David-Bowie-Doku „Moonage Daydream“: Ein Sexgott für alle

Der Dokumentarfilm „Moonage Daydream“ ist ein rasendes psychedelisches Kaleidoskop über David Bowie. Er ist als überdimensionaler Künstler zu erleben.

David Bowie in Grün, Rot und Pink bei einem "Ziggy Stardust"-Auftritt.

David Bowie im grenzenlosen Farbrausch in „Moonage Daydream“ Foto: Universal ­Pictures

David Bowie sprengt jeden Rahmen. Die 300 Quadratmeter Leinwand eines IMAX-Kinos könnte ihm jedoch gerade so passen. Darauf hofft der US-amerikanische Dokumentarregisseur Brett Morgen, der sich – nach seinem Kurt Cobain-Dokumentarfilm „Montage of Heck“ – nun zum zweiten Mal einer Musikikone widmet.

Denn Bowie, der 2016 kurz nach seinem 69. Geburtstag starb, hat ein so außerordentliches wie interdisziplinäres Werk hinterlassen – neben seiner Musik und den Texten spielte er in Filmen und am Broadway, er malte, tanzte, schwelgte in vestimentären Fantasien und experimentierte mit Genderfluidität. Passend dazu ist Morgens Ansatz kein chronologischer, sondern ein intuitiver: Sein 134 Minuten langer, versatiler, fast ausschließlich von Bowie-O-Tönen kommentierter „Moonage Daydream“ arbeitet mit Themen-Clustern.

Er beginnt mit einer Collage zu Bowies Bedeutung als androgyn-erotisches „Object of desire“ – begehrt von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen und allem dazwischen, und auch all diese Bezeichnungen in sich selbst vereinend.

Morgen montiert Songs wie „All the Young Dudes“, „Hallo Spaceboy“ und „Life on Mars“ zu ineinander verschachtelten Soundclouds, lässt Talkshowausschnitte (der Musiker als entspannter Gesprächspartner mit unzähligen Farben am ranken Leib, in glitzernden Plateau-High-Heels und mit bezauberndem, schiefzahnigem Lächeln) auf Nahaufnahmen entrückter Fangesichter treffen und sprenkelt die Riesenleinwand mit abstrakten Farbexplosionen.

„Moonage Daydream“. Regie: Brett Morgen. USA 2022, 134 Min.

Millionen Bild- und Tondokumente

Der Regisseur, der Zugang zu sämtlichem von den Bowie-Erben verwalteten Material hatte und sich fünf ganze Jahre und einen überstandenen Herzinfarkt lang durch die Millionen Bild- und Tondokumente fraß, hat dafür unter anderem die Originalbänder von D. A. Pennebakers 70er-Konzertfilm „Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ neu zusammengesetzt.

Er zeigt Kamerablicke auf Bowies Schritt, lässt nackte Schenkel über Overknees blitzen, knabenhafte Hüften schwingen und verdeutlicht so die orgiastische Qualität und erstaunliche Genderdiversität dieser frühen Phase: Bowie wirkt wie eine spirituelle Ganzheit, ein Sexgott für alle. Der bisexuelle Musiker bescherte einer gesamten Generation ein Coming-out.

Ein weiteres Cluster ist Bowies Kunstwille und seine unbändige Kreativität – Morgen mischt dazu Bilder des frühen und späten Bowie, der besessen malt, schreibt, tanzt und ebenso besessen die Metaebenen seiner Kunst bedenkt: „Künstler sind Erfindungen“, sagt Bowie, sein – der Stimme nach – älteres Ich erzählt vom Ansatz, keine Musik für die Massen machen zu wollen, und von der Überraschung, genau jene Massen damit zu überzeugen. Bowies akzentuierte Worte schildern den Drang, Kunst zu produzieren, der als Junge begann.

Die Vergangenheit des Briten blitzt nur in wenigen Bildern auf, sie deuten auf knapp bemessene Liebe im Elternhaus hin, auf ein problematisches Mutter-Sohn-Verhältnis und eine starke kulturelle Prägung durch einen Halbbruder mit später ausbrechender Schizophrenie – eine fast klassische Kreativ-Biografie, unterschnitten mit Originalaufnahmen anonymer Ar­bei­te­r:in­nen aus dem tristen Nachkriegs-Brixton der 50er.

Ton und Musik komplett neu denken

Bowies Berlin-Aufenthalt ist ebenfalls eines der ineinander driftenden „Kapitel“ gewidmet – hier begann der Künstler nach Eigenaussage, Ton und Musik komplett neu zu denken, bekanntlich mit großem Erfolg, und einigen deutschen Textzeilen im legendären „Heroes“.

Langsam schält sich aus Morgans Cluster-Trip schließlich doch so etwas wie eine dramaturgische Entwicklung heraus, die Bowies psychischen Zuständen folgt: „I want to live“, hört man ihn in seinem langen und verzweifelten Song „Cygnet Committee“ (1969) singen, Ausschnitte aus „Der Mann, der vom Himmel fiel“ zeigen ihn als Alien, Clips aus „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ als Kriegsgefangenen.

Der folgende, grenzwertig ohrenbetäubende Teil des Films thematisiert Bowies Liebe zum Chaos; in einem „Let’s Dance“-Abschnitt ehrt der Regisseur Bowies Tanzkünste. Aufbauend auf frühe Lehren aus seiner Theaterzeit im Pierrot-Look schwingt der blonde, grau- oder rothaarige, aber immer energetische Mann über Bühnen und durch Videos und verdreht den grazilen Körper im Takt.

Auf Bestätigung durch Fans verzichten

Mit der Begegnung Bowies mit dessen zweiter Ehefrau Iman lässt Morgen etwas Ruhe einfallen in den rasenden Mix und zeigt Bowie als jemanden, der angekommen ist, eine Liebe gefunden hat, die ihn hält – und für die er gar bereit ist, das exaltierte, egozentrierte Künstlerleben zurückzufahren und zugunsten der Beziehung zu einem einzigen Menschen auf Bestätigung durch Fans zu verzichten. Sein „Black Star“-Spätwerk ist von Gedanken an Vergänglichkeit und Tod geprägt, dass diese Impulse auch spät im Film auftauchen, verstärkt die Anmutung der Chronologie.

Dass Morgens auf jeder Ebene überdimensionierter Cocktail aus Bowies frühen und späten Phasen sowie aus Bild-, Ton- und eigens kreierten Grafikelementen zusammengerührt wurde und dass immer wieder Zitate aus wichtigen Werken der Kulturgeschichte (Buñuel, Méliès, Keaton, Murnau etc. etc.) diese eklektische Melange begleiten, ist folgerichtig: „Moonage Daydream“ beschreibt einen überdimensionalen Künstler.

Ein konventionelles Biografieformat würde diesem Mann nicht gerecht

Er habe keinen Film über Bowie gemacht, sondern einen, der versuche, dessen Spirit einzufangen, sagte Morgen in einem Interview – durch die Begegnung mit Bowies Kunst lerne man vor allem etwas über sich selbst. Ein konventionelles Biografieformat würde diesem Mann also schlichtweg nicht gerecht. Und für wen sollte das auch gut sein: Die vielen langjährigen Bowie-Fans kennen die Fakten, diejenigen, die das sinnliche Erlebnis als neue Fans gewinnen will, muss man eh auf sinnlicher Ebene ansprechen.

Legitime Heldenverehrung oder Vermessenheit?

Dennoch bleiben am Ende des betörenden IMAX-Rauschs, dessen schrille Soundqualität gegenüber der Bildqualität stark abfällt, ein paar Zweifel: Ist es künstlerische Freiheit, ist es legitime Heldenverehrung oder streift es schon Vermessenheit, wenn man Bowies in unterschiedlichen Lebensphasen und aus unterschiedlichen Motivationen entstandene Kunst nach eigenem Kunstverständnis neu zusammensetzt – und dabei unverhohlen von der ursprünglichen, originären Kraft der Werke profitiert?

Ist es sinnvoll, jegliche Kritik an Bowie – postkoloniale Interpretationsmöglichkeiten im Text von „China Girl“, die als roter Faden eingesetzten Bilder Bowies in Safari-Anzug, der durch eine „exotische“ Umgebung streift – auszublenden? Und wie war der Mann überhaupt – deutet der von Morgen durch entsprechende, weitgehend humorfreie O-Töne unterstrichene Hang zur Isolation auf den klassischen „einsamen Künstler“ hin oder ließe sich sein Charisma, seine künstlerische Zielstrebigkeit, gepaart mit der Aussage, nicht einmal die Liebe dürfe ihm in die Quere kommen, auch als Narzissmus lesen?

Hatte, brauchte er tatsächlich keine Freunde? Bowie hat einen Sohn mit seiner ersten Ehefrau Angie und eine Tochter mit Iman, die Existenz seiner Kinder wird im Film nicht erwähnt – vielleicht hatte die Vaterschaft keinerlei Einfluss auf Bowies Kreativität. Aber wie sehr ist das interpretiert?

Auf der anderen Seite: Journalistische Ansprüche an einen herrlich freien, unverschämt überbordenden und offen affirmativen Film zu stellen, ist angesichts der Masse an Eindrücken vielleicht etwas kleinkariert. Und kleinkariert – das war ­David Bowie nun wirklich nicht.

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