Musiker Andre Rebstock übers NS-Regime: „Aha, das Kommunistenkind“

Die Eltern des Hamburger Musikers Andre Rebstock waren WiderstandskämpferInnen gegen das NS-Regime. Das hat bei ihm Spuren hinterlassen.

Andre Rebstock in seinem Wohnzimmer

Andre Rebstock in seinem Hamburger Wohnzimmer Foto: Miguel Ferraz Araújo

wochentaz: Herr Rebstock, Sie sind Mitbegründer von „Die Kinder des Widerstandes“. Was ist das für eine Gruppe?

Andre Rebstock: Wir sind Kinder, Enkelkinder und manchmal bereits Urenkel von Eltern, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur waren. Wir kommen aus kommunistischen und sozialdemokratischen Familien, manche haben einen jüdischen Hintergrund. Es gibt einen hohen Grad an Akademikern und an Pädagogen. Und viele von uns sind musisch unterwegs.

Die Eltern

Andre Rebstock ist der Sohn von Herta Rebstock (1917-2012) und Carlheinz Rebstock (1917-1986). Herta Rebstock arbeitete erst als Buchhändlerin, war später politisch aktive Hausfrau. Ihr Mann war bis zu deren erneutem Verbot in der KPD tätig, zuletzt als leitender Redakteur der Hamburger Volkszeitung. Danach arbeitete er als Architekt

Der Sohn

Andre Rebstock, Jahrgang 1948, ist Musiker. Sein Jazz Rock & Lyrik Orchestra veröffentlichte zwei Alben: „Die Steinstadt-Suite“ (1978) und „Das Lied von der Erde“ mit Lyrikvertonungen von Hikmet bis Enzensberger (1984), beide sind nur antiquarisch erhältlich. 2017 war er Mitgründer der Gruppe „Kinder des Widerstandes“.

Die Gruppe

Die Gruppe „Kinder des Widerstandes“ hat ihren Sitz in Hamburg, doch kommen die Mitglieder aus ganz Nord­deutsch­land. Als Kinder, Enkel und Urenkel ehemaliger WiderstandskämpferInnen wollen sie deren politischen Kampf fortsetzen, zugleich aber auch kritisch auf die dunklen Flecken blicken. Derzeit bereitet die Grup­pe eine edierte Ausgabe der Erinnerungen des Widerstandskämpfers Harry Naujoks und eine Biografie seiner Frau Martha Naujoks vor.

Gab es so etwas wie ein inneres Motiv, sich zusammenzuschließen?

Dass wir so gar nicht loslassen können, so etwas wie ein politischer Mensch zu sein. Ich bin zum Beispiel in der Adenauerzeit aufgewachsen. Ich habe von Adenauer noch nicht viel mitgekriegt – aber diesen Druck und die Vorsicht, die in jener Zeit herrschte, in diesem Dunstkreis sind wir aufgewachsen. Erst spät habe ich begriffen, dass wir als Kinder derer, die in der NS-Zeit Widerstand geleistet haben, einiges abgekriegt haben.

Was heißt „abgekriegt“?

Meine Mutter war für mich ihr Leben lang eine tolle Frau, die sich immer um mich gekümmert hat. Und die öfter mal weg war, für drei, vier Wochen. Und dann stellte sich heraus, dass sie wegen schwerer Depressionen manchmal in Behandlung war, dass sie psychisch nicht klarkam. Erst nachdem meine Mutter gestorben war – sie ist sehr alt geworden, 94 Jahre -, habe ich erfahren, dass sie mit 16 Jahren das erste Mal verhaftet worden ist. Und irgendwann geht einem ein Licht auf: „Ach, da kommt es her, daher habe ich meine Probleme …“

Es wurde in Ihrer Familie weder über die Klinikaufenthalte noch über die seinerzeitige Verfolgungssituation geredet?

Über die Verfolgungssituation sehr wohl, und das kindgerecht: die ganz harten Sachen haben wir Kinder nicht erfahren. Mein Vater war fünfeinhalb Jahre in Haft, meine Mutter dreieinhalb. Meine Mutter ist wahrscheinlich ohne schlimme Brutalitäten durchgekommen. Also: wahrscheinlich – ich hoffe es. Mein Vater hat am Schluss noch mal Todesangst ausstehen müssen, weil er Ende 1944 eingezogen wurde, nachdem er aus dem Gefängnis längst entlassen war, in das Strafbataillon 999. Zum Glück ging dort alles drunter und drüber – und er wurde nicht an die Front, sondern wieder nach Hause geschickt.

Was war das für eine Widerstandsgruppe, in der Ihre Eltern waren?

Meine Eltern waren sehr jung, als sie in den Widerstand gekommen sind: 16, 17 Jahre. Das ist schon heftig. Sie sind sehr schnell verraten worden, bereits 1934 hat man sie das erste Mal verhaftet. Aber nach der Entlassung haben sie weitergemacht, haben die nächste Gruppe gegründet – eine sehr interessante Gruppe: Es war eine Art Bündnisgruppe. Da waren mindestens drei jüdische Widerstandskämpfer dabei, außerdem zwei Sozialdemokraten und dann Mitglieder vom Kommunistischen Jugendverband, zu dem gehörten meine Eltern. Das war damals, von heute aus gesehen, ein Politikum: „Kommunisten und Sozialdemokraten verbünden sich doch nicht!“ Aber diese Menschen haben gesagt: Wir sind gegen Nazis – selbstverständlich arbeiten wir zusammen.

Sie haben nach dem Tod Ihrer Eltern angefangen zu recherchieren?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der Weg war anders: Ich habe mich immer als politischer Mensch verstanden, war immer nah dran an einer antifaschistischen Haltung, aber ich war nicht organisiert. Ich habe erst eine Zeitlang Musik gemacht, professionell, Jazz-Rock mit deutschen Texten, ein politisch-künstlerisches Projekt mit einer Band. Nach der zweiten LP, das war 1978, bin ich zusammengebrochen.

Was war passiert?

Ich hatte extreme Schwindelanfälle, die über Nacht kamen. Man wacht auf und darf sich nicht bewegen, weil einem sofort schlecht wird – furchtbar war das. Ich wusste nicht, habe ich das die nächste Nacht wieder oder nicht, kann ich am nächsten Morgen aufstehen oder nicht. Das hat meinen Beruf kaputtgemacht – ich konnte keine Band mehr leiten. Das war sehr heftig.

Was haben die Ärzte gesagt?

„Sie sind eigentlich kerngesund – machen Sie doch mal eine Therapie.“ Das habe ich gemacht; das habe ich lange gemacht und dabei einiges gelernt. Nach zwei Jahren habe ich gewagt zu fragen: „Na, was habe ich denn?“ Mein Therapeut hat lange gezögert. Dann hat er gesagt: „KZ-Syndrom“. Tja.

Und Sie haben sich gefragt: Was habe ich damit zu tun?

Überhaupt nicht. Ich habe ganz merkwürdig reagiert. Da war einerseits Erleichterung: „Ich bin nicht schuld, ich kann ja nichts dafür.“ Und andererseits war da der Gedanke: „Was ist das denn? Ich kann ja gar nichts steuern, das kommt ja aus der Vergangenheit meiner Eltern.“ Es waren zwei nebeneinander stehende Empfindungen.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Schon besorgt, aber auch nicht mehr als besorgt. Ich war ja erwachsen.

Haben Sie zurückgefunden zur Musik?

Nach dem Ende meiner Band habe ich zwei Jahre lang für den NDR-Schulfunk Musiksendungen geschrieben. Aber das ist etwas anderes, als selbst auf der Bühne zu stehen. Die Musik ist mir regelrecht weggebrochen, das war eine schwere Krise. Ich habe dann Geld-Jobs gemacht, war lange in der Suchttherapie tätig, ohne dass ich ein ausgebildeter Sozialpädagoge war; später habe ich als rechtlicher Betreuer gearbeitet. Aber zum 70sten Jahrestag der Befreiung vom Faschismus habe ich beschlossen: So inaktiv, wie ich bisher war, will ich nicht mehr sein.

Was hatten Ihnen Ihre Eltern mitgegeben?

Die Einstellung vieler ehemaliger Widerständler in der Nachkriegszeit war oftmals: „Wir sind im Kampf. Wir kämpfen weiter! Ihr müsst kämpfen.“ Das gehört mal mehr, mal weniger zur transgenerationalen Weitergabe. Das Wort „Kampf“ stand in vielen Familien lange im Vordergrund, und ich habe dafür auch Verständnis, wenn man bedenkt, dass bis in die 1970er Jahre ehemalige Nazis in hohen Positionen waren. Bei meinen Eltern war das alles etwas weniger, die waren schon anders. Sie hatten zumindest den Anspruch an uns Kinder, ich habe noch zwei Brüder: Ihr sollt nicht so belastet sein, ihr sollt euren eigenen Weg gehen. Aber ich kenne da andere Fälle. Übrigens: Der Leistungsdruck war in diesen Familien sehr heftig, und der wird auch weitergegeben an die nächste Generation.

Sie sagten, Sie seien in einem Klima von Druck und Vorsicht aufgewachsen. Gibt es dafür ein Beispiel?

Ich bin 1961, ein paar Wochen vor dem Mauerbau, mit der Fédération Internationale des Résistants, einem Zusammenschluss vieler antifaschistischer Organisationen aus Europa, ins damals realsozialistische Bulgarien gereist. Eine Jugendreise unter Leitung einer Frau, die in der Nazizeit im Knast gesessen hatte. Ich war 13 Jahre alt, das war für mich ein unglaubliches Erlebnis. Okay, es gab auch Sachen, die man heute schräg findet wie den morgendlichen Fahnenappell. Aber es gab Konzerte, Gespräche, Ausflüge und Besichtigungen. Als ich zurück war, sagten meine Eltern: „Erzähl lieber nichts davon.“ Doch ich konnte das nicht, mein Schulaufsatz nach den Ferien war: über Bulgarien. Das hat mir nicht geholfen …

Der Lehrer hat gefragt: „Wie kommst du denn nach Bulgarien?“

Er hat gar nichts gefragt. Er hat nur gesagt: „Aha, das Kommunistenkind.“ Das hat mir das Leben nicht erleichtert. Und das, obwohl wir – ich ging in Hamburg-Ohlsdorf auf die Albert-Schweitzer-Schule – mit Erna Stahl eine Schulleiterin hatten, die selbst aus dem Widerstand kam.

Das Grundmuster Ihrer Eltern war: Erzähl besser nichts?

Was seine guten Gründe hatte. Zu jener Zeit war es besser, nicht zu erzählen: „Meine Eltern waren im Gefängnis.“ Wie, im Knast? Ich hatte damals übrigens eine heftige Auseinandersetzung mit meinen Eltern: Ich wollte an den Ostermärschen teilnehmen, aber sie wollten mich da nicht alleine mitgehen lassen, ich war ihnen zu jung. Sie haben mich aber dann in eine Jugendorganisation eintreten lassen, das war die so genannte Freigeistige Jugend. Ein Jugendverband, der den Freidenkern nahestand, ein linker Pfadfinder-Verband. Wir waren ständig auf Fahrt, ständig auf Achse, weg von zuhause. Da bin ich so was von gerne hingegangen, das war meine Welt. Die Schule war sekundär.

Schule war generell nicht so Ihrs, oder?

Ich hatte mit der Schule immer große Schwierigkeiten. Ich kam später in St. Georg auf ein Knabengymnasium, das fand ich gar nicht lustig. Nach der Schule bin ich an die damals sehr renommierte Werkkunstschule gegangen, das war die Idee meiner Mutter, und ich habe das fünf Jahre durchgezogen. Ich habe Grafikdesign studiert, wir haben damals gleich die Sozialistische Werkkunstschule gegründet und sofort mit Schulungen angefangen. Das war der Geist der APO.

Und die Musik?

Lieder zur Klampfe fand ich immer toll! Erst wollte ich Akkordeon spielen, das Instrument hatte ich in Bulgarien kennengelernt, aber das ging nach hinten los. Ich habe mir dann die Gitarre mit der Ein-Finger-Methode beigebracht. Und als ein Freund mir eine E-Gitarre für 20 Mark angeboten hat, ich war 15, habe ich eine kleine Band gegründet mit Klarinette und Banjo, das war am Anfang gar nicht professionell. Aber durch Üben und hohe Ansprüche wird man über die Zeit immer besser. Mit 16 Jahren hatten wir die ersten Auftritte, das war schon mal ganz nett. Ich hatte später das große Glück, Lutz Görner begleiten zu können, den großen Rezitator. Der hat ja nicht nur Gedichte vorgetragen, sondern auch Lieder von Tucholsky, von Heine und von Hanns Eisler. So habe ich gelernt, wie man das macht, habe es mit meiner eigenen Band erprobt und konnte davon ganz gut leben.

Es gab ja damals noch ein anderes Deutschland – die DDR. Wie war das Verhältnis Ihrer Eltern zu ihr?

Ich glaube, sie würden sagen: Es war gut, dass es den Versuch gab. Aber der Versuch stand schon von der allerersten Sekunde an unter schweren Vorzeichen, weil man mit einem Volk von Nazis nicht mal eben den Sozialismus aufbauen kann. Mein eigenes Verhältnis zur DDR war immer gebrochen, es gab auch dort viel Spießertum. Ich erinnere mich, am Tag nach dem großen Vietnam-Kongress 1968 in West-Berlin sind wir rüber nach Ost-Berlin, wollten in einem Lokal etwas essen, ich hatte lange Haare, da hieß es: „Jesus wollen wir hier nicht!“ Wir haben damals auch Wolf Biermann besucht, in der Chausseestraße. Das war ganz schön, Biermann war auch recht nett, er kannte ein paar Zeichnungen von mir, und er kannte ein paar Lieder, die wir gemacht hatten – er ist ja nun mal der Liederkönig gewesen. Er sagte: „Warum zeichnest du nicht mehr? Das mit den Liedern lass mal lieber …“

Sind die Kinder des Widerstandes eine geschützte oder eine schützende Gruppe?

Beides. Wir schützen uns selbst. Wir gehen ganz behutsam mit uns um, aber wir sprechen auch die schwierigen Themen an. Oder sagen wir mal: fast alle. Und deshalb bringt es uns so viel Spaß. Wir politisieren nicht, sondern wir reden über uns; über unsere Erfahrungen, über die Eltern – manchmal. Was neu ist für uns alle, und da haben wir alle die gleichen Erfahrungen gemacht: Man hat nie persönlich reden können. Persönliche Themen waren mehr oder weniger verpönt. Und wir kehren das jetzt um und erlauben es uns, dass wir sehr bewusst über persönliche Dinge sprechen. Da kommt vieles auf den Tisch: Wieso hatten wir immer so merkwürdige Empfindungen? Warum gab es in den Familien untergründig so viel Spannung und Wut, die sich manchmal gegenüber den Kindern geäußert hat?

Im Widerstand war über sich selbst zu reden ja nicht gerade Tradition, oder?

Ganz und gar nicht! Der Slogan war: Das Kollektiv ist alles, der Einzelne ist nichts. Aber man muss auch sagen: Das Kollektiv hat es vielen ermöglicht, die Nazi-Zeit überhaupt zu überstehen. Es gab immer auch Verrat, aber es gab eben vor allem Solidarität, und die hat vielen das Leben gerettet – das wird manchmal übersehen bei dem, was man heute kritisch sieht. Und jetzt haben wir Kinder des Widerstandes ein neues, großes und ein sehr besonderes Projekt gestartet …

Sie machen es spannend …

Es ist eine Forschungsarbeit über die transgenerationalen Auswirkungen der Verfolgung auf die zweite und dritte Generation – und wir werden dazu interviewt. Wir machen das zusammen mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte hier in Hamburg, der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft sowie der International Psychoanalytic University in Berlin. Es gibt ja viele Forschungen über die jüdischen Verfolgten, auch Forschungen über die Kinder der Täter, die notwendig und gut sind. Aber es gibt passend zur Nachkriegsgeschichte kaum Forschungen über die Folgen des Widerstandes für die nachfolgende Generation und wiederum deren Kinder.

Wie läuft es?

Es läuft erstaunlich gut! Bisher wurden 56 Interviews gemacht, es sollen 140 werden.

Bei allem Verständnis, dass Sie da jetzt nichts ausplaudern können, aber wie ist es?

Das Ganze ist erstmal hochinteressant! Und die bisher Befragten äußern sich durch die Bank ausgesprochen positiv: „Mensch, jetzt habe ich endlich mal von mir erzählt! Und auch eine ganze Menge, das habe ich ja gar nicht gedacht, dass das geht und dass es so gut geht.“ Ich sehe mich nicht in der Lage, jetzt hier Ergebnisse zu präsentieren, das ist noch nicht das Stadium.

Aber mir selbst ist noch mal aufgefallen, auch durch die insgesamt fünf Jahre, die wir jetzt als Gruppe in Gange sind: Eine der am häufigsten vorkommenden Erkrankungen unter uns Kindern ist die Depression. Und zwar eine Depression, die nicht nur mal zeitweilig da ist, die also wieder weggeht und dann ist alles gut. Sondern es geht um eine Depression, die sich durchs Leben zieht und sich gezogen hat. Da sind wir jetzt dran. Da geht es sofort ans Eingemachte bei uns, es ist da eine hohe Empfindlichkeit. Aber wir sind bisher total spannungsfrei über die Runden gekommen. Weil: Grundsätzlich finden wir es toll, wenn wir zusammen sind; wir fühlen uns als Freundeskreis, und das ist etwas sehr Schönes.

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