Kinder benachteiligter Familien: Wenn die Kita schon zu spät ist
Eine Langzeitstudie zeigt, wie stark soziale Ungleichheiten bereits im Alter von zwei Jahren sichtbar werden. Was muss der Staat tun?

Für eine Ministerin, die massiv in die frühkindliche Bildung investieren und so die Chancenungleichheit überwinden möchte, ist diese Klarstellung bemerkenswert. Kündigt sie damit doch an, dass Kitas und Schulen alleine das Problem nicht werden bewältigen können – trotz der geplanten Milliarden und verpflichtenden frühen Förderung im Vorschulalter. „Ein Staat, der alles leisten will in diesem Bereich, wird immer überfordert sein“, so Prien.
Die Rolle der Eltern für die Bildungschancen der Kinder ist zwar unbestritten. Wie genau Mütter und Väter jedoch mit ihrem Verhalten die kindliche Entwicklung prägen, ist insgesamt noch wenig erforscht. Eine am Montag veröffentlichte Studie zeigt nun, wie früh sich der Einfluss der Eltern bemerkbar macht – je nachdem wie einfühlsam und entwicklungsfördernd sie mit ihren Kindern umgehen. „Schon bei den Zweijährigen sehen wir hier enorme Unterschiede“, sagt Manja Attig vom Bamberger Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi), eine der beiden Autorinnen, im Gespräch mit der taz.
Für ihre Analyse griff Attig, die am LIfBi den Bereich Frühe Bildung leitet, auf eine deutschlandweit einzigartige Langzeitstudie zurück: Seit rund 13 Jahren begleiten Forscher:innen die Bildungsverläufe von Kindern aus ganz Deutschland – ab Geburt. Rund 3.500 Familien wurden dafür dreimal in den ersten zwei Lebensjahren des Kindes besucht, danach einmal im Jahr. Dabei wurde unter anderem gefilmt, wie die Elternteile mit ihrem Kind spielen und abgefragt, wie häufig sie gemeinsam ein Kinderbuch angucken. „Solche Interaktionen und das Verhalten der Eltern in diesen Interaktionen können die sprachliche und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern maßgeblich beeinflussen“, sagt Attig.
Die Wirkung von Bilderbüchern
So kennen Zweijährige, deren Mütter oder Väter aktiv deren (sprachliche) Entwicklung anregen, beispielsweise wesentlich mehr Wörter (im Schnitt 173) als Kinder, deren Eltern dies nicht machen, dann sind es nur 119 Wörter. Ähnlich stark wirkt sich aus, ob Eltern mit ihren Kindern schon früh und regelmäßig Bilderbücher ansehen (besserer Wortschatz und Grammatikkenntnisse) und wie schnell und fürsorglich sie auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen (bessere soziale Kompetenzen). Teilweise bedingen sich die Entwicklungen auch: So haben Kinder mit besseren Sprachkenntnissen später weniger Konflikte mit Gleichaltrigen.
Das unterschiedliche Elternverhalten ist laut Attig auch auf die verschiedenen sozioökonomischen Realitäten zurückzuführen: „Eltern mit geringem Einkommen oder niedrigem Bildungsniveau gelingt es oft weniger, entwicklungsförderlich auf ihre Kinder einzugehen“, erklärt Attig.
Besonders kritisch sei es, wenn weitere Stressfaktoren hinzukämen, etwa wenn eine Mutter alleinerziehend ist oder das Kind unter einer chronischen Erkrankung leidet. „Wir sehen, dass bei drei oder mehr solcher Belastungsfaktoren die Mütter nicht mehr in der Lage sind, beispielsweise auf ein Kind mit einem herausfordernden Temperament gut einzugehen.“
Dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien im Schnitt geringere Sprachkompetenzen aufweisen, wurde bereits in früheren Studien festgestellt. Neu an der LIfBi-Studie ist, dass sie diesen Zusammenhang nun schon im Alter von zwei Jahren nachweist. Möglicherweise fällt der in der Realität noch stärker aus, vermutet Bildungsforscherin Manja Attig. Erstens, weil einige besonders stark belastete Familien aus der Langzeiterhebung ausgestiegen sind und deren Daten fehlen. Und zweitens wurde der Sprachstand der Kinder im Alter von zwei Jahren über eine Einschätzung der Familien abgefragt – auf Deutsch. Familien, die zu Hause kein Deutsch sprechen, flossen deshalb erst später in die Untersuchung ein, als der Wortschatz der Kinder spielerisch über Tablets erhoben werden konnte.
Doch selbst mit dieser Unschärfe sind sich die Autorinnen einig über die Schlussfolgerungen: „Ziel muss es sein, allen Kindern gerechtere Bildungschancen zu ermöglichen“, so Attig. Deshalb sollte der Staat Eltern in Risikosituationen so frühzeitig wie möglich unterstützen. Am besten schon vor dem Kita-Besuch.
Bremen zeigt's
Wie das funktionieren kann, zeigt die Hansestadt Bremen. Dort starteten der Senat, die Jacobs Foundation und mehrere Universitäten und Institute im Jahr 2017 die Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung, kurz BRISE. Die Idee: Angebote für sozial benachteiligte Familien so aufeinander abzustimmen, dass sie von der Schwangerschaft bis zum Schuleintritt des Kindes eine „systematische Förderkette“ ergeben.
Dazu gehören Programme wie „Pro Kind“, über das speziell ausgebildete Hebammen während der Schwangerschaft und in den ersten beiden Lebensjahren alle zwei Wochen zu Besuch kommen und unter anderem die so wichtigen Eltern-Kind-Interaktionen einüben. Beim Programm „e:du“ kommen pädagogische Fachkräfte einmal die Woche zum altersgerechten spielerischen Lernen nach Hause oder bringen mehrere Familien in Gruppen zusammen – auch hier geht es um Lerneffekte sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern. Weitere Angebote wie „HIPPY“ richten sich an Vorschulkinder vor allem an Familien mit Einwanderungsgeschichte. Hier kommen in der Regel mehrsprachige Fachkräfte alle zwei Wochen nach Hause und machen spielerische Sprachförderung – auch für die Eltern.
Nach Angaben des Bremer Senats werden aktuell 405 Familien über BRISE unterstützt. Mit großem Erfolg, sagt der wissenschaftliche Leiter der Initiative, der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller: „Wir erwarten, dass die Kinder, die an der ganzen Förderkette teilnehmen, deutlich höhere sprachliche und soziale Kompetenzen aufweisen als Kinder aus anderen belasteten Familien“, sagt Köller der taz. Köller verspricht sich weitere aufschlussreiche Erkenntnisse aus dem Projekt: So wollen die beteiligten Forscher:innen die BRISE-Kinder auch nach ihrem Schuleintritt weiter begleiten. Dies ist auch dank einer Förderung des Bundesbildungsministeriums bis 2029 möglich. „Wir wollen jetzt untersuchen, ob früh geförderte Kinder in der Grundschule höhere Basiskompetenzen aufweisen“.
Köller, der als Co-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) auch die Bildungsminister:innen berät, sieht Bund und Länder bei der frühen Förderung insgesamt auf einem guten Weg. Die Wiederaufnahme des Bundesprogramms „Sprachkitas“, die geplante Förderung von Kitas im sozialen Brennpunkt, der Trend zu verpflichtenden Sprachtests im Alter von vier Jahren sowie die Rückkehr des Konzepts Vorschule sind aus seiner Sicht alles Schritte in die richtige Richtung. Die größten Herausforderungen sieht Köller darin, an den Kitas einheitliche Förderstandards zu etablieren – und die Kommunen in die Lage zu versetzen, eine so lückenlose Frühförderung wie in Bremen anbieten zu können. „Bisher sind die Angebote in dem Bereich sehr heterogen“, so Köller. Manche Städte wie Nürnberg oder Offenbach hätten zwar ein ähnlich breites Angebot wie Bremen, insgesamt sei dies aber nach wie vor die Ausnahme.
Frühe Hilfen
Erst vor ein paar Monaten schlugen Expert:innen bei einer Anhörung im Familienausschuss des Bundestags Alarm. Der Fonds „Frühe Hilfen“, über den die Kommunen belastete Familien unterstützen und damit die Bildungschancen der Kinder verbessern, müsse dringend erhöht werden. Zuvor hatten bereits die Länder im Bundesrat kritisiert, dass die Mittel seit 2014 nicht erhöht worden seien, und forderten eine Aufstockung von 51 auf 96 Millionen Euro im Jahr 2025. Bisher ohne Erfolg. Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung für dieses Jahr sind nach wie vor 51 Millionen Euro vorgesehen.
Wie groß die Bedarfe tatsächlich sind, ist schwer zu sagen, sagt die Bildungsökonomin C. Katharina Spieß der taz. „Die 51 Millionen sind auf jeden Fall zu wenig“, so Spieß. Programme wie „Pro Kind“ oder „HIPPY“, die in Bremen Teil der Förderkette sind, erhalten klassischerweise aus diesem Topf Geld. Aus ihrer Sicht müsste das Konzept der frühen Hilfen aber nicht nur stärker ausfinanziert werden – sondern vor allem besser in die bisherigen Programme für Kitas integriert werden, fordert Spieß: „Es ist zwar sehr gut, dass unter der neuen Bundesbildungsministerin nun Kitas im sozialen Brennpunkt gezielt gefördert werden sollen“. Allerdings sei ein großes Problem, dass die belasteten Familien oft gar keinen Kitaplatz nutzen – obwohl sie den Bedarf angeben. Das zeigt unter anderem eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), an der sie als Direktorin maßgeblich mitgearbeitet hat. „Wir müssen noch viel stärker als bisher die Familie als einen Ort der Bildung verstehen“, so Spieß.
Studien aus dem Ausland zeigten, dass jene Programme, die am effektivsten ungleiche Startchancen ausgleichen, sowohl die Kinder als auch deren Familien adressierten – so wie auch in Bremen. Bei den meisten Programmen hierzulande vermisst Spieß das noch. Spieß begrüßt aber, dass die Bundesregierung die Investitionen in Kitas im Vergleich zur Ampel massiv erhöhen möchte: „Wir Bildungsökonom:innen sagen das seit vielen Jahren: Jeder Euro, der in gleiche Bildungschancen investiert wird, rentiert sich später auch für den deutschen Staat“.
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