Dokumentarfilm über KZ-Todesmärsche: Wälder, die zu Mordstätten wurden

Die neue Doku von Martin Gressmann heißt „Nicht verrecken“. Dort lässt er Überlebende der brutalen KZ-Todesmärsche zu Wort kommen.

Bäume und eine KZ-Barracke mit Zaun

Bäume und Gebüsch an einem ehemaligen Konzentrationslager Foto: Edition Salzgeber

Eine improvisierte Tribüne an der Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald in Brandenburg 2015. Eine Trompete spielt das Lied der Moorsoldaten. Der KZ-Überlebende Zwi Steinitz beendet seine Rede vor Hunderten von Schick­sals­ge­nos­s:In­nen bewegt mit dem Verweis auf die Heldenrolle der damaligen Eltern, die wussten, dass sie ihre Kinder nicht vor dem Kommenden schützen konnten.

Bei der Feier anwesend sind auch der Filmemacher Martin Gressmann mit Kameramann Volker Gläser und dessen russisch sprechender Ehefrau Elena Shatkovskaia. Er interessiert sich für die Geschichte der Todesmärsche und will mit einigen der Überlebenden sprechen. Zwölf von ihnen wurden Teil dieses Films.

„Ich kann das nicht erzählen. Es war die Hölle. Ein Mensch, der dort nicht war, kann es sich nicht vorstellen“, sagt Simcha Applebaum, der in zwei Monaten im Lager Auschwitz-Birkenau Vater, Onkel und zwei Cousins verloren hat.

Deportation, Flucht, erneute Gefangenschaft

Dann erzählt er doch – von Deportation, Flucht und erneuter Gefangenschaft. Der fünfzehnjährige Schüler Karol Gydanietz wurde verhaftet, als er für seine Mutter zum Bäcker ging. Und Marcel Souillerot aus der französischen Résistance landete nach seiner Festnahme 1941 und mehreren Stationen in anderen Lagern zur Zwangsarbeit im KZ Sachsenhausen.

„Nicht verRecken“. Regie: Martin Gressmann. Deutschland 2021, 110 Min.

Zunächst irritiert es, wenn der Film nach etwa zehn Minuten von diesen Berichten der Festnahmen Anfang der 1940er mit einem eingesprochenen Kommentar zur Person von Heinrich Himmler und dem Ende des Krieges springt, als ab Frühjahr 1945 auch die Lager Ravensbrück und Sachsenhausen im Norden Deutschlands vor der nahenden Front aufgelöst wurden und die SS-Wachmannschaften über 30.000 Häftlinge auf sogenannten Todesmärschen nach Norden trieben.

Auch die scheinbar allwissende männliche Kommentarstimme und die fragmentarischen Zeitzeugen-Statements kontrastieren filmisch stark. Doch zeit-räumlich nähern sich beide Erzählstränge bald an. Während auch die Häftlinge aus den Lagern im Osten im „inneren Reich“ ankommen und durch die Wälder von Brandenburg und Mecklenburg getrieben werden, reist der zunehmend mächtige Reichsführer-SS, Innenminister und Heeres-Befehlshaber mit seinem Tross in Eisenbahn und Automobilkonvois hektisch durch die gleiche Region zwischen den Fronten, um seine eigenmächtigen Verhandlungen mit Vertretern der Westalliierten aufzunehmen. Dabei werden auch die mobilisierten Gefangenen zur Verhandlungsmasse.

Produktive Reibungen

Produktive Reibungen er­geben sich aus der Vermittlung zwischen dieser aukto­rialen historischen Erzählung, den Zeitzeugenberichten (darunter auch AnwohnerInnen, die das Geschehen als Kinder vom Fenster sahen) und der visuellen Ebene: Die von Volker Gläser und Sabine Herpich geführte Kamera tastet neben der gebotenen Aufmerksamkeit für die Erzählenden in ruhigen Einstellungen die heutigen Landschaften ab, in denen diese Menschen und ihre Geschichte Spuren hinterlassen haben.

Wälder, die Stätten von Mord und Hungertod waren. Industriebrachen, wo die Kriegsindustrie durch Zwangsarbeit Extraprofite machte. Besuchergruppen in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Dörfer ohne sichtbare Menschen.

Die Überlebenden sprechen auch vom Moment der Befreiung, wo nicht Glück dominierte, sondern Trauer über die in den letzten Stunden noch gestorbenen Kameraden. Einigen wurde in ihrer Heimat Komplizität mit den Unterdrückern vorgeworfen. Heute sind viele von ihnen schon nicht mehr am Leben. Umso wichtiger, ihnen diese letzte Gelegenheit zum Sprechen gegeben zu haben. Nur das Sprachspiel im Filmtitel habe ich bis heute nicht verstanden.

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