Nach der Befreiung ukrainischer Gebiete: Verbrechern auf der Spur

Balaklija wurde vor wenigen Tagen von der ukrainischen Armee zurückerkämpft. Im Keller einer Druckerei gibt es nun Hinweise auf ein Foltergefängnis.

Soldaten und Menschen und zwei Leute in Warnweste vor einer ausgehobenen Grube, daneben ein Kreuz aus Holzlatten

Exhumierung eines Körpers in Balaklija am 13. September 2022 Foto: Gleb Garanich/reuters

BALAKLIJA taz | Ich weiß nicht, wie man so etwas nennt. Folterkammer wohl“, sagt Switlana, die in einer Druckerei in Balalklija arbeitet. Sie steigt in einen dunklen Keller hinunter, der sich unter dem Gebäude ihrer Firma im Stadtzentrum befindet.

Die Frau erzählt, dass hier früher die Arbeiter der Druckerei gefeiert haben: Jubiläen, Betriebsfeiern. Mit Beginn der Besatzung wurde hier dann die sogenannte Kriegskommandantur Balaklija eingerichtet. Die Russen brachten Anwohner der Stadt in den Keller, die sie entweder für verdächtig hielten oder die in irgendeiner Weise mit der militärischen ATO in Verbindung gebracht wurden: der Anti-Terror-Operation im Donbass, bestehend aus Angehörigen der ukrainischen Armee, die gegen die prorussischen Separatisten eingesetzt wurden.

Weitere solche Gefangene waren in dem direkt gegenüber liegenden Polizeigebäude. Wurde hier im Keller gefoltert? Der britische Sender BBC zitiert einen Bewohner von Balakliia namens Artjom, der mehr als 40 Tage in russischer Gefangenschaft verbracht hat und behauptet, mit Strom gefoltert worden zu sein. Balaklija wurde in den ersten Septembertagen befreit. Die Spezialisten suchen und entschärfen Munition, durchkämmen das Gelände und entwaffnen das Militär.

Es gab Kollaborateure

Im dunklen Kellersaal unter der Druckerei haben die Russen mit leeren Munitionskisten Trennwände gebaut. Die so entstandenen Räume dienten als Zellen für die inhaftierten Ukrainer. Offenbar wurden die Menschen nicht auf die Toiletten gelassen, denn überall stehen noch Eimer, in denen die Gefangenen ihre Notdurft hatten verrichten können. Es stinkt nach Urin. In den Räumen gibt es noch Bänke, außerdem ein paar zurückgelassene, persönliche Dinge sowie Behältnisse. An den Wänden sieht man antiukrainische Propaganda und Plakate mit verzerrten Fakten über die ukrainische Geschichte.

„Ein Kollege von uns war hier inhaftiert. Sie haben ihn auf einem Platz mitgenommen, als er gerade auf sein Telefon schaute. Sie meinten, er sei vermutlich ein Aufklärer. Dann saß er hier drei Tage im Keller, am ersten Tag mit Handschellen“, erzählt Switlana.

Auf dem Platz vor der Stadtverwaltung werden Hilfsgüter an die Bevölkerung verteilt. Hier treffen wir Natalja Sasadtschenko, Direktorin des Gymnasiums aus Borshchewka, einem Ort nahe der Stadt. Die Frau weint vor Freude über die Befreiung. Sie sei durch den Garten gerannt, um die ersten Einheiten der ukrainischen Verteidigungsstreitkräfte zu begrüßen. Sie spricht ausschließlich ukrainisch mit den Journalisten.

Die Direktorin bestätigt, dass es in Balaklija auch Kollaborateure gab. Die meisten Einwohner der Stadt hätten aber versucht, den Kontakt mit den russischen Eroberern zu meiden. „Der Krieg hat gezeigt, wer wo steht“, sagt sie. Sasadtschenko widerlegt auch die in den Medien verbreitete Darstellung, dass russische Lehrkräfte in der Stadt waren. „Hier gab es keine russischen Lehrer. Sie haben es nicht mehr geschafft herzukommen, hatten aber angeboten, hier mitzuarbeiten. Aber nein! Welche Art von Zusammenarbeit soll das sein?!“, fragt sie. „Eine russische Traumatologin war hier, aber keine Lehrer. Sie haben allerdings angeboten, uns zu Kursen zu schicken, in russische Städte wie Kursk oder Belgorod. Dann wollten sie ukrainische Literatur beschlagnahmen“, erzählt sie über die sechs Besatzungsmonate.

Die verschwundene Tochter

Sasadtschenko weiß, dass es auch unter der Zivilbevölkerung Opfer der russischen Invasion gab. „Mein Nachbar zum Beispiel. Er ist gleich zu Beginn der Besetzung verschwunden. Bis heute hat seine Mutter ihn nicht finden können, obwohl sie überall nachgefragt hat“, sagt die Schulleiterin.

Sie ist immer noch empört darüber, dass die russischen Besatzer sogar ihre Familien nachholen wollten. „Sie waren überzeugt, dass sie hier für immer bleiben werden. Einer von ihnen kam von der Wolga, er sagte: Ach, bei Ihnen gefällt es mir so gut, nach dem Sieg komme ich mit meiner Familie zurück. Hier ist es so schön. Bei uns gibt es nur Steppe und hier sind Wälder, Flüsse – hier will ich mit meiner Familie bleiben.“

Im Keller hatten Russen mit Munitionskisten Trennwände gebaut: Zellen für inhaftierte Ukrainer

Eine Gruppe von Frauen nähert sich unserer Journalistengruppe. Unter ihnen ist auch die örtliche Biologielehrerin Alla Sintschenko, Mutter der 11-jährigen Sofia, die sie seit Wochen nicht gesehen hat. Die Frau spricht mit Nachdruck russisch und beantwortet so sogar Fragen, die auf Ukrainisch gestellt werden. Sie erzählt, dass man im August den Kindern eine Reise ins „Sommerlager Bärchen“, in dem Ferienort Kabardinka am Schwarzen Meer, in Russland angeboten habe. 25 Kinder aus Balaklija seien dorthin gefahren.

Sintschenko sagt es nicht direkt, aber es scheint, als habe sie mit den russischen Besatzern zusammengearbeitet, als Pädagogin. „Sie sagen, wir seien Dummköpfe. Ja, wir sind wirklich Dummköpfe“, sagt sie weinend und bittet darum, ihr zu helfen, ihr Kind zurückzubekommen, das seitdem in Russland sei.

Den Tätern auf der Spur

An diesem Tag findet auch die Exhumierung der Leichen zweier Zivilisten aus Balaklija statt, die die Besatzer eine Woche zuvor an einer Straßensperre erschossen hatten. Wegen der Kriegslage hatte man sie nur auf einem kleinen unbebauten Privatgrundstück begraben können.

Der Leiter der Gebietsverwaltung der staatlichen Strafvollzugsbehörde (DBR) in Poltawa, Denis Mankowskij, erklärt in einer Nachricht an die Journalisten in Balaklija, dass in dem Gebiet viele Kriegsverbrechen begangen wurden, die man nun dokumentieren wolle. Drei Polizisten aus Balaklija im Gebiet Charkiw, die mit den Russen kollaboriert hatten, habe die DBR schon festgenommen, so Mankowskij. Einer war Leiter der Besatzungspolizei von Balaklija, die anderen beiden Mitarbeiter der sogenannten „Volksmiliz“. Sie werden des Hochverrats angeklagt. Darauf steht eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren.

Weiteren Tätern ist man auf der Spur. „Das Hauptproblem besteht darin, dass bereits alle aus Balaklija geflohen sind. Sie haben versucht, in die Russische Föderation zu gelangen, aber sie wurden von den Russen nicht über die Grenze gelassen. Nach dem, was wir jetzt wissen, sind sie in der Nähe von Kupjansk“, sagt Mankowskij. Kupjansk liegt etwa 75 Kilometer nordöstlich von Balaklija. „Ihr genauer Aufenthaltsort wird derzeit ermittelt, aber wegen der Kampfhandlungen ist es aktuell schwierig, sie zu finden und festzunehmen.“

Außerdem, so Mankowskij, habe man in Balaklija eins der geheimen Gefängnisse der Besatzer entdeckt. „Wir waren schon in einem dieser Gefängnisse. Aktuell wird dokumentiert, was dort gefunden wurde.“

Die Druckerei-Angestellte Switlana erzählt, dass die russischen Besatzer Balaklija am späten Abend in großer Eile verlassen hätten. „Als sie weg waren, war in diesem Keller niemand mehr. Aus dem Polizeigebäude gegenüber haben unsere Leute die Gefangenen befreit, sie haben dafür die Tür eingeschlagen. Es sollen dreißig Männer und Frauen gewesen sein“, sagt sie. Switlana ist froh, dass über der Stadt wieder die ukrainische Flagge weht. Das war in den letzten sechs Monaten verboten.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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