Was sorgt für Frieden?: Pazifismus im Kreuzfeuer
Abrüstungsbefürworter sind innerlich zerrissen. Einige zweifeln, ob ihre Ideen noch zeitgemäß sind, andere protestieren gegen die Wehrpflicht.

„Wozu sind Kriege da?“ Diese naive Frage war der Refrain eines Rocksongs von Udo Lindenberg und des zehnjährigen Pascal Kravetz, der 1981 zur Hymne der westdeutschen Friedensbewegung werden sollte. Über 45 Jahre später zweifelt Lindenberg am Pazifismus. „In dieser verirrten Schwachmaten-Welt stellt man sich plötzlich die bange Frage: Brauchen wir doch ein starkes Militär?“, sagte der 78-jährige Künstler in einem Interview dem Stern.
Dabei ist Lindenberg auch im Alter keineswegs zum Militaristen geworden. „Die Frage, wie wir unsere freie Welt noch retten können und ob Worte und Songs und Kunst und Demos dafür ausreichen, oder ob wir uns tatsächlich auch militärisch wappnen müssten, tut meiner Pazifistenseele sehr weh und lässt mich manchmal gar nicht schlafen“, sagt Lindenberg. Es ist eine innere Zerrissenheit, die viele Menschen umtreibt, die über Jahrzehnte für Abrüstung und Antimilitarismus eingetreten sind und sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine fragen, ob ihre pazifistischen Ideale noch zeitgemäß sind.
Doch es melden sich auch verstärkt Menschen zu Wort, die in Zeiten, in denen massive Aufrüstung und gar die Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert wird, zivile Alternativen einfordern. Dazu gehört Wolfram Beyer von der Internationale der Kriegsdienstgegner*innen (IDK). Beyer wurde Anfang der 1970er Jahre auf die vielen jungen Männer aufmerksam, die nach Westberlin zogen, um der Wehrpflicht in der alten BRD zu entkommen.
Auch sein Cousin gehörte dazu. „Dieser Wehrpflichtentzug erschien mir menschlich plausibel und politisch gerechtfertigt. Erst später festigte sich dies in meiner politischen Haltung, nämlich der Ablehnung von sämtlichen Kriegsdiensten, und ich wurde aktiv in der Westberliner Beratung für Wehrpflicht-Flüchtlinge aus der alten BRD“, sagt Beyer der taz.
Seine antimilitaristische Sozialisation ist für ihn aktuell um so wichtiger. „Mit der Erklärung der „Zeitenwende“ und den Diskussionen um die Kriegsfähigkeit haben wir in der IDK verstärkt unsere Beratungsstrukturen aufgebaut. Allein in Berlin berät die IDK an vier Standorten und an einigen anderen Orten in der Republik“, betont Beyer. Bei der Verteidigung der Rechte von Kriegsdienstverweiger*innen kooperiert die IDK mit der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen (DFG-VK).
Vorsichtig optimistisch
Die älteste Friedensorganisation Deutschlands stellte ihren Bundeskongress im Juni 2025 in Kassel unter das Motto „Verweigert“. „Auf unserem Kriegsdienstverweigerungs-Kongress haben wir den neuen Wehrdienst als Teil der Gesamtaufrüstung eingeordnet und diskutiert, wie wir dem politisch aber auch direkt in Form von Verweigerungsarbeit begegnen“, sagt der politische Geschäftsführer der DFG-VK, Michael Schulze von Glaßer, der taz. Er betont, dass die Rechte der Verweiger*innen global unterstützt werden müssten.
„Wir setzen uns dafür ein, dass niemand die Waffe gegen einen anderen Menschen erhebt – ganz nach dem Motto ‚Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin‘. Die DFG-VK unterstützt bereits jetzt Menschen in Deutschland, die den Kriegsdienst verweigern, setzen sich aber auch für Verweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, der Ukraine und vielen anderen Ländern ein“, beschreibt von Glaßer die Aktivitäten seiner Organisation.
Dabei äußert er sich vorsichtig optimistisch über die antimilitaristische Perspektive. Er verweist darauf, dass mit der Interventionistischen Linken eine der größeren Bündnisorganisationen in der außerparlamentarischen Linken den Antimilitarismus zu ihrem neuen Hauptthema gemacht habe. „Zudem gründen sich gerade viele kleine, lokale Gruppen gegen die Reaktivierung der Wehrpflicht – vor allem junge Menschen sind dort organisiert“, so Schulze von Glaßer.
Das Argument, dass man mit der Aufrüstung das Putin-Regime von weiteren Angriffen abhalten wolle, überzeugt den Antimilitaristen nicht. „Wir befinden uns in einer Rüstungsspirale, die uns im besten Fall in die Armut treibt, im schlechtesten Fall in einen Weltkrieg“, so seine Befürchtung.
Gewaltfreier Widerstand in der Ukraine
Er verweist darauf, dass selbst zur Hochzeit des Kalten Krieges internationale Abrüstungsverhandlungen geführt wurden und in den 1980er Jahren der INF-Vertrag beschlossen wurde, der atomare Kurz- und Mittelstreckenwaffen aus Europa verbannte.
„Wir haben es eben schon mal geschafft, solche Verträge zu schließen – machen wir es wieder“, setzt sich von Glaßer für eine neue Entspannungspolitik ein. Er beklagt, dass in Deutschland kaum bekannt sei, dass es in der Ukraine auch gewaltfreien, zivile Widerstand gegen den russischen Einmarsch gab.
Auch Lou Marin betont im Gespräch mit der taz, dass die Rolle des zivilen Widerstands gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine weitgehend unterschätzt werde. „Der große Panzerkonvoi nach Kyjiw zu Beginn des russischen Einmarsches kam auch aufgrund von Sabotageaktionen russischer Soldaten in den Panzern und Transportern und wegen des unbewaffneten Widerstands der ukrainischen Bevölkerung zum Stehen“, betont Marin. Erst nach dem Scheitern des Marsches auf Kyjiw sei der russische Angriff auf die Ostukraine erfolgt.
Marin gibt im Verlag Graswurzelrevolution Schriften zur Theorie und Geschichte der zivilen gewaltfreien Verteidigung heraus. Im letzten Jahr hat er unter dem Titel „Menschen retten“ zusammen mit Barbara Pfeiffer ein Buch veröffentlicht, in dem Beispiele von zivilem Widerstand während des Nationalsozialismus dokumentiert sind.
Damit wurde in Bulgarien, Dänemark und Frankreich die Deportation jüdischer Menschen in die NS-Vernichtungslager verhindert. Marin sieht die Propagierung und die Umsetzung von Konzepten des zivilen Widerstands als Alternative zu immer mehr Waffenlieferungen in die Ukraine. Er ist überzeugt, dass damit auf beiden Seiten Menschenleben gerettet würden.
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