Roman über Leichenfundortreiniger: Überzeugend auf dünnem Eis

Letzte Fragen: Milena Michiko Flašar schickt in ihrem Roman „Oben Erde, unten Himmel“ einen japanischen Leichenfundortreinigungstrupp los.

Nahaufnahme einer blauen Schmeißfliege

Gibt Hinweise auf die Leichen­liegedauer: die blaue Schmeißfliege Foto: blickwinkel/imago

Eine Großstadt in Japan. Suzu hat ihr Studium abgebrochen und meidet ihre Familie. Eine Liebesbeziehung ist gescheitert und sie kann sich nicht an Freundschaften erinnern. Der letzte Arbeitgeber hat ihr gekündigt: Sie solle sich einen Job ohne Menschenkontakt suchen; immerhin könne sie gut mit dem Mopp umgehen. Suzu landet in einer Putzkolonne, deren Chef sich auf Kodokushi-Fälle spezialisiert hat: Das sind Menschen, die allein in ihren Wohnungen sterben.

Wenn der Tote nach einiger Zeit bemerkt und abtransportiert wird, beginnt die Arbeit der „Leichenfundortreiniger“: Sie beseitigen Blut, Exkremente, Schädlinge, Schmutz. Der Chef des Putztrupps, Herr Sakai, stellt neben Suzu einen weiteren jungen Loser ein: Takada, der ein Internetcafé mit Übernachtungsmöglichkeit als Zuhause bezeichnet.

Milena Michiko Flašar, Jahrgang 1980, ist eine japanisch-österreichische Autorin, die sich auch in vorausgehenden Büchern mit den besonderen Verwerfungen in der japanischen Kultur beschäftigte. Suzu und Takada haben diverse Entscheidungsspielräume und erleben diese Freiheit so wie viele ihrer Generation als Bindungslosigkeit, Beliebigkeit und Leere.

Wenn alles geht, geht nichts; beziehungsweise es geht gerade noch der neue Job bei dem gestrengen Chef. Sakai und seine Leute betreten die Wohnung eines Toten. Sie verbeugen sich vor seinem Geist, stellen sich vor und erklären, dass sie seine Wünsche nach einem leidlich würdigen Abgang verstehen und ausführen wollen. Dann geht es an die Auflösung der Wohnungen, die oft von Maden und Fliegen wimmeln; immer herrscht ein süßlicher Leichengeruch.

Milena Michiko Flašar: „Oben Erde, unten Himmel“. Wagenbach, Berlin 2023, 304 Seiten, 26,80 Euro

Sakai verteilt Schutzanzüge, Atemmasken und Kotztüten. Der Roman skizziert die Säuberungsarbeiten, ohne in ekelhaften Details zu baden; er wälzt sich überhaupt nicht im Morbiden. Der Putztrupp organisiert die sinnvolle Weitergabe von Besitz, stellt Erinnerungsboxen für die Angehörigen oder auch nur für das eigene Depot zusammen. Es geht vor allem darum, aus dem „Nichtort“ der Toten wieder einen Ort für lebendige Menschen herzurichten.

Suzu wird kontaktfähiger

Flašar schildert in kleinen Szenen, wie Suzu durch die Arbeit in der Gruppe allmählich kontaktfähig wird. Nach Feierabend zwingt Sakai seine Leute ins Badehaus; einmal nötigt er sie zur Teilnahme am traditionellen Frühlingsfest, das Suzo schlechtgelaunt als „Kirschblütenschnickschnack“ bezeichnet. Als Takada krank wird, sorgt der Chef dafür, dass Suzu sich um ihn kümmert; sie besucht sogar ihre Familie.

Auch ihr negatives Selbstbild bröckelt: Offenbar war sie nicht immer nur ein isolierter, abweisender Mensch und ist auch nicht dazu verdonnert, einer zu bleiben. Es gibt in diesem Buch einige Einsichten, die mit erhobenem Zeigefinger vorgetragen werden; das ist überflüssig, denn man versteht den Impuls des Textes sehr bald.

„Oben Erde, unten Himmel“ ist ein Entwicklungsroman: Angesichts des Todes lernt ein Mensch, zu leben. Das klingt verdächtig nach dem treuherzigen Glauben, wonach der Weg durch Nacht zum Licht verläuft. Natürlich lechzen wir in der Realität danach – aber in der Literatur führt spätestens das gelingende, harmonische Dasein leider oft zum Kitsch.

Die Autorin bewegt sich also auf einem dünnen Eis. Aber sie erzählt entwaffnend spröde und lakonisch; und zwischen den Zeilen entfaltet sich oft eine feine Komik. Zusammen mit der widerspenstigen Heldin lernt man eine Reihe lebender oder verstorbener Leute kennen, die man normalerweise desinteressiert oder, vornehm gesagt, diskret ignorieren würde.

Nicht nur in Japan herrschen Einsamkeit, Anonymität und ein Mangel an Sinn und Selbstbewusstsein. Suzu sagt sich am Anfang des Buchs: „Wieder ein Tag vorbei und keinem zur Last gefallen.“ Soll das vielleicht alles sein? Hat der Mensch vielleicht doch ein Wesen, das sich entfalten möchte?

Wie ist ein Mensch gemeint?

Flašar nimmt dankenswert profane Umwege, um sich solchen existenziellen Fragen zu nä­hern:­ Da kauft der Chef neues Werkzeug; seine Ansprüche sind klar: Eine Zange muss ihre Funktion erfüllen, muss leicht und doch robust sein, gut in der Hand liegen und sogar möglichst schön aussehen; er sagt, sie muss als Ganzes zangenhaft sein. Wann ist eine Suzu „suzuhaft“? Wie ist ein Mensch gemeint und wie meint er sich selbst?

Die einzelnen Episoden des Romans zeigen die Bedeutung sozialer Beziehungen. Während einem in der Realität die floskelhafte Forderung nach Empathie und gegenseitigem Respekt oft auf die Nerven geht, entfaltet das Buch diese Floskeln. Man liest mit Neugier und Sympathie, wie die blasse, mürrische Suzu aufblüht und Farbe bekommt. Eine eingängige, wohltuende Lektüre.

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