Nach Explosion in Gefängnis in Donezk: Raketenangriff – oder nicht?

Bei einer Explosion in der Haftanstalt Oleniwka starben 57 ukrainische Kriegsgefangene. Die Ukraine wirft Russland das Vertuschen von Folterbeweisen vor.

Trauernde Angehörige mit Schildern.

Eine Mutter trauert um ihren Sohn, der im Gefängnis in Olewnika inhaftiert war Foto: David Goldman/AP

KIEW taz | 57 ukrainische Kriegsgefangene sind durch eine Explosion in der Haftanstalt Oleniwka in der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region Donezk ums Leben gekommen, 73 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Bis auf zwei Opfer wurden alle namentlich genannt, berichtet das russische Verteidigungsministerium, das der Ukraine die Schuld an dem Angriff gibt. So schlugen laut dem Ministerium angeblich US-amerikanische Himars-Raketen in dem Gefängnis ein. In diesem seien auch Kämpfer des Asow-Bataillons interniert, die sich im Mai ergeben hatten. Mit diesem Angriff, so die offizielle russische Version, habe die Ukraine ihre Kämpfenden einschüchtern und warnen wollen, sich nicht dem Feind zu ergeben.

Maxim Borodin, gewähltes Mitglied des Stadtrates von Mariupol, will das nicht glauben. Er zitiert auf seiner Facebook-Seite den Militärexperten Thomas Theiner, der ausschließt, dass das Gefängnis mit einer Rakete angegriffen wurde. Oleniwka, das 30 Kilometer südlich von Donezk liegt, befinde sich gerade einmal 15 Kilometer von der Front entfernt. Es sei nicht logisch, dass die ukrainische Seite für eine so kurze Entfernung teure Himars-Raketen einsetzen würde, wenn man genauso gut günstigere Artillerie hätte verwenden können.

Auch haben ihn die von der russischen Seite veröffentlichten Fotos des Hauses davon überzeugt, dass der Angriff nicht mit einer Himars-Rakete erfolgt sei. Diese könnten Betonwände durchbrechen, Wände völlig niederreißen. Doch die Explosion von Oleniwka sei von so geringer Intensität gewesen, dass nicht einmal die Betten um nur wenige Zentimeter verrückt worden wären. Zudem sei kein für einen Einschlag von ­Himars-Raketen typischer Krater zu sehen. Eine nahe gelegene Kaserne blieb von dem Angriff verschont.

„Das war eine Massenhinrichtung“

Auch Michajlo Podoljak, Berater des Chefs der ukrainischen Präsidialadministration, ist sich sicher, dass dies kein Raketeneinschlag war. Dies sei eine von russischer Seite geplante Tötung von Gefangenen gewesen. Dafür spreche auch, so Podoljak, dass die Gefangenen erst kurz vor dem Angriff in dieses Gebäude transferiert worden seien.

Gegenüber der taz befürchtete die Mutter eines Kämpfers, der derzeit in Oleniwka festgehalten wird, die ihren Namen nicht in der Zeitung sehen möchte, dass die von Russland angegebene Zahl von 57 getöteten Kriegsgefangenen möglicherweise untertrieben ist. „Das war eine Massenhinrichtung“, sagt sie. „Nun sind auch die anderen dort internierten Gefangenen gefährdet.“

Schon am Freitagabend hatte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte Söldner der russischen Gruppe „Wagner“ beschuldigt, den Angriff auf die Strafkolonie ausgeführt zu haben. Erst zwei Tage zuvor waren die Kriegsgefangenen dorthin verlegt worden. Dieser Angriff habe der Verschleierung gedient. Man habe die Veruntreuung von Geldern und, wichtiger noch, die Folter ukrainischer Gefangener verschleiern wollen, so der Generalstab.

Unterdessen dementierte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) auf Twitter eine Meldung, die Organisation habe Zutritt zum Lager erhalten. Einen Tag vor dem Angriff auf das Gefängnis war ein Video durch russische Telegram-Kanäle gegangen, das Folter ukrainischer Gefangener in einer Haftanstalt zeigt. Darin ist auch die Kastration eines gefesselten Ukrai­ners zu sehen.

Als einer der Ersten hatte Andriy Biletskyj die Folter der ukrainischen Militärangehörigen, die zum großen Teil Kämpfer des von Biletskyj gegründeten Asow-Bataillons sind, und den Angriff auf die Haftanstalt kommentiert. „Die russische Führung stellte die Massentötung von Gefangenen als eine Aktion der ukrainischen Armee dar. Doch es ist offensichtlich, dass es sich hier um eine im Voraus geplante Tat eines Landes handelt, dem der Begriff der Offiziersehre unbekannt ist, geschweige denn die Einhaltung der Genfer Konventionen, der Regeln und Gesetze des Krieges.“

Die meisten sind Asow-Kämpfer

Nun werden alle Asow-Einheiten, so der rechtsradikale ehemalige Asow-Kommandeur, Jagd auf jeden machen, der an dem Massaker beteiligt war. „Wo auch immer ihr euch versteckt, ihr werdet gefunden und vernichtet werden“, so Andriy Biletskyj. Und der Blogger Denis Kasanski erklärt: „Ich habe das Video, das die Folter eines ukrainischen Kriegsgefangenen zeigt, gesehen. Den Autoren dieses Videos sei es gesagt: Ihr habt hoffentlich kapiert, was wir nun mit euren Leuten machen werden.“

Demgegenüber erklärt die ukrainische Menschenrechtlerin Tetiana Pechonchyk auf ihrer Facebook-Seite: „Die Verbreitung eines Videos, das zeigt, wie einem ukrainischen Soldaten die Genitalien abgeschnitten werden, ist eine weitere psychologische Operation des Feindes im Informationskrieg. Ziel ist es, bei den Ukrainern Wut, Rachedurst und den Wunsch zu wecken, das Gleiche mit den russischen Kriegsgefangenen zu machen.“ Doch die Ukraine dürfe sich nicht auch auf dieses Niveau herablassen, so die Menschenrechtlerin.

So gehören laut Pechonchyk Folter und Hinrichtung zu den schlimmsten Kriegsverbrechen. Wenn die Ukraine als Reaktion auf die Handlungen des Feindes ebenso handele, weiche sie nicht nur von den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts, der zivilisierten Welt und den internationalen Normen ab, sondern ähnele auch dem Aggressorland, das sich auf die Seite der Barbarei und Grausamkeit stelle. Unterdessen hat die russische Botschaft in London einen umstrittenen Tweet aus dem Netz genommen. In diesem hatten Bewohner von Mariupol gefordert, Angehörige von „Asow“ zu hängen.

In dem für 1.100 Häftlinge ausgelegtem Gefängnis Oleniwka sollen sich nach ukrainischen Angaben derzeit über 3.000 Häftlinge aufhalten, die meisten von ihnen sind Kämpfer des Asow-Regiments, die das Gelände des Asow-Stahlwerkes im Mai verteidigten. 2.449 Asow-Kämpfer haben sich nach Angaben der ukrainischen Zeitung Ukrainska Prawda damals ergeben. Die meisten von ihnen seien in Oleniwka interniert.

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