Elendsbilder aus der Hochhaussiedlung: Deutschland braucht Neukölln

Nach den Silvesterkrawallen in Berlin dominieren Getto-Bilder die Berichterstattung. Kaum einer beachtet den Drogenhotspot im Kleingartenidyll.

Eine Frau Sonnt sich am Sockel eines Brunnens

Blick in den Schulenburg Park mit Märchenbrunnen Foto: Jens Gyarmaty

BERLIN taz | Nach Silvester war das Geschrei groß – junge Männer hatten die Polizei und Rettungskräfte in Berlin beschossen, es kam zu größeren Gewaltausbrüchen. In Berlin-Schöneberg gab es bereits zwei Tage vor dem Jahreswechsel eine „Böller-Randale“ (RBB), diese wiederholte sich am Folgetag.

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Und auch in der Umgebung der Neuköllner Sonnenallee kam es wiederholt zu unkontrollierten Feuerwerksexplosionen. An den Abenden vor und auch nach Silvester klirrten oft die Scheiben, wenn giggelnde Jugendliche Knallkörper zündeten, deren Handel in Deutschland eigentlich verboten ist.

Vandalismus wurde allerdings ebenso aus Charlottenburg oder Mitte gemeldet. Die Polizei und die Feuerwehr berichteten, dass sie in der Silvesternacht in ganz Berlin beschossen worden sei, ja teilweise sogar in Hinterhalte gelockt, es wurden mehr als 40 verletzte Polizisten nach Angriffen und 159 Festnahmen gemeldet.

Berlin wählt. Schon wieder. Die vergangene Wahl war ungültig. Niemand wundert sich darüber. Berlin gilt als kaputt. Geht überhaupt was in der Stadt?

Seit dem Jahreswechsel ist die Sonnenallee im Bezirk Neukölln in aller Munde. Für die einen ist sie Ausdruck einer virilen Großstadt, andere haben Angst, wenn sie nur an den vielen arabischen Läden vorbeigehen. Wer die oft arg aufgeregte Debatte um Clans und Paschas verfolgt, muss glauben, an der Sonnenallee entscheide sich das Wohl und Wehe aller Integrationsbemühungen.

Und sonst? Die Straße hat noch mehr Berlin zu bieten. Sie beginnt am Hermannplatz, wo ein gigantisches Kaufhausprojekt geplant wird. Das Gentrifizierungsgespenst geht um. Und sie endet da, wo früher Ostberlin war. Also: Schaut auf diese Straße!

Die taz widmet deeer Sonnenallee ein Dossier zur Berlin-Wahl.

Alle Texte finden Sie hier taz.de/sonnenallee

Doch als die vielen, oft dramatischen Vorfälle aus dieser Nacht gerade erst bekannt wurden, wussten nicht nur jene Fanatiker, die alle schlechten Ereignisse jenen anhängen wollen, die sie rassifizieren, sogleich, wo die Krawalle vor allem stattfanden und wer sie anzettelte.

Schnelle Analysen

Auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte alles sofort analysiert und twitterte am 4. Januar: „Wir müssen gewaltbereiten Integrationsverweigerern in unseren Städten die Grenzen aufzeigen: mit harter Hand und klarer Sprache.“ Zwar schränkte sie danach ein: „Aber ohne rassistische Ressentiments zu schüren. Wer die notwendige Debatte ausnutzt, um auszugrenzen, löst das Problem nicht, sondern verstärkt es.“ Das Wort von den „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“ war da allerdings schon in der Welt.

Woher Faeser wusste, wer vornehmlich gewalttätig war, ist weitgehend ihr Geheimnis geblieben –, denn die Orte, an denen böse geböllert wurde, waren über die Stadt verteilt, die Berliner Innensenatorin Iris Spranger stellte bereits am 2. Januar fest: „Brennpunkte bildeten sich in Schöneberg, Kreuzberg, Mitte, Neukölln und Charlottenburg.“ Und der Tagesspiegel meldete am 11. Januar unter der Überschrift „Es war nicht nur Neukölln“, dass es eben nicht nur Faesers „Integrationsverweigerer“ waren, die randalierten.

Doch da war es bereits zu spät, waren die Bilder verfestigt: Am 6. Januar etwa besuchte die Sozialdemokratin Faeser Rettungskräfte. Selbstverständlich in Neukölln. Begleitet wurde sie von der Regierenden Bürgermeisterin, Franziska Giffey, ihrer Parteifreundin. Faeser nutzte die Gelegenheit, um vor großem Medienauftrieb noch mal den „Migrationshintergrund“ der Randalierer herauszustellen.

Die CDU erkannte auch sogleich den Schreckensort Neukölln als Ursache des Übels. Noch am 16. Januar veranstaltete die Boulevard-Postille B.Z. einen „Brennpunkt-Spaziergang mit Jens Spahn durch Neukölln“. Mit jenem Spahn also, der zuvor in den Silvesterkrawallen „ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“ miteinander kombiniert sah, als ergäbe das irgendeinen Sinn.

Jörg Sundermeier leitet ­zusammen mit Kristine Listau den Verbrecher Verlag. Er ist Autor des Buches „Die Sonnenallee“ (BeBra Verlag 2016).

Ohne Hochhäuser geht's nicht

Die Bilder waren gesetzt. Viele Artikel hatten als Bild für die Gewalt ein ausgebranntes Fahrzeug an der Sonnenallee gezeigt, im Hintergrund, hinter einer Bahnbrücke, sind noch Hochhäuser zu erahnen. Es sind Bauten der Weißen Siedlung, diese wird von Sonnenallee, Dammweg, Aronsstraße und Dieselstraße eingerahmt und ist „im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus in den 1970er Jahren als Großsiedlung“ entstanden, wie die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen auf ihrer Website mitteilt. Sozialer Wohnungsbau, alle wissen, was das heißt: Elend und Probleme.

Und Drogen? Natürlich Drogen. Im August 2016 fragte die B.Z. alarmiert: „Wird die Weiße Siedlung zu Berlins neuem Drogen-Hotspot?“ Im Artikel heißt es: „Warum gerade hier? Zirka 90 Prozent der Jugendlichen in den weißen 70er-Jahre-Hochhäusern hat einen Migrationshintergrund, viele haben keine Berufsausbildung, keine Perspektive.“ Gegenüber der Weißen Siedlung befindet sich die Agentur für Arbeit Berlin Süd. Es ist wirklich nicht hübsch hier.

Entsprechend fragte der Abgeordnete Joschka Langenbrinck (SPD) im April 2016 in einer „Kleinen Anfrage“ nach dem Drogenhandel rund um die Weiße Siedlung.

Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport antwortete ihm, dass dem Senat bekannt sei, dass im Wohnquartier Köllnische Heide, das „die Wohngebiete Weiße Siedlung und High-Deck-Siedlung, den Von-der-Schulenburg-Park, die Kleingartenkolonie Volksgärten den S-Bahnhof Köllnische Heide sowie einige kleine Plätze und Grünflächen“ umfasst, „an verschiedenen Örtlichkeiten dem Handel mit und dem Konsum von Betäubungsmitteln (BtM) nachgegangen wird, verstärkt im Nahbereich des S-Bahnhofs Köllnische Heide, am Venusplatz, im Von-der-Schulenburg-Park und im Bereich der Kleingartenkolonie Volksgärten“.

Hoppla, im Park mit „Märchenbrunnen“ und in den „Volksgärten“? Nicht etwa im Getto, das wir „4-Blocks“-Gucker alle sofort in den Wohnblöcken sehen?

Lage, Lage, Lage

Die Senatsverwaltung erklärt, warum: „Im Bereich der Kleingartenkolonie (KGA) Volksgärten wurden 2015 unter anderem Pflanzen und Büsche im Bereich des Venusplatzes zurückgeschnitten, um im Sinne einer städtebaulichen Kriminalprävention bessere Sichtachsen zu schaffen.

Diese Reduzierung von Abschirmungen führte, verbunden mit den verstärkten polizeilichen Einsätzen, zu einer Verlagerung der Handelstätigkeiten in den Bereich der KGA. Diese stellt aufgrund ihrer ruhigen Lage und Struktur mit vielen Zugängen/Fluchtwegen, gutem Sichtschutz und vielen Bunker-/Versteckmöglichkeiten einen attraktiven Handelsort für BtM-Händlerinnen und Händler dar.“

Horror-Dealer-Bunker im Kleingarten! Weiß Faeser das? Erschaudert Spahn? Wo ist die B.Z.? Sie kommen nicht. Denn das Bild passt, haha, nicht ins Bild. Das Stückchen Neukölln an der Sonnenallee, in dem der Senat den Drogenhandel wahrnimmt, ist nicht so beliebt bei den sensationslüsternen Kameras, nicht so leicht beschreibbar für klischeebesoffene Reporter.

„Zu viele Beispiele für gescheiterte Integration“

Das Bild muss schließlich stimmen, muss jenes sein, das man sich vorab gemacht hat. Die B.Z.-Kollegen Thomas Block und Roman Eichinger starten ihren „Brennpunkt-Spaziergang“ mit Jens Spahn daher am Hermannplatz: „Wir biegen rechts ab auf die Sonnenallee. Eine 4,9 km lange Straße, auf der sich Berlin ein bisschen anfühlt wie Beirut. Die meisten Werbeschilder haben arabische Schriftzeichen.“

Und Jens Spahn weiß, obschon er – „ist aber schon ein paar Jahre her“ –, nur selten hier war, unmittelbar: „Es gibt hier viele Beispiele für gelungene Integration.“ Und weiß ebenso sofort: „Es gibt hier aber eben auch zu viele Beispiele für gescheiterte Integration, junge Männer etwa, die hier an Silvester alles kurz und klein schlagen wollten, auch das, was ihre Mitmenschen aufgebaut haben.“

Könnte er das vor dem süßen Von-der-Schulenburg-Park sagen, fiele ihm dergleichen vor den idyllischen Volksgärten ein? Das ausgebrannte Fahrzeug an der Sonnenallee, das man nach Silvester oft auf Fotos sah, stand übrigens genau vor dem „Venusplatz“, einer kleinen Grünfläche, daran eher bürgerlich wirkende Häuser. Warum muss die Kamera so angestrengt noch einen Zipfel Weiße Siedlung einfangen, wenn doch der Platz so nahe liegt? Warum lässt sich Spahn im „Beirut“ der Sonnenallee fotografieren, und nicht dort, wo’s gebrannt hat?

Die Erklärungen sind einfach. Einfach rassistisch.

Der Blickwinkel entscheidet hier. Das Bild stand vorher fest, es muss dann im Falle des Fahrzeugwracks nur noch nachinszeniert werden. Denn ist das Problem in Neukölln, bleiben die Brennpunkte Schöneberg und Charlottenburg aus dem Fokus, und die dortigen Probleme für Menschen in Dahlem oder Bonn unsichtbar.

Liegt das Problem im „Beirut“ der Sonnenallee, sind die „Erklärungen“ einfach und einfach rassistisch. Das Bild bleibt, egal, wie wahr es ist. Deutschland braucht das Klischee von Neukölln, Berlin braucht das Klischee von der Sonnenallee, damit niemand etwas tun muss. Damit alles so scheiße bleibt, wie’s ist.

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