Tödliche Polizeigewalt in den USA: Anklage gegen Cops

Fünf Polizisten prügeln in Memphis den 29-jährigen Tyre Nichols zu Tode. Die Behörden reagieren ungewöhnlich konsequent.

Viele Menschen laufen eine Straße entlang und rufen Parolen gegen Polizeigewalt

Landesweit gehen am Samstag Menschen gegen Polizeigewalt auf die Straße, wie hier in New York Foto: Jeenah Moon/rtr

NEW YORK taz | Die vier Videos, die aus verschiedenen Perspektiven zeigen, wie Polizisten nach einer Verkehrskontrolle in Memphis den unbewaffneten 29-Jährigen Tyre Nichols mit Fäusten, Fußtritten, Metallknüppeln, Pfefferspray und Elektroschocks traktieren, sind selbst für US-Verhältnisse ungewöhnlich brutal. Aber die örtliche Black Lives Matter-Aktivistin Amber Sherman findet, dass man die Videos nicht unbedingt ansehen muss.

Sie ist für Transparenz und für Veröffentlichung. Doch um zu verstehen, was passiert ist, hat ihr das Foto aus dem Krankenhaus gereicht. Darauf war das zertrümmerte Gesicht von Tyre Nichols zu sehen, bevor er starb. Abgesehen davon wusste die Aktivistin schon vor der Tat von der Gewalt, mit der die SCORPION-Polizeieinheit auftrat. „Sie halten „Pistolen an Köpfe“, und: „sie überfallen und traumatisieren“ Anwohner, sagt sie in einem Fernsehinterview.

Am Freitag Abend, während die Videos von der Polizeigewalt erstmals im Fernsehen zu sehen sind, finden quer durch die USA Proteste statt. Amber Sherman ist in Memphis dabei, wo Demonstranten kurzfristig die Interstate 55 blockieren. „Endet den Polizeiterror“ skandieren sie. Und immer wieder den Namen des Opfers, damit Tyre Nichols nicht vergessen wird. Zu den in rechten Medien beschworenen Ausschreitungen kommt es weder in Memphis, noch in Boston, New York, Philadelphia, Washington, Detroit, San Francisco oder anderswo.

Stattdessen reagieren die Behörden in Memphis ungewohnt schnell auf die Gewalttat. Schon wenige Tage danach entlässt Cerelyn Davis, die Polizeichefin von Memphis, fünf Polizisten. Ohne jede Beschönigung nennt sie deren Vorgehen „brutal“. Drei Wochen nach der Tat folgen am Freitag Anklagen gegen die fünf Polizisten wegen schwerer Verbrechen – darunter Mord zweiten Grades und Körperverletzung.

Tyre Nichols ruft mehrfach „Mom!“

Am selben Freitag gibt die Polizei die Videos der polizeilichen Bodykameras und von einer Überwachungskamera auf der Straße frei. Bis zu einer vergleichbaren Transparenz brauchten andere Polizeibezirken Monate und jede Menge Druck von der Straße. Am Samstag löst Memphis Polizeichefin Davis die „SCORPION“-Einheit auf. Die Einheit war erst zwei Jahre zuvor gegründet worden, um in Stadtteilen mit hoher Kriminalität für „Frieden“ zu sorgen. „Street Crimes Operation to Restore Peace in Our Neighborhoods“, lautete der volle Name der Sondereinheit.

Statt Frieden lieferte SCORPION am 7. Januar einige der brutalsten polizeilichen Gewaltszenen, die je in den USA per Video dokumentiert worden sind. Tyre Nichols war an dem Samstag auf dem Weg zu seiner Mutter in eine Verkehrskontrolle geraten. Nachdem er aus dem Auto gezerrt, geschlagen, getreten und besprüht worden ist, rennt der junge Mann um sein Leben. Die Polizisten fangen ihn wieder ein.

So lange Tyre Nichols reden kann, bittet er sie um Moderation. „Ihr übertreibt“, sagt er ihnen, „ich habe nichts getan“. Kurz bevor er verstummt, ruft er mehrfach: „Mom“. Kurz danach ist sein lebloser Körper mit auf dem Rücken gefesselten Händen an ein Auto gelehnt. Aus seinem Mund fließt Blut. Die Polizisten stehen daneben und besprechen ihren Einsatz. Niemand kümmert sich um den Verletzten. Bevor ihn ein Krankenwagen abholt, vergehen mehr als 15 Minuten.

Polizeiarbeit als „System weißer Vorherrschaft“

Die Gewalt von Memphis erinnert an zahlreiche andere tödliche Polizeieinsätze. Ältere US-Amerikaner fühlen sich auch in das Jahr 1991 zurückversetzt, als Polizisten in Los Angeles den Afroamerikaner Rodney King bei einer Polizeikontrolle krankenhausreif prügelten, was ein Anwohner vom Balkon filmte. Nach dem Freispruch mehrerer beteiligter Polizisten, brachen damals in Los Angeles Unruhen aus, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kamen.

Was Memphis anders macht, ist neben dem schnellen Durchgreifen von örtlicher Polizei und Justiz auch der nationale politische Umgang mit der Gewalttat. In einer koordinierten Aktion warnen Bürgermeister quer durch die USA die Öffentlichkeit, dass die Videos „brutal“ seien. US-Präsident Joe Biden versichert der Mutter des Toten vor laufender Kamera sein Mitgefühl.

In einem Interview mit CNN lobt RowVaughn Wells, die Mutter, Memphis' Polizeichefin Davis für ihre Arbeit. Der Anwalt der Mutter, Ben Crump, geht noch weiter. Er nennt das Vorgehen von Polizeichefin Davis ein „Modell für die Zukunft“. Die Mutter sagt auch, dass die Täter in Uniform „Schande über sich selbst und über die Gemeinschaft gebracht“ hätte.

Memphis ist eine mehrheitlich afroamerikanische Stadt. Auch alle beteiligten Polizisten waren Schwarz. Auf dem viel gesehenen rechten TV-Sender FoxNews darf ein Sportjournalist die „alleinstehenden schwarzen Frauen an der Polizeispitze“ für solche Gewalttaten verantwortlich machen. Aber in Memphis hat die Black Lives Matter Aktivistin Amber Sherman eine andere Erklärung. Sie betrachtet Polizeiarbeit als „ein System weißer Vorherrschaft“, in das jeder Polizist – unabhängig von seiner Hautfarbe – hinein indoktriniert werde.

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