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Italienischer Film „Vermiglio“Wo Landleben kein Idyll ist

Mit „Vermiglio“ erzählt die Regisseurin Maura Delpero über Frauenschicksale einer Familie in den Dolomiten in Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Junge Mutter zu Kriegszeiten: Lucia (Martina Scrinzi) in „Vermiglio“ Foto: Piffl

Ein Herd, in dessen Fond man ein Feuer knistern hört. Ein Topf mit warmer Milch, aus dem heraus eine mütterliche Hand mit Schöpflöffel die Steinzeugtassen ihrer Kinder füllt. Fast glaubt man sich in einem „Trad-Wife“-Video, dessen „Land-Hausfrauen-Ästhetik“ einen der vielen Brandherde im gegenwärtigen Kulturkampf bildet.

Aber die von alten Traditionen geprägte Welt, in die die italienische Regisseurin Maura Delpero mit ihrem Film „Vermiglio“ entführt, das Leben in einem kleinen Dorf in den Trentiner Alpen in den letzten Kriegsjahren 1944 und 1945, könnte kaum weiter entfernt sein von Influencer-Kultur.

Andererseits: Delperos atmosphärische Familienerzählung zeigt auf großartig nuancierte Art und Weise, wie sehr das Leben ihrer historischen Protagonisten, und zwar sowohl der Frauen als auch der Männer, von patriarchalen Strukturen eingeschränkt wird. Und implizit folgt daraus eben auch, wie geschichtsvergessen es ist, die „handgemachten“, „gemütlichen“ oder „naturverbundenen“ Aspekte eines traditionellen bäuerlichen Lebens heutzutage als Lifestyle zu verkaufen.

Großartige Gebirgskulisse

Das Familienleben der Graziadeis, die im Mittelpunkt von „Vermiglio“ stehen, wirkt zwar einerseits sehr heimelig. Da sind die vielen Kinder, die eine Orgelflöte ergeben, sieben an der Zahl, und dann noch ein Säugling in den Armen von Mutter Adele (Roberta Rovelli). Und da ist der immer warme Herd in einem Haus inmitten großartiger Gebirgskulisse.

Vermiglio

„Vermiglio“. Regie: Maura Delpero. Mit Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico u. a. Italien/Frankreich/Belgien 2024, 119 Min.

Andererseits lässt Regisseurin Delpero in ihren vor der realen Dolomiten-Bergwelt gefilmten Szenen stets genug Zeit, damit auch andere Aspekte ins Bild kommen. Die winterliche Kälte mit meterhohem Schnee, in der der Film beginnt, und die Enge der Räume, der Bänke, der Betten, in denen sich immer mehrere Kinder auf einmal drängeln müssen.

Diese Enge prägt den Haushalt der Graziadeis und das Dorfleben. Sie herrscht in der „Zwergschule“, in der Vater Cesare Graziadei (Tommaso Ragno) als Lehrer die Kinder allen Alters in einem einzigen Raum unterrichtet. Sie herrscht in der Kneipe, in der sich die Alten über die Frage anbrummen, ob es richtig sei, Deserteure zu beherbergen. In dieser Umgebung etwas zu tun, über das nicht wenig später getuschelt wird, fällt schwer, sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder.

Desertieren vor dem Kampf

Die Deserteursfrage kommt auf, weil noch vor Weihnachten 1944 ein Onkel der Graziadeis mit dem Sizilianer Pietro (Giuseppe De Domenico) an seiner Seite weg von der Front ins Dorf flüchtet; Pietro hat dem Onkel das Leben gerettet, sie wollen nicht mehr zurück in einen Krieg, von dem sie nicht wissen, für wen sie ihn kämpfen sollen. In der Kneipe bezeichnet ein Mann alle Deserteure als Feiglinge; Cesare entgegnet, dass es, wenn alle Feiglinge wären, auch keinen Krieg mehr gäbe.

Seine älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) hat sich da schon längst in Pietro verguckt. Im Wortsinn: Delpero zeigt, wie ein Blick genügt, um ein Feuer zu entfachen. Das erste Mal sehen sie sich in Entfernung an der Haltestelle des Dorfes, wenig später in der Kirche, wo Pietro sich nach Beginn der Messe noch leise hineinschleicht.

Er erwidert Lucias Blick und in beiläufiger Selbstverständlichkeit kommt es bald zum Austausch von Herzklopfen erregenden Nachrichten. Pietro kann als Analphabet nur zeichnen und kommt schließlich zu heimlichen Verabredungen, im Wald, im Schatten eines Stalls.

Da bahnt sich etwas an

Die sich anbahnende Liebesbeziehung wird von Lucias jüngeren Schwestern Flavia (Anna Thaler) und Ada (Rachele Potrich) neugierig überwacht. Worüber sie miteinander sprechen, fragt Flavia, die begabteste unter den Grazia­dei-Kindern. „Wir reden nicht viel, wir halten uns an den Händen“, antwortet Lucia. Kaum dass Pietro seine Bereitschaft erklärt, sie zu heiraten, wird ­Lucia auch schon schwanger.

Nach und nach stellt Delpero die drei Mädchen als die Hauptprotagonisten ihres Films heraus. Lucia und ihre Liebesgeschichte, die später eine wahrhaft schockierende Wendung nehmen wird, bildet den roten Faden dieser die vier Jahreszeiten abdeckenden Erzählung.

Ada, die auf ganz andere Weise ihre Sexualität entdeckt, gibt das gleichsam verdrängte Gegenstück dazu. Man sieht sie, wie sie sich in der Ecke hinter dem Kleiderschrank versteckt, um sich selbst zu berühren – später wird sie in einem geheimen Tagebuch damit hadern. Die Magd des Nachbarhofs, die beim Melken raucht und lacht, beeindruckt sie mehr, als diese wohl realisiert.

Sich dem Gelübde entziehen

Der Vater sieht für Ada den Werdegang einer Nonne vor, aber der Film deutet an, dass sie schließlich genug Trotz angesammelt hat, um sich dem Gelübde zu entziehen. Flavia, die jüngste von ihnen, repräsentiert ein wenig die Filmemacherin selbst.

Sie betrachtet ihre Umgebung mit unerschöpflicher Neugier, die unter anderem dazu führt, dass sie sich unterm Schreibtisch des Vaters versteckt, um diesen dabei zu beobachten, wie er, wenn er sich alleine glaubt, die Beine hochlegt und klassischer Musik lauscht. Flavia, der Musterschülerin, stellt Cesare als Einziger unter seinen Kindern die Möglichkeit einer höheren Bildung in Aussicht.

Delpero lässt all diesen Momenten ihre Zeit, ihr Kino ist eines der langen Einstellungen, das aber gleichzeitig von großer erzählerischer Ökonomie bestimmt und nie langweilig wird. Es gibt kaum Dialoge, im Tuscheln der kleinen Kinder verfestigen sich Versionen von Ereignissen, die man auch anders hat ablaufen sehen.

Heiße Wickel gegen Fieber

In einem Moment sieht man die Mutter, die mit Kohlwickel das Fieber ihres weinenden Säuglings senken will, im nächsten sitzt sie trauernd an einem metallenen Kreuz, das aus dem Schnee herausragt. Da erwartet sie auch schon das nächste.

Es scheint eine tiefe Affinität zu geben zwischen dem kargen Alltag und dem Bemühen um Realismus. Als ob man zurück müsse aufs Land, wo man die Dinge noch wahrhaft fühlen und schmecken kann, um authentisch zu sein. Aber Delpero widersteht auf meisterhafte Weise der Verführung, daraus ein bukolisches Idyll zu machen.

Stattdessen geht ihre Rekonstruktion, für die sie sich von der eigenen Familienchronik hat inspirieren lassen, der Frage nach, wie es sich von innen anfühlt. Nicht im Bezug auf Winterschnee und Sommersonne, sondern auf die herrschenden Normen und Werte, die das Leben in Ritualen, Gewohn- und Gepflogenheiten so leiten.

Cesare ist kein schrecklicher Patriarch, aber der Mann, der selbst so wenig Gelegenheit hat, seinem zweifellos reichen Innenleben zu frönen – einen kleinen Einblick gewährt eine Szene, in der er seinen Schülern die einzelnen Takte von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ vorinterpretiert –, zeigt wenig Verständnis für das Befinden seiner Kinder.

Oft scheitern moderne Filme, die den Emanzipationswillen von Frauen in alter Zeit zeigen, daran, dass sie diese mit dem aktuellen „Mindset“ ausstatten; oder sie ganz und gar als Opfer ihrer Umstände darstellen, ohne ihnen Handlungsfähigkeit zuzugestehen. Delpero gelingt die Gratwanderung: Ihre Figuren werden zu Individuen, die sich an den zeittypischen Einschränkungen auf je eigene Art und Weise reiben.

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