Der atemlose Regisseur

Kämpfer für eine ekstatische Wahrheit: Die Deutsche Kinemathek würdigt den Filmemacher Werner Herzog mit einer Ausstellung, er sich selbst mit einer Autobiografie

Der Wunsch zu fliegen: Werner Herzog (mit Mikrofon) bei den Dreharbeiten zum Dokumentarfilm „Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ (1974) Foto: Werner Herzog Film/Deutsche Kinemathek

Von Michael Meyns

„Vieles in meinem Leben erscheint mir wie auf einem Hochseil, ohne dass ich die meiste Zeit überhaupt bemerkte, dass links und rechts neben mir ein Abgrund gähnte.“ So beschreibt Werner Herzog sein außerordentliches Leben, in dem er rund 70 Filme gedreht hat, dem Tod immer wieder von der Schippe gesprungen ist und in den letzten 15 Jahren zum international bekanntesten deutschen Regisseur geworden ist.

Am 5. September wird ­Herzog seinen 80. Geburtstag feiern; Anlass genug für die deutsche Kulturbranche, inoffizielle Werner­-Herzog-Festspiele zu veranstalten: Neben ­einer Wiedervorführung von ­„Fitzcarraldo“ und einem im Herbst startenden Dokumentarfilm über Herzog, erschien in diesen Tagen ein Band mit Erinnerungen Herzogs, für den er den Titel eines seiner bekanntesten Filme wiederverwendete: „Jeder für sich und Gott gegen alle.“

In Berlin wiederum eröffnet in der Deutschen Kinemathek eine große Sonderausstellung zu Werk und Person Herzogs, nicht die erste an diesem Ort: 20 Jahre sind seit der letzten großen Herzog-Schau vergangen. Und wie sich die Ausstellungen unterscheiden, in den Schwerpunkten und den angeschnittenen Themen, verrät viel über den Wandel der Rezeption Herzogs, aber auch den Wandel der Zeit.

Auch Zeitgenossen, die sich nur wenig mit dem ausufernden Œuvre Werner Herzogs auskennen, haben Assoziationen im Kopf, wenn sein Name fällt: Klaus Kinski, das Schiff auf dem Berg, ekstatische Wahrheit. Gerade dieser Begriff führt zu einem der wichtigsten, aber auch kompliziertesten Aspekte von Herzogs Filmen:der Frage, wie wahr diese denn sind, wie fiktiv die Dokumentationen, wie dokumentarisch die Spielfilme.

Gegen diesen klassischen Unterschied hat sich Herzog stets verwahrt, hat darauf beharrt, dass er mit seinen Filmen eine höhere Wahrheit sucht, dass er zwar durchaus bei dokumentarischen Arbeiten Szenen erfindet, aber nur, um zu einer größeren Wahrhaftigkeit zu gelangen, eben der ekstatischen Wahrheit. Wie vage, subjektiv und willkürlich dieser Begriff ist, muss kaum betont werden, wie problematisch dieses Konzept gerade in Zeiten des ständigen Vorwurfs der „Fake News“ sein kann, erst recht nicht.

Wenn man mit diesem Gedanken im Kopf Herzogs Memoiren liest, von der Kindheit auf dem Land, den ersten filmischen Abenteuern, dabei über oft wiederholte Anekdoten stolpert, die in stets leichter Variation auftauchen, stellt sich die Frage, was hier Wahrheit und was Selbstdarstellung ist. Ein spezieller Charakter war Herzog schon immer, wanderte einmal von München nach ­Paris, um das Leben der Filmhistorikerin Lotte Eisner zu retten; flog auf eine Insel, wo bald ein Vulkan ausbrechen sollte, um einen Film zu drehen; und riskierte auch sonst immer wieder sein Leben.

Dass Herzog überhaupt noch unter uns weilt, darf als kleines Wunder gelten. Zahllose Arm- und Beinbrüche, eine Nierenkolik, ein ausgerenktes Schlüsselbein, abgerissene Gesichtshaut, zentimeterlange Kakteenstacheln, „die in meinen Kniekehlen überwinterten“, hat er hinter sich. Man kann getrost sagen, dass Herzog für seine Filme sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, was seltsam erscheinen mag, aber sein gutes Recht ist.

Problematischer erscheint aus heutiger Sicht, dass es nicht nur Herzog war, der mit mehr oder weniger starken physischen und psychischen Wunden von Dreharbeiten zurückkehrte, sondern auch seine Mitarbeiter. Und auch hier muss zwischen seinen engen Mitarbeitern, die wissen, worauf sie sich einlassen, und den Hilfsarbeitern vor Ort unterschieden werden. Bei den Dreharbeiten zum legendären „Fitzcarraldo“ etwa verunglückte ein Mitarbeiter und blieb querschnittsgelähmt, ein anderer schnitt sich den Fuß ab, damit er nicht an einem hochgiftigen Schlangenbiss sterben würde. Alles nicht direkt Herzogs Schuld, aber fraglos die Folge von Arbeitsbedingungen, die heutzutage unmöglich wären.

Vor 20 Jahren war das noch kein Thema, seitdem hat sich viel verändert in der Gesellschaft und in der Filmbranche. Die Toleranz gegenüber megalomanischen Regisseuren ist deutlich zurückgegangen, eine Veränderung, die sich auch in der aktuellen Ausstellung widerspiegelt.

Ein nicht unerheblicher Teil der Ausstellungsfläche wird mit kritischen Fragen zu Herzogs Arbeitsmethoden zugebracht. Unter dem Titel „Neugier auf das Fremde oder (post-)kolonialer Blick?“ wird etwa beleuchtet, wie Herzogs Filme zu betrachten sind, die gern in exotischer Landschaft gedreht wurden, aber dort meist Geschichten von weißen Menschen erzählten. Antworten auf solch komplexe Fragen sind in so einer Überblicksschau nicht möglich, aber dass Fragen wie „Ausnutzung oder sensible Darstellung von Menschen mit Behinderungen?“ überhaupt gestellt werden, ist ehrenwert.

Die Toleranz gegen­über megaloma-

nischen Regisseuren ist zurückgegangen

Dennoch steht in erster ­Linie das Faszinosum Herzog im Mittelpunkt, der atemlose Regisseur, der unermüdlich dreht und arbeitet. Unterschiedlichste Dokumente sind zu sehen, Drehbuchauszüge, abschlägige Briefe von der Filmbewertungsstelle und dem ZDF, die andeuten, welch schweren Stand Herzog auch nach Jahren der Arbeit immer noch hatte. Die Zeiten, dass er bei einem Redakteur anrufen konnte, von einer tollen, aber drängenden Idee berichtete und als Antwort hörte: „Ja, fahren Sie los, aber kommen Sie lebendig wieder. Die Bürokratie ist zu langsam, wir machen den Vertrag später“ – diese Zeiten sind längst vorbei.

Inzwischen ist Herzog eine lebende Legende, auch international. Es war der 2005 erschienene Dokumentarfilm „Grizzly Man“, der Herzogs Karriere in erstaunlichem Maße wiederbelebte. Eine Art Anti-Disney-Film ist diese Geschichte von einem jungen Mann, der sich einbildete, Freund von Grizzlybären zu sein – bis diese ihn fraßen. Seitdem trat Herzog in unzähligen Filmen und Serien auf, dank seiner Stimme unverkennbar, zum Klischee seiner selbst geworden.

Aber warum nicht? Diese Auftritte ermöglichen ihm ein kontinuierliches Weiterarbeiten, was in den letzten 20 Jahren vor allem Dokumentarfilme bedeutet hat. Eine letzter seiner Art ist Werner Herzog, ein Regisseur, der wie nur wenige eine unverwechselbare Marke geworden ist. Nicht schlecht für jemanden, der in der bayerischen Provinz groß wurde.

„Werner Herzog“, Deutsche Kinemathek, bis 27. März 2023, www.deutsche-kinemathek.de

Werner Herzog: „Jeder für sich und Gott gegen alle“. Hanser Verlag, München 2022, 352 Seiten, 28 Euro