Roth über politische Herausforderungen: „Ich habe die Alarmglocke geläutet“

Staatsministerin Claudia Roth kritisiert die documenta15 und Russlands Krieg gegen die Ukraine. Außerdem wirbt sie für den Kulturpass für 18-Jährige.

Kulturstaatssekretärin Claudia Roth posiert für ein Portrait in ihrem Büro im Bundeskanzleramt.

Dem russischen Propagandakrieg mit unserer Kultur von Meinungsfreiheit und Vielfalt entgegentreten Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

taz: Frau Roth, während wir hier sprechen, wird die Ukraine weiter von Russland bombardiert. Sie waren als Regierungsmitglied im Sommer in der Ukraine. Was können Sie als Staatsministerin für Kultur und Medien in einer solchen Situation bewegen?

Claudia Roth: Dieser Krieg fordert auch die Kulturpolitik. Mit dem 24. Februar, dem Beginn des russischen Angriffskriegs wurden Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Die Ukrai­ne hat Tausende Tote zu beklagen. Es ist aber auch ein Propagandakrieg, mit russischer Desinformation und falschen Nachrichten. Dem treten wir mit unserer Kultur von Meinungsfreiheit, Vielfalt und Staatsferne bei den Medien entgegen.

Gelingt das?

Ich denke schon. Wobei Internet und Social Media schon ein speziell umkämpfter Schauplatz sind. Wir helfen jetzt ukrainischen Journalisten und Kulturschaffenden beim Aufbau einer Struktur im Exil. Ebenso weißrussischen und russischen Medienmachern, damit diese weiter unabhängig und frei arbeiten können. Es ist wichtig, dass wahrhaftige und glaubwürdige Informationen in den russischsprachigen Raum gesendet werden.

Wie stark sind die Kultureinrichtungen in der Ukraine von dem Krieg betroffen?

wurde 1955 in Ulm geboren. War Theaterdramaturgin und Managerin der Band Ton Steine Scherben. 1985-89 Presse­sprecherin der Grünen im Bundestag. Danach wechselnde Spitzenämter in Partei und Parlament. Seit Dezember 2021 ist sie Staatsministerin für Kultur und Medien. Ist direkt dem Bundeskanzleramt zugeordnet.

Die russische Kriegsführung richtet sich systematisch auch gegen die ukrainische Kultur. Mein ukrainischer Amtskollege Oleksandr Tkachenko sagt, dass russische Truppen bis Anfang Dezember über 1.000 Kultureinrichtungen in der Ukraine angegriffen haben. Sie zerstören auch gezielt Museen, Theater oder Bibliotheken. Alles was mit der kulturellen Identität der Ukraine zu tun hat.

Wie stellte sich dies bei Ihrem Besuch im Sommer in Odessa dar?

Ich werde nie vergessen, wie die Bi­blio­theks­leiterin mit Tränen in den Augen sagte: Wir haben hier 5 Millionen Bücher. Wenn es die nicht mehr gibt, unsere Archive zerstört sind, dann verlieren wir unser Gedächtnis.

Was kann man mit zivilen Mitteln da derzeit bewirken?

Wir versuchen, so gut es geht, beim Schutz von Kulturgütern zu helfen. Dächer und Fenster sind kaputt. Es regnet und schneit rein. Mit unserer Unterstützung konnte Verpackungsmaterial, Feuerschutzausrüstung, Notstromgeneratoren oder Dokumenta­tions­tech­nik geschickt werden. Wir helfen bei Evakuierungen von Beständen aus den am schwersten umkämpften Gebieten in andere Landesteile. Museen von uns haben Kooperationen mit ukrai­nischen vereinbart, auch um die Bestände zu digitalisieren. In Cherson wurden Tausende Kulturgegenstände, Bilder, Skulpturen gestohlen.

Während der Okkupation?

Als die russischen Kräfte wieder weg waren, merkte man: Die Museen sind leer. Wenn man die Sammlungen digitalisiert, kann man später wieder die Spur der Objekte aufnehmen. Etwa wenn Raubgut auf dem Schwarzmarkt auftaucht. Derzeit geht es um Digitalisierung, später um Hilfe beim Wiederaufbau. Im Moment steht die Winterhilfe im Vordergrund, etwa mit Generatoren. Bilaterale Städtepartnerschaften sind dafür sehr bedeutsam. Es wurde ein Netzwerk von 109 Partnerschaften zwischen ukrainischen und deutschen Städten geknüpft. Düsseldorf hat zum Beispiel eine Partnerschaft mit Czernowitz übernommen. Rose Ausländer ist in Czernowitz geboren und in Düsseldorf gestorben.

Von ukrainischer Seite wird sich dafür bedankt. Aber was ist mit Waffen?

Also diese Frage richten Sie an eine grüne Politikerin, die für Kultur zuständig ist. Die an den großen Friedensdemonstrationen der Vergangenheit mit großer Überzeugung teilgenommen hat. Die sich für eine restriktive Rüstungsexportpolitik stark machte. Und die davon überzeugt war, dass es keine deutschen Rüstungsexporte in Krisengebiete geben darf.

Und jetzt?

Natürlich zerreißt es einen fast bei der Frage: Was ist jetzt richtig? Aber: Die Ukraine hat das Recht zur Selbstverteidigung. Sie ist ein souveräner, demokratisch selbstbestimmter Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wurde. Von daher ist es richtig, die Ukraine so gut, wie es geht, mit Rüstungsgütern auszustatten.

Macht die Regierung es denn nun „so gut, wie es geht“?

Ich bin keine Militärexpertin. Man hört erstaunlich viele, die sich in Panzertechnik auf einmal sehr gut auskennen. Doch vieles klingt einfacher, als es in Wirklichkeit ist. Ob Flugabwehr oder Haubitzen: Ja, ich glaube, die Regierung handelt verantwortungsbewusst und tut, was sie kann. Niemand war auf diesen Krieg vorbereitet. Alle tun jetzt, was sie können. Ich in der Kultur. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat sich von Anfang an dafür eingesetzt, dass die Ukraine möglichst viel von ihrer Getreideernte weiter exportieren kann. Klingt unspektakulär, ist aber ebenso enorm wichtig.

Neben dem Krieg haben wir auch mit den Nachwirkungen der Coronapandemie zu kämpfen. Gegen die Digitaldepression der Jugend haben Sie gerade einen Kulturpass für 18-Jährige angekündigt. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?

Krieg, Klima, Energie, Corona – die Welt ist im Dauerkrisenmodus. Wir stellen in öffentlichen Kulturbereichen eine gewisse Zurückhaltung der Zuschauer fest. Die Kinos leiden massiv. Auch viele Konzertveranstalter. Museen, Theater, bis hin zu den Philharmonien.

Das können Sie mit dem Kulturpass jetzt ändern?

Gemeinsam mit Christian Lindner wollen wir einen wichtigen Impuls setzen zugunsten der jungen Generation. Es geht um Zugang zu Kultur und um Eigenverantwortung. Alle, die nächstes Jahr 18 werden und Interesse haben, erhalten 200 Euro für Kulturausgaben. Die jungen Leute haben psychisch mit am meisten unter der Pandemie gelitten. Wir wollen sie ermutigen, ein Konzert, Museum oder Theater zu besuchen. Sich außerhalb der digitalen Welt zu verabreden, in die Buchhandlung zu gehen. Und wir wollen unsere kulturelle Infrastruktur damit unterstützen. Die Franzosen haben vorgemacht, dass es funktionieren kann. Dort sind etwa 60 Prozent der jungen Erwachsenen auf das Angebot eingegangen.

Reicht denn das Budget für „alle“ 18-Jährigen?

Das mit dem Finanzminister verabredete Budget reicht für etwa 60 Prozent der 750.000 jungen Menschen, die nächstes Jahr 18 werden. Sollten sich mehr dafür interessieren, werden wir ganz sicher eine Lösung finden. Es soll eine Art Interrailticket für unsere so reiche Kulturlandschaft sein: Reinfahren und entdecken. Bis Anfang nächsten Jahres werden wir die technischen Voraussetzungen schaffen, damit sich Handel und Veranstalter dafür registrieren können. Dann kann ein junger Mensch zum Beispiel schauen, welche Buchhandlung in seiner Nähe mitmacht, sich dort ein Buch bestellen und abholen. Oder sich eine Karte für das Programmkino reservieren. Oder für die Oper. Der Kulturpass soll die Brücke sein, um das kulturelle Leben vor Ort zu erkunden.

Für ihre Vorgängerin im Amt spielten ökologische Fragestellungen eine untergeordnete Rolle. Was machen Sie mit aus energiepolitischer Hinsicht wenig nachhaltigen Entwürfen wie beim Neubau des Museums der Moderne am Berliner Kulturforum?

Beim Museum der Moderne muss es ökologisch sinnvolle Nachbesserungen geben. Aber auch soziale, damit es sich zur Stadt öffnet und nicht so ein elitärer Tempel wird. Ich habe das Amt vor einem Jahr übernommen. Inzwischen haben wir ein Referat für Kultur und Nachhaltigkeit eingerichtet, die Anlaufstelle „Green Culture“. Hier bündeln wir, was technisch möglich ist und was andere schon beispielhaft vormachen. Wie die Ärzte und die Toten Hosen bei ihren großen, gezielt ökologisch ausgerichteten Konzerten im Sommer.

Nachhaltig Bier trinken?

Lachen Sie nur. Das Stichwort ist „Crad­le-­to-Cradle“. Energie einsparen und Müll vermeiden, wo es geht. Wenn es bei solch populären Großereignissen auch viel vegetarisches Essen gibt, die Leute mit dem Nahverkehr anreisen und fair hergestellte Waren konsumieren, dann wirkt das nach. Wir versuchen auf die Branchen einzuwirken, Anreize zu schaffen. Auch in Zusammenarbeit mit großen Festivals wie der Berlinale. Bei Förderungskriterien etwa für Filmproduktionen setzen wir auf das „Green Shooting“. Kurz gesagt: Her mit den LED-Lampen, weg mit den Kurzstreckenflügen.

Ein weiteres großes Thema war dieses Jahr die documenta15 in Kassel. Die Kuratoren pochten auf Kunstfreiheit und gaben mit öffentlichen Geldern auch Antisemiten und Israelhassern dort Ausstellungsfläche. Sie haben dies kritisiert. Aber auch eigene Fehler im Vorfeld eingeräumt. Welche waren das?

Zunächst einmal: Zu meinen Aufgaben gehört es, die Freiheit der Kunst zu verteidigen. Aber die Kunstfreiheit hat dort eine Grenze, wo sie gegen Menschenrecht und -würde verstößt. Das formuliert Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus oder Antiziganismus ist nicht von der Kunstfreiheit gedeckt. Auf der documenta in Kassel wurde eine Grenze überschritten. Wie es dazu kommen konnte, das untersucht derzeit auch noch ein Expertengremium. Das macht also jetzt, was ich bereits im Januar geraten hatte. Das ist zu spät, aber nun gilt es, Strukturen und klare Verantwortungen zu definieren, die es in der Zukunft besser machen.

Es gibt einige, die meinen, warum ist Frau Roth denn selbst nicht vorher energischer eingeschritten?

Als die ersten Kritiken bezüglich Antisemitismus im Januar 2022 erschienen, habe ich sofort mit den Verantwortlichen in Kassel Kontakt aufgenommen. Ich habe ihnen geraten, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und ein internationales Beratergremium einzuberufen. Ich habe es für richtig gehalten, auf die Verantwortlichen einzuwirken und auf eine Lösung hinzuwirken. Dem wurde allerdings bekanntlich nicht gefolgt. Ich war persönlich im Frühjahr vor Ort, um die Geschäftsführung und die Kuratoren, aber auch den Aufsichtsratsvorsitzenden zu sensibilisieren. Die Kuratoren von Ruangrupa und Frau Schormann als Geschäftsführerin der documenta15 versicherten mir, auch bei diesem persönlichen Treffen, dass es keinerlei Antisemitismus bei der Schau im Sommer geben würde.

Sie vertrauten also Kulturmanagern, die wie sich zeigen sollte, zur einseitigen Is­rael­kritik einluden und offen antisemitische Bildsprachen nicht erkennen konnten?

Ich habe die Alarmglocke bei ihnen geläutet. Vielleicht nicht heftig genug, nicht öffentlich genug. Kritik auch an der israelischen Regierung muss möglich sein und ist durch die Meinungsfreiheit in unserem Land natürlich gedeckt. Diese Meinung kann jemandem wie mir nicht gefallen. Aber sie darf geäußert werden, solange sie nicht die Grenze zum Antisemitismus überschreitet. Dafür sind die drei D – Dämonisieren, Delegitimieren oder doppelte Standards anlegen – ein wichtiges Kriterienset. Gerade eine Finanzierung mit öffentlichen Mitteln bringt eine besondere Verantwortung mit sich.

Aber was war dann der Fehler in Kassel?

Einer der Hauptfehler war, dass niemand greifbar und verantwortlich war. Es herrschte eine kollektive Verantwortungslosigkeit. Das ist ein strukturelles Problem gewesen. Aber was auch nicht geht, ist, eine Gruppe, weil sie aus einem islamischen Land kommt, generell gleich unter Verdacht zu stellen, was im Vorfeld der documenta teilweise zu beobachten war.

Aber vielleicht sollte man schon vorab wissen, was für Positionen Kuratoren und Künstler einnehmen, die aus einem Herkunftsstaat kommen, der Israel nicht anerkennt?

Ja, die jeweiligen Kontexte sollte man mitdenken, aber ohne Vorverurteilungen. Nicht jeder Künstler, der aus einem Land kommt, das Israel nicht anerkennt, ist deswegen gleich des Antisemitismus verdächtig. Ich habe in Kassel immer ganz klar gesagt, dass wir Antisemitismus nicht akzeptieren. Nicht in Deutschland, nicht in Indonesien und nicht anderswo. Und dass wir nicht vergessen: Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung. Auschwitz aber ist es, und daraus rührt auch eine besondere Verantwortung unseres Landes, die für alle hier gilt. Es gibt klare Grenzen, und die müssen auch benannt werden.

Grenzen, das denkt offenbar auch Iran. Frau Roth, Sie wurden gerade als Einzige aus der Regierung auf eine Sanktionsliste des Mullah-Regimes gesetzt. Was sagen Sie dazu?

Ich bin mit den Frauen und der Freiheitsbewegung in Iran solidarisch, und das nicht erst seit den Protesten von September. Das ist offenbar auch dem Regime aufgefallen. Und deswegen bin ich jetzt auf dieser „Sanktionsliste“ gelandet. Ich werde meine Solidarität mit den Menschen in Iran dennoch weiter sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Die Menschen dort werden eingesperrt, gefoltert und sogar erhängt dafür, dass sie für Selbstbestimmung und Freiheit auf die Straße gehen. Sie kämpfen trotzdem weiter. Derzeit setze ich mich dafür ein, dass auf der Berlinale im Februar der iranische Film und die Freiheitsbewegung eine deutlich sichtbare Rolle spielen werden.

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