Opposition in Belarus: Plötzlich staatenlos

Ein geändertes Gesetz sieht den Entzug der belarussischen Staatsbürgerschaft wegen „Extremismus“ vor. Damit rächt sich das Regime an Kritiker*innen.

Präsident Alexander Lukashenko blickt nach oben

Übt weiter massiven Druck auf die Menschen in seinem Land aus: Präsident Alexander Lukaschenko Foto: Peter Kovalev/imago

BERLIN taz | Zahlreichen regimekritischen Be­la­rus­s*in­nen könnte demnächst der Entzug ihrer Staatsbürgerschaft drohen. Am Donnerstag unterschrieb Staatschef Alexander Lukaschenko ein entsprechend geändertes Gesetz, das im vergangenen September dem Parlament vorgelegt worden war.

Betroffen von der Regelung sind Personen, die offiziell als „Extremist*innen“ geführt werden und bereits wegen folgender Straftaten verurteilt worden sind: Volksverhetzung, Terrorakte, Teilnahme an Aufruhr, Propaganda, Demonstrationen sowie der Herstellung oder Verbreitung von NS-Symbolen. Das neue Gesetz bezieht sich auf alle Belaruss*innen, die die belarussische Staatsbürgerschaft qua Geburt erworben haben – unabhängig davon, ob sie derzeit in Belarus oder im Ausland leben.

Schon jetzt laufen zahlreiche Verfahren gegen Be­la­rus­s*in­nen wegen „Extremismus“, die aus Belarus geflohen sind. Dazu gehören auch Aljaksandra Herassimenja, zweifache Silbermedaillengewinnerin bei den Olympischen Sommerspielen 2012 sowie der Direktor des „belarussischen Sport-Solidaritätsfonds“ Alexander Opejkin.

Am 26. Dezember 2022 waren sie wegen Aktionen gegen die nationale Sicherheit zu zwölf Jahren Straflager verurteilt worden. Beide hatte Lukaschenko mehrmals öffentlich kritisiert und unter anderem die Verhängung von Sanktionen gegen Belarus durch das Internationale Olympische Komitee gefordert.

Zur Fahndung ausgeschrieben

Im Oktober 2020 war bekannt geworden, dass Herassimenja nach Litauen ausgereist war, auch Opejkin hat Belarus verlassen. Im April 2021 waren sie zur Fahndung ausgeschrieben worden, am 29.September wurde ein Sonderverfahren eröffnet.

Laut Pawel Sapelko, Anwalt des belarussischen Menschenrechtszentrums Wjasna (Frühling), sehe die belarussische Verfassung den Entzug der Staatsbürgerschaft nicht vor. Dennoch eröffne das Gesetz Wege, damit die belarussischen Behörden den Pass eines Bürgers für ungültig erklären könnten.

Zudem sei ein entsprechendes Dekret von Lukaschenko vor Gericht nicht mehr anfechtbar. Für die Betroffenen entstünden zahlreiche Probleme. Sie könnten die konsultarischen Dienste ihres Landes nicht mehr in Anspruch nehmen und verlören die Verbindung zu ihren Staat.

Doch es gehe um mehr. „Für die meisten, die an den Protesten nach der Präsidentenwahl 2020 teilgenommen haben, ist Belarus kein leeres Wort. Die belarussische Staatsbürgerschaft ist nicht die Staatsbürgerschaft des Staates, in dem Lukaschenko Präsident ist. Sie ist Zeugnis für die Zugehörigkeit zu einem unabhängigen Staat“, zitiert das russischsprachige Webportal Nastojaschee Wremja den Juristen.

In Belarus stehen ab Montag dem 9. Januar fünf Mitarbeiterinnen des unabhängigen Nachrichtenportals Tut.by vor Gericht. Wie Wjasna mitteilte, wird ihnen unter anderem Steuerhinterziehung und Aufstachelung zum Hass vorgeworfen. Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor einem Gericht in der Hauptstadt Minsk statt. Am Dienstag den 17. Januar steht die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Abwesenheit vor Gericht. Der im Exil lebenden Politikerin werden Hochverrat, Verschwörung zum Sturz der Regierung und Bildung einer extremistischen Organisation vorgeworfenen.

Bis zu 25 Jahren Haft

Zu den Staatenlosen in spe könnte bald auch Andrei Strischak gehören. Er ist Begründer der Stiftung BYSOL, die repressierten Be­la­rus­s*in­nen hilft und er schickt humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine. 2020 hat Strischak Belarus verlassen. Dort sind gegen ihn mehrere Verfahren anhängig, bei Verurteilung drohen ihm bis zu 25 Jahre Haft.

Dass die Minsker Führung jetzt auch noch zum dem Mittel des Entzuges der Staatsbürgerschaft greife, spreche für sich. In Belarus habe es seit 1996 wahrscheinlich keinen solchen massiven Widerstand gegen das Regime gegeben. „Und alle wissen nur zu gut, dass dies ein Zustand des unterdrückten Protests ist. Die Menschen haben sich in ihre „kleine Mongolei“ zurück gezogen. Dort sitzen sie und warten auf den richtigen Moment. Lukaschenko versteht das genau, daher übt er weiterhin Druck auf Menschen in der Emigration und die internen Kräfte aus“, so Strischak gegenüber Nastojaschee Wremja.

Wie viele Be­la­rus­s*in­nen seit den Protesten von 2020 gegen die gefälschte Präsidentenwahl ihr Land verlassen haben, weiß niemand. Einige Schätzungen gehen von hundertausenden Personen aus. Obwohl die Proteste weitgehend verstummt sind, geht der Terror des Regimes gegen die eigene Zivilbevölkerung weiter.

Auch Belaruss*innen, die gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine sind, werden mit drakonischen Strafen belegt. Einigen sogenannten Eisenbahnpartisanen (sie verüben Sabotageakte auf die Infrastruktur, um russischen Truppen die Nachschubwege abzuschneiden) droht sogar die Todesstrafe. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna führt derzeit 1.441 Menschen als politische Gefangene (Stand: 9. Januar 2023).

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