Leben in Polen: Zwischen den Welten
Unsere Autorin wächst in einer deutsch-belarussischen Familie auf, gemeinsam leben sie in Polen. Wie sieht ein Leben geprägt von drei Kulturen aus?

Doch noch bevor ich weiterfragen kann, zischt der Mann: „Spricht denn niemand in Polen mehr Polnisch?“ Eine unangenehme Stille breitet sich im Waggon aus. Ich und meine Mutter tauschen einen Blick, halb belustigt, halb verunsichert aus und verstummen.
Wenn mich Leute fragen, wie es ist, zwischen drei Kulturen aufzuwachsen, ist diese Situation aus meiner Kindheit eine der ersten, an die ich zurückdenke. Schon früh merke ich, auch wenn ich akzentfrei Polnisch spreche, dass ich nicht ganz dazugehöre. Meine Mutter kommt aus Belarus und mein Vater aus Deutschland. Als ich vier Jahre alt war, zog meine Familie nach Warschau, Polens Hauptstadt. „Polen ist perfekt für uns“, scherzen mein kleiner Bruder und ich beim Abendessen: „Es liegt genau zwischen Mamas und Papas Land.“
Diese Vielfalt spüre ich, vor allem durch meinen Schulalltag an der Deutsch-Polnischen Begegnungsschule, der „Willy-Brandt-Schule“. Seit der 10. Klasse sind die deutschsprachigen und polnischsprachigen Klassen zusammengelegt. Das soll zur Integration beitragen: Der Unterricht findet ab jetzt für alle ausschließlich auf Deutsch statt.
Jeder bleibt bei seinen Leuten
In unserer neuen Klasse, die nun sowohl aus Polen als auch aus Deutschen besteht, verstehen wir uns ganz gut und unterstützen einander. Häufig rufen mir meine polnischen Klassenkameradinnen vom anderen Ende der Klasse während des Deutschunterrichts zu und fragen: „Wie kann man denn diese Redewendung auf Deutsch übersetzen?“
Trotzdem bilden sich in den Pausen noch oft Gruppen nach Nationalität. Die Polen sitzen zusammen und reden lieber auf Polnisch, die Deutschen unterhalten sich meistens untereinander. Ich lande oft automatisch bei den deutschen Kindern. Viele von ihnen sind durch den Job ihrer Eltern nur für ein paar Jahre in Polen. Mit der Zeit werden die Gruppen etwas durchmischter, aber bis heute sieht man noch oft: Auf der einen Seite des Klassenraums sitzen die Polen, auf der anderen die Deutschen.
Das stört aber eigentlich niemanden. Wir kommen mit allen klar, mit manchen eben besser als mit anderen. Klar, werden auch manchmal Witze über Deutsche und Polen gemacht, aber die bleiben harmlos. Durch das ständige Miteinander der beiden Kulturen ist die Stimmung an der Schule deutlich offener und respektvoller als etwa in polnischen Sportvereinen, wo ich wegen meiner deutschen und belarussischen Herkunft schon unangenehme Kommentare von Kindern in meinem Alter zu hören bekam.
Doch auch unter Erwachsenen kann es mal zu Spannungen kommen. Ich erinnere mich an einen Abend vor zwei Jahren, als wir bei den Freunden meiner Eltern, Kasia und Tomek, eingeladen waren. Wir saßen alle am Esstisch, vor uns ein einfaches, aber leckeres Abendessen aus gebackenem Hähnchen und Pellkartoffeln. Die Stimmung war entspannt, bis die Erwachsenen auf das Thema Politik kamen. Schnell kamen sie auf Reparationszahlungen zu sprechen.
Konflikte beim Abendessen
Ein Thema, welches von einigen polnischen Politikern vor allem im Wahlkampf immer wieder aufgegriffen wird. Tomek nutzt die Gelegenheit, um meinen Vater als Deutschen direkt zu fragen: „Findet ihr nicht auch, dass Deutschland endlich die Reparationszahlungen an Polen leisten sollte?“ Mein Vater legte sein Besteck zur Seite, sah kurz zu meiner Mutter und antwortet. „Ich persönlich halte das mittlerweile für etwas übertrieben. Deutschland hat zu Recht viel gezahlt, aber irgendwann sollte auch Schluss sein.“
Kasia und Tomek schauten sich überrascht an. Ihrer Meinung nach waren diese Forderungen alles andere als übertrieben. „Es ist doch richtig“, sagte Kasia, „und eigentlich selbstverständlich, dass Deutschland noch mehr leistet. Schließlich sind die Schäden bis heute spürbar.“ Es wurde still.
Meine Mutter versuchte zu beschwichtigen: „Vielleicht haben beide Seiten irgendwo recht …“ Doch niemand sagte mehr etwas dazu und während des Essens wechselten sie das Thema.
Manchmal kann es besser sein, ein Gespräch rechtzeitig zu beenden, bevor ein Streit entsteht, und solche Momente machen mir klar: Ganz dazuzugehören ist manchmal schwer, egal ob zu Hause oder in der Schule.
Aussetzer im Unterricht
So auch im Polnischunterricht. Dort bin ich die Einzige in dem „Polnisch als Muttersprachler“-Kurs ohne polnische Wurzeln, und trotzdem gehöre ich zur Gruppe, weil ich die Sprache inzwischen auf diesem Niveau beherrsche.
„Wie heißt noch mal ‚Rache‘ auf Polnisch?“, flüstere ich meiner Freundin zu, während wir zum Roman „Lalka“ von Bolesław Prus einen Aufsatz schreiben sollen, „ob Liebe eine zerstörerische oder heilende Kraft ist“.
Sie zuckt nur mit den Schultern, zu vertieft in ihren eigenen Text. Angestrengt überlege ich. Ich kenne das Wort, habe es schon hundert Mal benutzt, nur genau jetzt fällt es mir nicht ein.
Solche Aussetzer passieren mir ständig: beim Referat über den Expressionismus oder bei Diskussionen mit dem Lehrer. Ausgelacht werde ich so gut wie nie, aber ich selber fühle mich dann oft unsicher und mache mir Vorwürfe.
Die Sprache meiner Mutter
Ganz anders ist es nach der Schule. Wenn ich mit Freunden durch die Straßen Warschaus laufe, auf dem Weg zu unserem Lieblingscafé am Plac Zbawiciela, vergesse ich völlig, dass mein Alltag für andere vielleicht kompliziert wirkt. Wir reden lachend auf Deutsch, bestellen unseren Kaffee auf Polnisch, und während wir auf unsere Bestellungen warten, klingelt mein Handy.
Es ist meine Mutter, die mich fragt, wann ich nach Hause komme – natürlich auf Russisch. Als ich auflege, klingt ihre Stimme noch eine Weile in meinem Kopf nach. Für mich ist die Sprache meiner Mutter vertraut und warm – und doch gehört sie zu einer Welt, die ich kaum mehr betreten kann. 2016 waren wir das letzte Mal in der Heimat meiner Mutter, Belarus.
Schon damals war es nicht ganz einfach, dorthin zu fahren, obwohl Warschau und Minsk nur einige hundert Kilometer voneinander entfernt sind. Doch seit 2020 hat sich für uns vieles verändert. Die politische Lage im Land ist so angespannt, dass selbst unsere Verwandten uns nicht mehr besuchen kommen – aus Sorge, dass es für sie Konsequenzen haben könnte.
Als meine Cousine mich am Telefon fragt, ob ich nicht selber wieder mal nach Minsk kommen möchte, sage ich nur leise: „Vielleicht später … jetzt ist es besser, wenn ich hierbleibe.“ Danach herrscht eine lange, drückende Stille. Wir beide kennen den Grund, doch keine traut sich, ihn laut auszusprechen. Wenn meine Mama mit ihrer Familie spricht, geht es meistens um Alltägliches: den Garten, die Schule der Kinder, das Wetter.
Träume vom Ferienhaus am See
Politik vermeiden wir mittlerweile ganz, zu oft kam es schon zu hitzigen Streitgesprächen. Für mich ist es schwer zu ertragen, wie unterschiedlich wir die Dinge sehen. Ich möchte widersprechen, sie von meiner Meinung überzeugen, aber gleichzeitig nicht für Streit in der Familie sorgen. Manchmal träume ich davon, wieder an unser kleines Ferienhaus am See bei Minsk zu fahren. Morgens im eiskalten Wasser schwimmen und abends mit meiner Tante Kartoffelpuffer braten. Doch ich habe Angst – Angst, dass ich an der Grenze festgehalten werde oder nicht mehr zurück nach Polen darf.
Noch schlimmer ist das Gefühl, dass ich merke, wie ich oft einfach die Augen verschließe. Dass ich diese Situation, die nur ein paar Hundert Kilometer entfernt tobt, verdränge, weil ich mich so machtlos fühle. In solchen Momenten spüre ich, wie sehr die drei Sprachen, die ich spreche, auch drei verschiedene Welten sind. Russisch klingt nach Belarus, nach dem, was ich nicht mehr richtig erreichen kann; Polnisch nach hier, nach dem Alltag; und Deutsch nach etwas ganz anderem – nach meiner Zukunft.
Heute sitze ich wieder in der Warschauer Metro in Richtung Innenstadt. Diesmal neben meiner Freundin, und wir unterhalten uns auf Deutsch über unser vergangenes Schuljahr. Plötzlich wendet sich ein Mann mit einem missmutigen Gesichtsausdruck zu uns: „Ich höre, ihr sprecht Deutsch.“ „Ja, aber mit Ihnen reden wir gern auf Polnisch“, entgegne ich – diesmal selbstbewusst, auf Polnisch.
Der Mann schaut verlegen zur Seite und sagt nichts mehr. „Immer wenn wir in der Bahn Deutsch reden, passiert irgendwas Komisches“, sagt meine Freundin schmunzelnd. Ich muss lachen und gebe ihr recht. Ich weiß noch nicht, wo ich einmal leben werde. Vielleicht in Deutschland, vielleicht doch hier. Aber ich möchte in Deutschland studieren, um die Welt reisen, meine Sprachen nutzen – und vielleicht eines Tages selbst etwas verändern, statt nur zuzusehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Klage gegen Tierrechtler*innen
Das System der Einschüchterung
Rechtes Paradoxon
Warum AfD und Junge Freiheit plötzlich gegen eine Abschiebung sind
Jan van Aken
„Keine Solidarität mit Hungermördern“
Nach ihrer Kritik an Richterkandidatin
Wer bei anderen in der Dissertation gräbt…
Neonazis feiern Sonnenwende
Ein Feuer wie beim Führer
Unglück beim Bergsteigen
Olympiasiegerin Laura Dahlmeier ist tot