50 Jahre Film „The Wicker Man“: Der Vorzug von Äpfeln

Vor einem halben Jahrhundert kam „The Wicker Man“ ins Kino. Die Geschichte über eine pagane Parallelgesellschaft sollte sich als hellsichtig erweisen.

Filmszene aus dem Film "The Wicker Man": Inselbewohner stehen bei Sonnenuntergang vor dem brennenden Weidenkorbmann.

Heidnisches Opfer: der brennende Weidenkorbmann in „The Wicker Man“ Foto: Studiocanal

Eigentlich hätte der Film ein Desaster werden müssen. Die Anekdoten rund um seine Entstehung klingen fast so kurios wie die Geschichte, die er erzählt. Als der britische Regisseur Robin Hardy im Herbst 1972 an der schottischen Küste „The Wicker Man“ drehen ließ, ging, gelinde gesagt, jede Menge schief.

Um den Eindruck zu erwecken, das Geschehen trage sich im Mai zu, mussten zahlreiche Apfelbäume von Hand mit künstlichen weißen Blüten ausgestattet werden. Die Schauspieler sollen in den Pausen auf Eiswürfeln gelutscht haben, damit ihr Atem vor der Kamera nicht in der kalten Luft kondensierte. Von Handgreiflichkeiten am Set ist ebenfalls die Rede.

Für den Schauspieler Christopher Lee war sein Part nach eigenem Bekunden gleichwohl die beste Rolle seines Lebens. Lee, vor allem bekannt als Dracula, gab in „The Wicker Man“ den kultivierten Lord Summerisle, der sehr artikuliert und distinguiert über die gleichnamige schottische Insel herrscht. Sein gesamter Habitus ist so übertrieben dandyhaft, dass man heute wohl „camp“ sagen würde. Dazu höchst charmant.

Bevor man den Lord im Film zum ersten Mal sieht, hat zunächst sein Gegenspieler, der Polizist Sergeant Howie, aufrecht-schlicht gespielt von Edward Woodward, seinen Auftritt. Vor allem aber die eigens für den Film zusammengestellte Band Magnet, die das Geschehen mitunter wie ein antiker Chor kommentiert und Stimmungen vorwegnimmt, die im Bild erst später zur Geltung kommen. Ihre Songs lassen das Ganze wie ein Folk-Musical in Gestalt eines lustigen Horrorfilms wirken.

Durch und durch seltsam

„The Wicker Man“ taucht in vielen Bestenlisten auf, bevorzugt als bester Horrorfilm. Man täte diesem auf unwegsame Weise geschaffenen Meisterwerk jedoch keinen Gefallen, ihn als Genrearbeit abzutun. Es ist vielmehr ein durch und durch seltsamer Film, der im Zusammenspiel verschiedener gut kombinierter Elemente eine zeitlose Qualität als Klassiker gewinnt.

Entscheidenden Anteil daran hat die Musik. Man denke sich zu Beginn die Töne einer sacht gezupften Gitarre, zu denen eine freundlich-warme Männerstimme singt: „It was upon a Lammas night / When corn rigs are bonnie / Beneath the moon’s unclouded light / I held awhile to Annie“. Zu Deutsch in etwa: „Es war zur Nacht des Schnitterfests / Die Maisreihen stattlich /Bei unbewölktem Mondeslicht /Hielt ich ein Weilchen Annie“.

Dieser Folksong, dessen Text im 18. Jahrhundert vom schottischen Dichter Robert Burns verfasst wurde, nutzt seine Poesie im weiteren Verlauf für durchaus freizügige Zwecke, die sich vom introspektiven Charakter der Musik abheben.

Im Film erklingt der Song, noch während die Anfangstitel laufen, und setzt damit einen Auftakt für die kommenden Dinge. Der Soundtrack stammt aus der Feder des New Yorker Komponisten Paul Giovanni, der „Corn Rigs“ selbst singt und später sogar auf der Leinwand in Erscheinung tritt. Während der Getreideode sieht man hingegen ein Wasserflugzeug, mit dem Sergeant Howie unterwegs zur Insel Summer­isle ist, vorbei an kargem Küstengebiet, das Knattern der Rotoren mischt sich gelegentlich als Fremdkörper zwischen die friedlichen Klänge der Musik.

Desinteresse der Insulaner

Die Handlung ist übersichtlich. Howie kommt mit dem Auftrag zur Insel, nach einem vermissten Mädchen zu suchen. Ein anonymer Brief hatte ihn von dort erreicht, mit einem Foto der gesuchten Rowan Morrison. Howie beginnt sogleich mit den Ermittlungen, stößt aber auf Desinteresse der Insulaner an seinem Anliegen. Keiner will das Mädchen gekannt haben. Dann, nachdem Howie entdeckt hat, dass sie sehr wohl eine Bewohnerin des entlegenen Orts ist oder gewesen ist, lautet die Auskunft ihm gegenüber, sie sei gestorben.

Während seiner Untersuchungen bemerkt Howie, dass die Gepflogenheiten auf Sum­mer­isle von denen der britischen Mehrheitsgesellschaft abweichen. Im Pub, der nach einer mythischen Figur aus vorchristlicher Zeit Green Man Inn heißt, reißen die Gäste derbe Zoten und drängen Howie die freizügig-blonde, von Britt Ekland gegebene Tochter des Wirts, Willow, förmlich auf.

Nachts treiben es Paare auf dem Rasen vor dem Gasthof wie hippieske Anhänger der freien Liebe, direkt vor den Augen des Ordnungshüters. Und in der Schule lernen die Mädchen, dass der Maibaum ein „Phallussymbol“ sei.

Howie, der ein bisschen langsam, vor allem aber gläubiger Christ ist, begreift, dass die Insel von bekennenden Heiden bewohnt wird. Im Film sind die Hinweise darauf von Anfang an gestreut. So sieht man als erstes Bild den keltischen Gott Nuada, im Film ein „Sonnengott“, kreisförmig gearbeitet als Holzrelief, ein waches, unheimliches, kaum menschliches Gesicht.

Vor der Schule tanzen die Jungen um einen Maibaum, an den sie mit langen, farbigen Bändern gebunden sind, während ihr Lehrer ein beschwingtes Lied über den Zyklus des Lebens als Werden und Vergehen singt. An anderer Stelle tanzen nackte Mädchen in einer an Stonehenge erinnernden Steinruine um ein offenes Feuer, über das sie für ein Fruchtbarkeitsritual eine nach der anderen springen.

Autokratisches Kleinstaatswesen

Diese unverhoffte Begegnung mit einem „kulturell Anderen“ inszeniert Hardy zwischen Komik und Schauder. Waren die Szenen mit dem exzentrischen Lehrplan der Schule noch zum Lachen, kippt die Stimmung spätestens in dem Moment, in dem Howie Verdacht schöpft, dass das Verschwinden von Rowan Morrison mit der ausgebliebenen Ernte vom Vorjahr zu tun haben könnte. Er fürchtet, sie könnte als Opfer dargebracht worden sein.

Aus hiesiger Perspektive muss die Konstellation aus christlichem Repräsentanten des demokratischen Staats einerseits und autokratischem Kleinstaatswesen im Namen der „alten Götter“ andererseits besonders befremdlich anmuten, da Heidentum hierzulande in den meisten Fällen mit rechtsextremen Positionen assoziiert wird. Im Vereinigten Königreich hat der Paganismus eine selbstverständlichere esoterische Tradition, auch wenn diese mühelos mit rechten Ansichten einhergehen kann.

Im Film ist dies eher im Material angelegt als ausformuliert, jedenfalls interessiert sich das Gemeinwesen kaum für demokratische Prinzipien und schreckt auch nicht vor Gewalt zurück. Reflexhaft könnte man eine Parallele zu den deutschen Reichsbürgern ziehen, die wähnen, in einem Staatswesen zu leben, das älter ist als die Bundesrepublik. So wie die Menschen von Summerisle einem Glauben anhängen, zu dem für sie Regeln gehören, die weit in die Vergangenheit zurückreichen, ähnlich dem Schnitterfest aus dem eingangs zitierten Song „Corn Rigs“, einem keltischem Brauch.

Lange Wirkungsgeschichte

Der Film löst dieses Unbehagen für das Publikum nicht auf. Sein Schrecken speist sich aus dem Beharren, das „Andere“ von Summerisle zu zeigen als etwas, das da ist, und das gefährlich wird, wenn man es nicht in Frieden lässt. Wobei dies über lange Zeit lediglich schrullig daherkommt. Wenn Howie etwa Lord Summerisle vorhält, dass auf der Insel nackte Mädchen über Lagerfeuer springen, entgegnet der Lord schlagfertig, es wäre doch viel riskanter, wenn sie das in ihren Kleidern täten.

Die bleibende Faszination von „The Wicker Man“ ist vor allem an den vielen Echos abzulesen, die er im Pop hinterlassen hat. Die Heavy-Metal-Band Iron Maiden schrieb, einigermaßen erwartbar, im Jahr 2000 den Song „The Wicker Man“. Überraschender da schon die Coverversion von „Willow’s Song“, mit der der Pianist Michael Wollny auf seinem jüngsten Album, „Ghosts“, aus der musikalischen Begleitung einer Verführungsszene mit Nackttanzeinlage ein stilles Jazzkleinod gezaubert hat. Unter filmischen Hommagen ist Ari Asters Horrorfilm „Mid­sommar“ von 2019 hervorzuheben.

Das Remake „The Wicker Man“ von 2006 mit Nicolas Cage in der Hauptrolle gilt dagegen als gründlich missraten. Robin Hardy selbst versuchte 2011 mit „The Wicker Tree“ eine Fortsetzung. Unerreicht zu sein, ist wohl ein weiterer Vorzug von „The Wicker Man“. Bloß schade, dass ein Monolog von Lord Sum­mer­isle über Äpfel auf ewig verloren scheint. Die Negative einer längeren Fassung des Films sollen versehentlich ausrangiert und beim Bau des Motorway M3 in den Asphalt eingearbeitet worden sein.

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