte und Studierende an staatlichen Hochschulen wurden entlassen oder relegiert. Die, die mit dem Staat nicht einverstanden sind, werden als Verräter gebrandmarkt. Jeden Tag betrifft das Dutzende, ich bekomme entsprechende Nachrichten. Alle Rektoren sind jetzt loyal. Auf den unteren Ebenen werden Lehrkräfte entlassen und durch Leute mit Verbindungen zum Geheimdienst FSB ersetzt.

Was bedeutet das für die nächsten Generationen?

Die Lehrpläne wurden komplett geändert. Der Geschichtsunterricht wird als Bereich angesehen, um Putins Version der Geschichte zu vermitteln, die krank und verrückt ist. In den Schulen gibt es jetzt sogenannte Unterrichtsstunden des Mutes. Das ist eine Kombination aus Putins Ansichten zur Geschichte und militaristischer Propaganda. Das reicht von den Universitäten über die Schulen bis hin zu den Kindergärten. Studenten denunzieren ihre Professoren.

So etwas gab bis zum 24. Februar nicht. Das alles vollzieht sich in einer Atmosphäre der Angst. Die Machthaber wissen ganz genau, dass die Jugend ihre Schwachstelle ist und ihre Ziele nicht unterstützt. Und sie brauchen Kanonenfutter. Sie tun alles, damit die jungen Leute in die Krieg ziehen und bereit sind zu sterben.

Versteht der Westen überhaupt, was in Russland vorgeht?

Die Illusionen sind verflogen. Ein Großteil der Eliten versteht, dass es keinen Weg zurück gibt. Dennoch gibt es keine strategischen Vorstellungen davon, wie mit Russland weiterverfahren werden soll.

Hat der Westen Fehler begangen?

Es gab Fehler, aber auch eine bewusst schädliche Politik des Westens. So, als ob alles gut gewesen sei, jetzt jedoch plötzlich in Russland ein sibirischer Bär aufgewacht sei. Das ist falsch. Wir haben übrigens jahrelang davor gewarnt, dass das alles so enden wird. Trotzdem hat sich nichts geändert. Im Jahr 2020 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den Kremlkritiker Alexei Nawalny in der Charité besucht, jedoch gleichzeitig darauf bestanden, dass der Vertrag über die Pipeline Nord Stream II erfüllt werden müsse. Wie kann so etwas sein?

Haben Sie eine Antwort darauf?

Hier führt es nicht weiter, auf die Beziehungen zwischen einzelnen Staaten zu blicken – Russland und Deutschland oder die Ukraine und Russland. Hier geht es um das globale Kapital, das eng mit Putin verbunden ist und die ganze Welt im Griff hat. Gerhard Schröder, ist das ein russischer Bär, ein russischer Imperialist? Nein, das ist das zynische Kapital, das sich daran gewöhnt hat, alles kaufen zu können, und dass der Stärkere im Recht ist. Putin weiß das und hat darauf gesetzt. Opfer dieser Allianz gibt es überall. Das sind vor allem die Menschen in der Ukraine, die einfach getötet werden. Das gilt ebenfalls für die Menschen in Belarus, die massiven Repressionen ausgesetzt sind.

Doch auch die Rus­s*in­nen leiden darunter. Ich möchte nur daran erinnern, dass es auch in Russland unter Putin Aufstandsversuche gab. Diese endeten immer damit, dass Putin irgendeinen gigantischen Milliardenvertrag abgeschlossen hat. Nehmen wir die finnische Firma Nokia. Mittlerweile wissen wir, dass Nokia in Russland ein großes Überwachungssystem aufgebaut hat, von dem klar war, dass Putin dieses System gegen seine Gegner einsetzen wird. Jetzt tritt Finnland der Nato bei. Wo ist da die Logik? Wenn sich das Kapital verselbstständigt und es unmöglich wird, es zu kontrollieren, dann ist das ein allgemeines Problem.

Welche Perspektiven sehen Sie?

Putins System steht unter Druck wie nie zuvor. Ich glaube, dass es in Russland zu einem Bürgerkrieg kommen wird: Zwischen ultrareaktionären imperialen Kräften, die das Land ins 19. Jahrhundert zurückführen wollen, und sogenannten republikanischen Kräften, die zum Beispiel Nawalny verkörpert. Diesen Konflikt sehen wir im gesamten postsowjetischen Raum, auch in der Ukraine. Dort gibt es ebenfalls Leute, vor allem im Osten, die zu einem Imperium zurück wollen. Sie sind jetzt weniger geworden, doch es gibt sie. Doch darüber wird nicht gerne geredet. Auch in Belarus gibt es dieses Phänomen, dort ist es jedoch einfacher. Ein ultrasowjetischer Präsident und eine republikanische Nation, die vor allem Gruppen junger Leute tragen.

Was Russland angeht, fehlt mir die Vorstellungskraft, ob es zu diesem Rückfall ins 19. Jahrhundert wirklich kommt. Doch wir sehen bereits, dass dieses Projekt darauf gründet, so viele Menschen wie möglich umzubringen. Alle diejenigen, die das Regime als seine Gegner ansieht. Welche Form dieser Konflikt annehmen wird, weiß ich nicht. Vielleicht Terror, ein Bürgerkrieg oder eine Revolution. Viel wird davon abhängen, wie der Krieg gegen die Ukraine endet.

Apropos Krieg gegen die Ukraine: Wie könnte ein künftiges Zusammenleben zwischen Ukrai­ne­r*in­nen und Rus­s*in­nen aussehen?

Russland muss anerkennen, dass dieser Krieg ein Verbrechen gegen den Nachbarn war. Das heißt, die Interessen der Ukraine zu ignorieren, sie als Eigentum zu betrachten und Fragen mit dem Einsatz von Gewalt versuchen zu lösen. Oder anders gesagt: Sinnvolle Gespräche können erst stattfinden, wenn sich Russland von der imperialistischen Idee verabschiedet und eine Republik wird. Dann werden die Ukrai­ne­r*in­nen verstehen, dass sie es mit jemandem anderen zu tun haben.

Das kann dauern. Was könnte in der Zwischenzeit getan werden? Nach Wegen für einen Dialog auf der Ebene der Zivilgesellschaft suchen?

Für einen Dialog sehe ich zurzeit nur bei konkreten Fragen eine Chance. Zum Beispiel, wenn Rus­s*in­nen in Europa ukrainische Geflüchtete unterstützen. Da kommt dann keiner auf die Idee, nach irgendeinem Pass zu fragen. Ich hoffe, dass es in absehbarer Zeit die Möglichkeit geben wird, über ernsthafte Fragen zu sprechen. Was passiert mit den umstrittenen Territorien? Bis auf Weiteres wird Putin den Krieg in der Ukraine nicht beenden, er ist fest entschlossen, dadurch seine Probleme in Europa zu lösen. Und dafür wird er so viele Menschen töten, wie er das für notwendig hält.

Wenn Russland zu der Erkenntnis kommt, dass die Freundschaft zwischen Russland und der Ukraine diesem barbarischen imperialistischen Projekt zum Opfer gefallen ist, könnten wieder pragmatische Beziehungen aufgebaut werden. Doch da müsste man die Ukrai­ne­r*in­nen fragen. Wenn sie das nicht wollen, könnte ich das auch verstehen.

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