Evakuierungsbefehl in Gaza: 24 Stunden für die Flucht
Am Sonntag forderte das israelische Militär die Bewohner von Deir al-Balah zur Evakuierung auf. Am Montag begann die Bombardierung. Wohin noch fliehen?

In dem Gebiet im Südwesten von Deir al-Balah, das nun betroffen ist, war das israelische Militär bislang nicht mit Bodentruppen aktiv. Auch eine so massive Luftkampagne wie in anderen Gebieten erfolgte bis dato nicht. Infolgedessen sind zumindest Teile der Infrastruktur, etwa Wohngebäude, besser erhalten als in anderen Gegenden. Und weil das Gebiet bisher relativ verschont geblieben ist, sind dort auch schon früher aus anderen Teilen des Gazastreifens Binnenvertriebene untergekommen – laut BBC Verifiy soll es sich um Zehntausende handeln. Insgesamt sollen sich zuletzt bis zu 80.000 Menschen dort aufgehalten haben.
Viel Zeit zur Flucht ließ das Militär den Betroffenen nach seiner Ankündigung nicht: Am Montag begann die Offensive der israelischen Truppen auf Deir al-Balah. Bilder zeigen aufsteigenden Rauch. Nach Angaben lokaler Journalisten standen am Montagmittag Panzer der israelischen Armee an der südlichen und östlichen Außengrenze der Stadt, die Armee habe bereits erste Menschen erschossen.
Gegen das Vorrücken der israelischen Armee legten die Vereinten Nationen Protest ein: Das Vorgehen beeinträchtige humanitäre Operationen in Zentralgaza. Auch das Forum der Geiselangehörigen verurteilte die Pläne des Militärs. Insgesamt befinden sich weiterhin 50 israelische Geiseln im Gazastreifen, 20 von ihnen sollen noch am Leben sein. Einige von ihnen sollen laut israelische Quellen in Deir al-Balah festgehalten werden. Deshalb soll das Militär eine Offensive in dem Ort bislang hinausgezögert haben.
Warum ausgerechnet jetzt das Militär mit der Offensive auf Deir al-Balah begonnen hat, könnte an den stockenden Verhandlungen um einen Geisel-Waffenruhe-Deal zwischen Israel und der Hamas liegen. Die laufen derzeit im katarischen Doha – und während erst Israel bremste, scheint nach Berichten des Axios-Reporters Barak Ravid nun die Hamas der Grund für die Verzögerung zu sein. Ein neuer Vorschlag für das Abkommen sei der Hamas in der Vorwoche übermittelt worden. Und während das Hamas-Politbüro in Katar bereit sei, ihn anzunehmen, warte man noch auf eine Antwort des militärischen Flügels im Gazastreifen. Laut Ravid üben die ägyptischen und katarischen Vermittler nun erhöhten Druck auf die Hamas aus. Und mit der neuen Offensive wohl auch Israel.
Ein weiterer möglicher Grund: Laut dem israelischen Channel 12 habe der Generalstabschef des Militärs, Eyal Zamir, vorgeschlagen, dass die Armee ihre Offensive in Gaza ausweiten, mehr Territorium einnehmen – und so die Kontrolle über den Küstenstreifen übernehmen könnte. Laut Channel 12 wurde das als Alternative zu dem umstrittenen Vorschlag, die Palästinenser in „humanitäre Städte“ in Südgaza zu zwingen, präsentiert.
Derweil ist die humanitäre Lage in den wenigen Gebieten, wo sich die Palästinenser laut Militär noch aufhalten dürfen, katastrophal. Quellen der taz im südlichen Gazastreifen berichten: Selbst wer Geld habe, finde keine Lebensmittel mehr, die er oder sie kaufen könne. Ein Bericht aus Gaza-Stadt im Norden des Küstenstreifens klingt ähnlich: Auf den Märkten gebe es kaum mehr Mehl und Reis. Bohnen, Erbsen und Linsen seien noch zu finden, kosteten aber umgerechnet etwa 20 Euro pro Packung. Auch Gemüse und Obst gebe es kaum noch. Wer etwas finde, zahle hohe Preise: Kartoffeln kosteten fast 20 Euro pro Kilo. Für ein Kilo in Gaza geernteter Feigen fielen umgerechnet bis 40 Euro an. Fleisch, Milch oder Eier seien gar nicht mehr verfügbar.
Lokale Quellen bestätigen der taz, was auch andere Medien berichten: Wohl noch nie war die Versorgungslage im Gazastreifen so angespannt wie jetzt. Es mangelt an allem: Nahrungsmitteln, aber auch an Gütern zur Versorgung von Kleinkindern, etwa Milchpulver. Auch Medikamente, Treibstoff und sauberes Wasser gingen zur Neige. Ein Kontakt aus Südgaza berichtet der taz: Die teilweise funktionierenden Kliniken befürchteten, bald schließen zu müssen, wenn sie nicht bald wieder Treibstoff erreiche.
Laut dem sich mit Ernährungssicherheit beschäftigenden IPC befindet sich der gesamte Gazastreifen in einer Situation akuter Ernährungsunsicherheit. Knapp eine halbe Million Menschen ist so unterernährt, dass die höchste Alarmstufe für sie gilt. Seit Anfang März kommen kaum noch kommerzielle Güter oder Hilfslieferungen nach Gaza.
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