Internationaler Strafgerichtshof: Der Warlord von Bangui
2014 erlebte die taz in der Zentralafrikanischen Republik, wie in dem Haus von Patrice Ngaïssona eine Miliz wütete. Jetzt fällt über ihn das Urteil.

Die Séléka-Kämpfer zerschossen Ngaïssona damals nicht nur das Hoftor, sondern plünderten das Warenlager seiner Import- und Export-Gesellschaft, räumten die Vorratskammer hinter der Küche aus und stahlen ihm die Matratze aus dem Schlafzimmer. Auf dem Fußboden im Wohnzimmer lagen überall zerstreut Bilder aus seinem privaten Fotoalbum, als die taz das Anwesen erstmals besuchte.
Kein Jahr später war die Herrschaft der Séléka schon wieder vorbei. Anstelle der muslimischen Rebellen zogen im Frühjahr 2014 Abertausende junge Männer, einige noch Kinder, mit Messern und Macheten durch die Hauptstadt, töteten und jagten die muslimische Minderheit, bis fast alle Muslime der Zentralafrikanischen Republik getötet oder vertrieben waren. Im Leichenschauhaus stapelten sich die Toten. Anti-Balaka nannten sich diese antimuslimischen Milizen, Kurzform für „Anti-Balle-Ak47“, weil sie sich einbildeten, ihre Fetische würden sie von den AK47-Kugeln der Séléka schützen.
In Ngaïssonas Villa hinter dem grünen Hoftor mit den Einschlusslöchern im Stadtviertel Boy-Rabe hatte sich die Anti-Balaka-Führung eingerichtet. Boy Rabe war der Wahlkreis des gestürzten Präsidenten Bozizé gewesen, hier lebten seine Angehörigen und engsten Anhänger – und von hier aus hatte seine Miliz Anti-Balaka ab Ende 2013 Bangui und das Umland mit extremer Gewalt zurückerobert und Séléka in die Flucht getrieben.
„Das ist unser Gefangener“
Als die taz Ende März 2014 Ngaïssonas Innenhof erneut besuchte, schlichen dort junge Milizionäre im Kreis um einen Stuhl herum, Messer in den Händen. Auf dem Stuhl saß ein junger Mann in Unterhose und T-Shirt, Blutergüsse und tiefe Wunden am Körper: ein Séléka-Anhänger. „Das ist unser Gefangener“, sagte Anti-Balaka-Sprecher Gomez Namsio stolz. „Und das ist Oberst 12 Puissance (12 Volt), der Kommandant der Anti-Balaka.“
Er zeigte auf einen bulligen Mann im schwarzen Jogginganzug. Mit seiner tiefen Stimme brüllte der den Gefangenen an: „Wenn du einer von uns bist, dann werden die Kugeln an dir abprallen, wenn ich auf dich schieße.“ Dann klingelte ein Telefon. Der Kommandeur zog sein Handy aus der Hosentasche. „Der Chef ist dran“, raunzte er und beendete mit einem Handzeichen die Scheinexekution. Der „Chef“ am Telefon – war das Ngaïssona?
Unter anderem darüber hat jetzt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) vier Jahre lang verhandelt. Heute fällt in Den Haag das Urteil im Prozess gegen Ngaïssona und einen weiteren zentralafrikanischen Warlord. Es sind die ersten Urteile des Weltgerichts über die Verbrechen, die die Zentralafrikanische Republik 2013–14 erschütterten und von denen sich das Land bis heute nicht erholt hat.
Ngaïssona ist als mutmaßlicher „übergeordneter Koordinator“ der Anti-Balaka schlimmster Verbrechen angeklagt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Folter, Vergewaltigung, Vertreibung sowie Einsatz von Kindersoldaten unter 15 Jahren – insgesamt 31 Anklagepunkte.
Mit ihm vor Gericht steht Alfred Yekatom, in der Zentralafrikanischen Republik unter dem Kriegsnamen „Rambo“ bekannt. Der ehemalige Armeeoffizier und Parlamentsabgeordnete kommandierte laut Anklage zwischen Ende 2013 und August 2014 rund 3.000 Anti-Balaka-Kämpfer in der Provinz Lobaye südwestlich von Bangui. Er war also ähnlich wie in Bangui Oberst „12 Puissance“ für die Milizionäre in einer bestimmten Region zuständig. Alle Regionalkommandeure erhielten, so die Anklage, Befehle von Ngaïssona im Exil.
Yekatom war im Oktober 2018 im zentralafrikanischen Parlament festgenommen worden, als er im Plenarsaal mit seinem Revolver das Feuer eröffnete. Kurz darauf wurde er nach Den Haag überstellt. Ngaïssona wurde nur wenige Wochen später in Paris verhaftet und ebenso nach Den Haag ausgeliefert. Mehrfach war er zuvor in Bangui festgenommen, aber wieder freigelassen worden.
Nach dem Scheitern seines Vorhabens, 2015 bei den ersten Präsidentschaftswahlen des Landes nach Kriegsende anzutreten, hatte Ngaïssona im Sport Karriere gemacht. 2017 wurde der Milizenführer Präsident des Fußballverbandes der Staaten des zentralen Afrika und vertrat diesen auch beim internationalen Fußballverband Fifa. Zuletzt lebte er in Paris, wo seine Familie seit Langem ansässig ist. Am Pariser Flughafen wurde er im Dezember 2018 mit IStGH-Haftbefehl gefasst, als er gerade aus Bangui kam, und nach Den Haag überstellt.
Die Suche nach dem General
Endlich Gerechtigkeit also für die Opfer brutalster Greueltaten in einem international wenig beachteten Land im Herzen Afrikas? Das Verfahren war von Anfang an schwierig. Denn die Richter wollten vermeiden, nur eine Konfliktpartei anzuklagen, also die Anti-Balaka. Jahrelang fahndeten die Ermittler nach Anführern der Séléka, um sie ebenfalls zur Rechenschaft zu ziehen.
Immerhin, Anfang 2021 ging den Blauhelmen der UN-Mission Minusca bei einem Treffen in Bangui Séléka-Kommandant Mahamat Said Abdel Kani ins Netz. Der Oberst war in der Séléka für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zuständig gewesen. Er stand in der Hierarchie unter Séléka-General Noureddine Adam, der nach dem Rückzug seiner Truppe aus Bangui als oberster Anführer der Séléka-Nachfolgeorganisation „Volksfront für die Wiedergeburt Zentralafrikas“ (FPRC) weiterkämpfte.
Jahrelang bemühten sich die IStGH-Ermittler vergeblich, General Adam habhaft zu werden. Er versteckte sich in Sudan, wo der IStGH keine Zuständigkeit hat. Bei seinen Truppenbesuchen in der nordöstlichen Savanne der Zentralafrikanischen Republik wurde er von den russischen Söldnern der Wagner-Gruppe hofiert, mit denen er damals Diamantengeschäfte betrieb. Er ist bis heute auf freiem Fuß, die Russen stützen mittlerweile den amtierenden zentralafrikanischen Präsidenten Faustin-Archange Touadéra.
Die größte Herausforderung für die Den Haager Ermittler bestand darin, Ngaïssona die Kommandohoheit über die Anti-Balaka nachzuweisen, auch in der Zeit, als er sich zum Höhepunkt des Krieges Anfang 2014 nachweislich im Exil aufhielt – also per Telefon oder anderen Kommunikationsmitteln. Ein Detail war dabei entscheidend: Die Mitgliedsausweise der Anti-Balaka beziehungsweise der Séléka.
Denn beide Milizen hatten ihren Truppen ID-Karten ausgestellt: laminierte Karten mit Namen, Rang, Funktion und Portraitfoto. Kämpfer und Offiziere trugen sie an einem Band sichtbar um den Hals. Darauf waren auch die offiziellen Stempel mit Logo und Name der Miliz sowie Unterschriften der Milizenführer.
Auf Fotos von Anti-Balaka-Sprecher Namsio, der vor Ngaïssonas grünem Hoftor in Boy-Rabe posierte, war die Unterschrift zu erkennen, aber nicht gut zu lesen. Es wurde nie eindeutig bestätigt, ob es Ngaïssonas Signatur war. Im Fall der Séléka verfügten die Ermittler über bessere Fotos. Sie bewiesen, dass General Adam die Ausweise 2013 ausgestellt hatte, in seiner damaligen Funktion als Sicherheitsminister der kurzlebigen Séléka.-Regierung.
Kein afrikanisches Essen beim Strafgerichtshof
Der Prozess in Den Haag gegen Ngaïssona und Yekatom begann im Februar 2021. Fast 80 Zeugen der Anklage und Opfervertreter wurden gehört. Ab November 2023 kamen die Zeugen der Verteidigung dran. Im Dezember 2023 meldete sich Ngaïssona persönlich zu Wort.
„Ich habe sehr gelitten“, klagte er über seine fünf Jahre in der Haftanstalt des IStGH. „Das Essen entsprach nicht meiner Kultur“, so Ngaïssona. Er habe sich seine afrikanischen Lebensmittel selbst beschaffen müssen, das sei teuer gewesen. Zumal habe er seine acht Kinder und sieben Enkel jahrelang nicht sehen können, weil diese sich keine Reise nach Den Haag leisten konnten. „Ich bin der Einzige, der sich um meine Familie kümmert“, so Ngaïssona. Dann wandte er sich direkt an den Vorsitzenden Richter: „Ich rate Ihnen, die Haftanstalt selbst zu besuchen – um zu erfahren, wie man sich dort fühlt.“
Und schließlich stellte Ngaïssona seine Sicht der Dinge klar: Die Anti-Balaka seien Widerstandskämpfer gewesen, die „Frieden bringen wollten“, wie er sagte. „Ich habe alles geopfert, um diese verzweifelte Jugend zu repräsentieren“, schloss Ngaïssona: „Ich habe niemals an irgendwelchen militärischen Aktionen teilgenommen, noch habe ich sie finanziert oder Waffen verteilt.“ Als sein Haus von Séléka geplündert wurde, habe er alles verloren.
Demgegenüber erklärte Ankläger Kweku Vanderpuye in seinem Schlussplädoyer im Dezember 2024, Ngaïssona habe durch Koordination und Finanzierung von Anti-Balaka-Einheiten maßgeblich zu deren Verbrechen beigetragen – „wahllose Angriffe auf muslimische Zivilisten als kollektive Vergeltung für Verbrechen und Greueltaten der Séléka“. Ngaïssona „wollte Macht, ob direkt oder indirekt“, so der Ankläger weiter und forderte für ihn 20 Jahre Haft, für Yekatom sogar 22 Jahre.
Ob die Richter in Den Haag den Zentralafrikaner als Opfer ansehen und freisprechen, oder als Täter verurteilen und schuldig sprechen – das wird an diesem Donnerstagnachmittag verkündet. Von einem „Meilenstein“ der Aufarbeitung spricht im Interview mit zentralafrikanischen Journalisten IStGH-Sprecher Fadi El Abdallah. Hunderte von Menschen werden in Bangui zu einer Live-Übertragung erwartet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutsche Israel-Politik
130 Diplomaten im Außenministerium fordern härteren Kurs
Bettelverbot in Hamburgs S- und U-Bahnen
S-Bahn verhindert Grundrechtsentscheidung
Krieg im Gazastreifen
Keine Hilfe für die Verhungernden
Frankreich zu Palästinenserstaat
Macron kündigt Anerkennung Palästinas im September an
IGH-Gutachten zum Klimaschutz
Haftbar für Schäden auf dem ganzen Planeten
Protest in Griechenland
Demo stoppt Kreuzfahrt aus Israel