Bald wohnen die Insekten hier

„Bühnenbeschimpfung“ von Sivan Ben Yishai im Gorki wirft einen kritischen Blick auf die Institution Theater

Es gibt auch Momente, die den Raum des Theaters überschreiten

Von Katrin Bettina Müller

Tatsächlich hat man am Ende des Stücks fast vergessen, dass es mit Applaus begann, langanhaltenden Ovationen, vom Band gespielt, während die Darstellerinnen sich divenhaft verbeugten und das reale Publikum im Gorki Theater bald mit den Händen einstimmte. Obwohl man noch gar nichts gesehen hatte. Am Ende aber, nach zwei prallen Theaterstunden, fehlte die Zäsur für den Applaus. Die Schau­spie­le­r:in­nen verließen einzeln die Bühne durch den Zuschauerraum, sprachen Freunde an. Das irritierte, viele wollten den Saal nicht ohne das Schlussritual verlassen. Und so konnte man an diesem Moment erkennen, wie auch die Rolle des Zuschauers an einem Script im Kopf hängt.

Was ist alles scripted, was folgt Erwartungen, was sind die Verabredungen im Theater? Das erkundet der Text „Bühnenbeschimpfung“ von Sivan Ben Yishai, von Sebastian Nübling virtuos inszeniert. Er führt die Erwartung vor, dass die oben auf der Bühne doch sicher engagierte Künst­le­r:in­nen seien, glühend für dieses Projekt, gerade im Gorki, einverstanden mit dem Text. Ach wirklich? Und sie halten das Mosern hinter der Bühne dagegen, das Flüstern unter sich. Sind nicht kurz vor der Premiere zwei Darsteller abgesprungen? Jetzt weiß man nicht mehr, was zum Stück gehört und was nicht.

Es gibt großartige und lustige Momente in dieser Schauspieler-Selbstbespiegelung. Wenn die Berliner Künstlerin Aysima Ergün ohne Text und ohne Regieanweisung die verhasste Abhängigkeit von Text und Regie vorführt, rasend mit Nichts, bettelnd um Stoff. Oder wenn Mehmet Yilmaz, Schauspieler schwäbischer Herkunft, die Leiden als freier Künstler herausbrüllt, wartend auf das Telefonklingeln, wütend auf die Rollen, die er mit fremdem Akzent sprechen soll, verzweifelt Angebote im Dinner Theater und im Legopark annehmend. Und seufzend schließt, dass er jetzt keine Stimme mehr habe, um zu Hause mit seinen Kindern zu reden, weil der Regisseur diese blöde Idee hatte, ihn den ganzen Monolog brüllen zu lassen.

Es geht bei diesem kritischen Blick auf Schauspielerleben und die Institution Theater auch um strukturelle Macht und die Möglichkeit ihres Missbrauchs. Allerdings ist dieser Teil im Text und in der Inszenierung nicht der überzeugendste. Es gibt auch Momente in dem Stück, die den Raum des Theaters überschreiten, den politischen Handlungsspielraum des Einzelnen ausleuchten und sein Festhalten an einem Script, dessen unbekanntem Autoren so die Verantwortung zugeschoben wird. Ja wenn man nur könnte, aber wieso kann man denn nicht? Das ist eine interessante Denkfigur, deren Spur sich aber wieder verliert in den Theatergeschichten.

Während der erste Teil eine starke Spannung aufbaut, fängt der rote Faden im zweiten Teil an zu schlingern. In einer Interaktion mit dem Publikum werden einzelne nun in Bekenntnisse verwickelt, auf das Ende des Abends zu warten und nach Hause zu wollen, abgelesen vom projizierten Text.

Aber es folgt noch ein rätselhafter dritter Teil, eine Art Endzeitfantasie. Ein langer Prosatext kommt aus dem Off, ­während auf der Bühne fortwährend umgeräumt wird, eine Auflösung aller fester Formen. Es spricht ein Haus, womöglich ein Theater, dem Verfall überlassen: „Ich war kurz davor, alle Farben zu verlieren, die ich je in mir gehabt hatte, als das Moos begann, meine Innenräume und Säle zu überwuchern. Es wuchs über die glatten Wände und überzog sie mit grün glänzendem Samt. (…) es verbarg Kolonien von Insekten aller Arten, die (…) sich in ihm paarten und Eier legten, den Raum mit ihren rhythmischen Bewegungen füllten“. Hier beginnt eine Dystopie, die nach der Kunst auch den Menschen überflüssig macht. Ein rauschhafter Text, der aber zum Hintergrundgeräusch wird, während die Darsteller die Bühne verlassen.

„Bühnenbeschimpfung“: Gorki, 25. Dezember, 6. + 19. Januar