Zahlen der Jobcenter: Keine Belege für eine große Bürgergeld-Mafia
Die Regierung spricht von „mafiösen Strukturen“, die „Bild“-Zeitung von einem Anstieg beim „bandenmäßigen Bürgergeldbetrug“. Dabei ist die Datenlage dünn.
Sinngemäß geht es laut Bundesregierung um Kriminelle, die EU-Ausländer*innen nach Deutschland bringen und für diese Arbeitsverträge so fingieren, dass sie Anspruch auf Bürgergeld haben. Die Betroffenen dürften das Geld dann nicht behalten, sondern müssten es an die „oft menschenhandelsähnlichen Strukturen“ abführen. Berichte über entsprechende Fälle gibt es aus mehreren Großstädten. Tatsächlich ist aber vollkommen offen, wie verbreitet das Problem wirklich ist. So ist die aktuelle Regierungsantwort auf die Grünen-Frage, über die zuerst die Rheinische Post berichtet hatte, nur beschränkt aussagekräftig.
Der Aufstellung zufolge haben die Jobcenter im Jahr 2023 noch 229 Verfahren wegen „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“ eingeleitet, 2024 waren es dann schon 421. Das wirkliche Ausmaß könnte einerseits noch größer sein: Daten lagen dem Ministerium nur für drei Viertel der Jobcenter vor, außerdem erfasst die Summe naturgemäß keine unerkannten Fälle.
Andererseits zeigt ein genauerer Blick in die Daten, dass die Jobcenter am Ende nicht mal in der Hälfte der Verfahren eine Strafanzeige gestellt haben. Wie Staatsanwaltschaften und Gerichte weiter verfahren sind, ist oftmals vollkommen unklar. Für 2024 weiß das Ministerium nur in 36 Fällen, was aus den Anzeigen wurde. Demnach gab es lediglich 3 Verurteilungen, und diese auch nur zu Geldstrafen. Selbst in diesen Fällen kamen die Gerichte offenbar nicht zu der Überzeugung, dass es sich tatsächlich um „bandenmäßigen“ Betrug handelte. Für diesen Straftatbestand sieht das Strafgesetzbuch nämlich eine Freiheitsstrafe vor.
Das Fazit des Grünen-Sozialpolitikers Timon Dzienus: „In der Debatte um das Bürgergeld braucht es mehr Sachlichkeit statt polemischer Stimmungsmache.“ Explizit meint er damit nicht nur die Berichte über vermeintliche Mafia-Strukturen. In ihrer Anfrage an die Regierung hatten die Grünen-Abgeordneten auch andere Aspekte abgefragt. Der Antwort zufolge ist die Datengrundlage für viele Verschärfungen, die Schwarz-Rot beim Bürgergeld plant, dünn.
Demnach fehlen der Regierung Daten oder Berechnungen zum Einsparpotenzial geplanter Reformschritte wie höherer Sanktionen. Und überschaubar ist die Zahl der Bürgergeldempfänger*innen, die nachweislich nicht arbeiten wollen oder sich Maßnahmen verweigern: 2024 wurden aus diesem Grund nur in knapp 24.000 Fällen Leistungen gemindert (bei einer Gesamtzahl von rund 4 Millionen erwerbsfähigen Leistungsempfänger*innen). Zehn Jahre zuvor lag diese Zahl noch bei rund 117.000.
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