Fachkräftemangel in Pflegeheimen: Das Pflege-Paradox
Während die Zahl der Pflegebedürftigen stetig wächst, sinkt in Hamburg die Zahl der Heimplätze bereits seit Jahren. Warum lohnt der Betrieb nicht?

Verantwortlich für den Rückgang an Pflegeplätzen sind aber nicht nur Schließungen von Heimen, sondern auch der Abbau von Betten in einzelnen Einrichtungen. Die CDU spricht dabei von einer „schleichenden Schließung“. Rund 600 Plätze sind betroffen.
Bei der Ursachenforschung bleibt der Senat etwas vage. „Die Kapazität der Pflegeeinrichtungen ist nicht statisch“, schreiben sie, es könne sein, dass Betten zeitweise aufgrund von Renovierungen oder Umstrukturierungen nicht belegt werden können. Der wichtigste Punkt dabei ist aber wohl der Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal: Den Heimen ist grundsätzlich eine Fachkraftquote von 50 Prozent vorgeschrieben. Wenn sie die nicht erfüllen können, dürfen sie einige Betten nicht belegen – langfristig werden solche Plätze dann ganz abgeschafft, um Kosten zu sparen.
Das schrumpfende Angebot stößt auf einen wachsenden Markt: Der demografische Wandel, die weiter fortschreitende Alterung der Gesellschaft, vollzieht sich in Hamburg zwar ein bisschen langsamer als anderswo, weil mehr junge Leute nachziehen. Aber auch hier wird 2030 jede*r dritte Einwohner*in über 65 Jahre alt sein.
Unbelegte Plätze – obwohl Zahl der Pflegebedürftigen steigt
Bei der Zahl der Pflegebedürftigen gab es in den letzten paar Jahren einen krassen Anstieg; das zeigt die alle zwei Jahre erscheinende Pflegestatistik Hamburg, die diesen April mit Daten bis ins Jahr 2023 herausgekommen ist. 2019, also kurz vor dem Referenzjahr für vorhandene Pflegeplätze 2020, waren 77.000 Menschen pflegebedürftig; 2023 waren es 96.000 (und damit mehr als doppelt so viele wie 2009). Während die Zahl der Heimplätze seit 2020 um rund 13 Prozent geschrumpft ist, ist die Zahl der Pflegebedürftigen also um 25 Prozent gewachsen.
Zugegeben: Den Hauptanstieg von Pflegebedürftigen gab es in den eher „leichten“ Pflegestufen 1 bis 3. Aber auch die schweren Fälle aus den Stufen 4 und 5, die noch häufiger in Heimen landen, haben zugenommen: Von rund 15.300 im Jahr 2019 auf 15.900. Eher eine dezente Zunahme also – mit einem Abbau an Plätzen geht auch sie allerdings nicht gut überein.
Trotz dieses klaren Missverhältnisses bleibt unklar, wie gravierend das Problem momentan überhaupt ist: Wie viele Menschen suchen einen Pflegeheimplatz, ohne einen zu finden? Nur 88 Prozent der vorhandenen Plätze in den Hamburger Heimen gelten als belegt, zwölf Prozent sind frei. Das scheint nicht zu passen zu einem Markt, bei dem der Bedarf größer ist als das Angebot.
Doch die Belegungsquote muss man anders lesen: Denn nicht alle „unbelegten“ Plätze sind auch Plätze, die tatsächlich zur Verfügung stehen: Auch hier kann ein Personalmangel die Ursache sein; die unbelegten Betten wären dann zumindest kurzfristig gesperrte Betten – und damit eigentlich noch eine Verschärfung des Problems.
Unbelegte Betten können zur Schließung führen
Das gilt umso mehr, da die Heime laut Malte Habscheidt, Sprecher der Diakonie Hamburg eigentlich mit einer Auslastung von 96 Prozent rechnen. Bleibt die Zahl dauerhaft darunter, wird es wirtschaftlich schwierig: Die nächste Schließung könnte drohen. Die Belegungsquote wird in Hamburg erst seit Kurzem erfasst und kann immer nur einen (zufälligen) Status quo zu einem Zeitpunkt beleuchten. Doch auch im Vorjahr lag die Quote bei 87 Prozent.
Wie viele Menschen auf einen Pflegeplatz warten, weiß die Behörde nicht. Auch sonst werden statistische Zahlen dazu nicht erhoben. Ein Blick in die Praxis kann aber zumindest einen Eindruck verschaffen: „Letztes Jahr haben die Mitarbeiter eines Pflegeheims einen Tag lang eine Strichliste geführt“, erzählt Habscheidt. Das Ergebnis: 80 Anrufe gab es an jenem Tag, von Menschen die einen Platz für sich oder ihre Angehörigen suchen; kein einziger dieser Wünsche konnte von der Einrichtung erfüllt werden.
Die Diakonie gehört zu den Anbietern, die im Verlaufe des letzten Jahres drei Einrichtungen geschlossen haben. Der Grund laut Sprecher Habscheidt auch hier: Weil nicht ausreichend Fachkräfte gefunden wurden und damit dauerhaft Stationen freistanden, lohnte sich der Betrieb nicht mehr. Das freigewordene Personal konnte in anderen Diakonieheimen Lücken stopfen und so wieder für mehr belegbare Betten sorgen, so bekam man auch viele Bewohner*innen noch in den eigenen Strukturen unter.
Eines der aufgegebenen Diakonieheime wurde von der Stadt für ein spezielles Pflegeprojekt übernommen; zwei werden umgewandelt, in eine Art Service-Wohnen. Dort bekommen die Menschen eine Art Mietvertrag – und können dann entscheiden, ob sie irgendwelche ambulanten Leistungen dazubuchen. Der Vorteil für die Betreiber: Eine Fachkräftequote gibt es dort nicht.
Heime haben weiterhin einen schlechten Ruf, Service-Wohnen kommt sicher näher an das heran, was viele Menschen sich für ihren Lebensabend vorstellen. Doch wer schwer pflegebedürftig ist, kann hier nicht betreut werden. Über 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden übrigens zu Hause gepflegt, meist von Angehörigen. Bis zu einem gewissen Grad geht das – unter Aufopferung. Für schwere Fälle aber heißt das laut Habscheidt: „Die führen da zu Hause eine Situation fort, die eigentlich nicht mehr gut ist.“
Für die Heime der Diakonie gibt es eine Warteliste, Menschen bleiben ein halbes bis ein ganzes Jahr darauf. Dabei ist ihre Zeit naturgemäß begrenzt. Seit 2019 ist die Verweildauer in Pflegeheimen um drei Monate zurückgegangen. Im Bundesdurchschnitt liegt sie laut Angaben des Caritasverbandes bei rund 25 Monaten, über 30 Prozent der Pflegebedürftigen sterben bereits im ersten Jahr in der Einrichtung.
Maßnahmen gegen die Personalnot
Man versucht einiges gegen die Misere zu unternehmen: In Hamburg setzt man auf einen Ausbildungsfonds für Pflegekräfte, der die Kosten der Ausbildung von Ausbildungsbetrieben weg auf alle Einrichtungen verteilt. Auch einen Studiengang Pflege gibt es vielerorts mittlerweile, auch in Hamburg – zwei Maßnahmen, die auf mehr Nachwuchs hoffen lassen.
Und: Im vergangenen Jahr hat die Stadt in Randzeiten eigenhändig die Fachkräftequote „flexibilisiert“ – in Heimen mit guter Pflegequalität kann künftig auch mit 40 statt 50 Prozent Fachkräften gearbeitet werden. Eine Lösung, die selbst Kritik anzieht.
Auf einem guten Weg sieht sich die Stadt auch durch die beschlossene Übernahme von „Pflegen und Wohnen“ zum Oktober hin, die Anfang des Jahres beschlossen wurde. „Pflegen und Wohnen“ ist der größte Pflegeanbieter in Hamburg; mit der Übernahme hofft man, die 2.338 Plätze dort dauerhaft zu erhalten. Der Bestandsschutz für die Immobilien endet 2026, theoretisch hätte Eigentümer Vonovia sie danach auch anderweitig vermieten oder verkaufen können.
Das Grundproblem aber bleibt: Auch die Stadt muss als Betreiberin Personal finden. Und das bleibt rar, auch wenn mittlerweile flächendeckend nach Tarif gezahlt wird.
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