Blockade der Unions-Fraktion: Sie gefährden das Verfassungsgericht
Wenn nur noch farblose Kandidat:innen gewählt werden, wird das Bundesverfassungsgericht an Mumm verlieren. Als Korrektiv fällt es dann weitgehend aus.

Die Verfassungsrichterwahl, wie wir sie kennen, ist in Gefahr. Falls die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf Erfolg hat, können kaum noch markante Persönlichkeiten ans Bundesverfassungsgericht gewählt werden. Das Karlsruher Gericht wäre dann farblos-homogen – und kraftlos.
Zur Erinnerung: Die Verfassungsrichter:innen werden im Bundestag oder Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Beteiligung der Opposition an der Richterwahl sichert, dass das Bundesverfassungsgericht als überparteiliche Institution akzeptiert wird.
Die Zweidrittelmehrheit wird bisher dadurch erreicht, dass alle Fraktionen, die für das Quorum benötigt werden, Vorschlagsrechte entsprechend ihrer Stärke bekommen. Derzeit lautet die Formel 3:3:1:1. Das heißt, dass CDU/CSU und SPD je drei Verfassungsrichter:innen pro Senat vorschlagen können. Auch die Grünen und die mittlerweile aus dem Bundestag ausgeschiedene FDP haben je ein Vorschlagsrecht.
Pragmatische Praxis
In der Praxis machte eine Fraktion einen Vorschlag, der zu ihrer politischen Ausrichtung passt. Diese Vorschläge wurden von den anderen Fraktionen zwar geprüft, aber in aller Regel akzeptiert. Ein Veto wurde nur äußerst selten ausgesprochen.
Eigentlich haben auch alle Fraktionen ein gemeinsames Interesse an einem restriktiv verstandenen Vetorecht. Schließlich will jede Fraktion, dass die eigenen Vorschläge von den anderen Fraktionen ebenfalls in aller Regel akzeptiert werden. Es ging bisher also nicht um die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Das Verfahren sicherte vielmehr ein pluralistisch zusammengesetztes Bundesverfassungsgericht, dem auch markante Persönlichkeiten angehören können.
Überhaupt nicht verwunderlich ist deshalb, dass die Verantwortlichen der Unions-Fraktion (Fraktionschef Jens Spahn, CDU-Justiziar Ansgar Heveling und CSU-Justiziar Thomas Silberhorn) den SPD-Vorschlag Frauke Brosius-Gersdorf akzeptiert haben. Das war kein politischer Fehler, sondern entsprach der gängigen Praxis. Die Äußerung markanter verfassungsrechtlicher Positionen war bisher kein Grund, eine vorgeschlagene Kandidatin als Verfassungsrichterin abzulehnen.
Nur noch Unions-kompatible Positionen?
Es ist dagegen ein Bruch mit der gängigen Praxis, wenn mehr als 60 Unions-Abgeordnete Brosius-Gersdorf nicht mitwählen wollen (und so das Erreichen der Zweidrittelmehrheit verhindern), weil sie mit den profilierten wissenschaftlichen Positionen der Professorin, insbesondere zum Schwangerschaftsabbruch, nicht einverstanden sind. Wollen die Unions-Abgeordneten nur noch Personen wählen, die mit der Union kompatible Positionen vertreten? Inzwischen werden auch Bedenken gegen die zweite von der SPD vorgeschlagenen Kandidatin, die Rechtsprofessorin Ann-Katrin Kaufhold, geäußert.
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Wenn die Unions-Minderheit künftig alle Kandidat:innen blockiert, die auch nur in Teilen Positionen links von der CDU/CSU-Linie vertreten, wäre dies das Ende eines pluralistisch besetzten Bundesverfassungsgerichts. Denn natürlich würden es die anderen Fraktionen der Union gleichtun und ihrerseits ebenfalls keine Personen mit markanten Unionsnahen Positionen mehr wählen.
Alsbald könnten dann überhaupt keine Rechtsprofessor:innen mehr gewählt werden, weil sie alle schon in die eine oder andere Richtung prononcierte Positionen vertreten haben. Denn allgemein gilt: Wer nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lobt, macht selten rechtswissenschaftliche Karriere.
An eine Wahl von Ex-Politiker:innen, etwa die des aktuellen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth, der bis 2018 CDU/CSU-Fraktionsvize war, wäre gar nicht mehr zu denken. Und das, obwohl gerade die CDU als eine Partei gilt, die immer wieder profilierte Politiker nach Karlsruhe geschickt hat, die den Rollenwechsel zu unabhängigen Verfassungsrichtern hervorragend bewältigten, etwa Ernst Benda (zuvor Bundesinnenminister) oder Peter Müller (zuvor Ministerpräsident des Saarlands).
Das Korrektiv wird so geschwächt
Der kleinste gemeinsame Nenner wäre zukünftig die Wahl von Richter:innen, die bisher nur über Zivilrecht, Arbeitsrecht oder Steuerrecht entschieden und sich noch nie zum Verfassungsrecht geäußert hätten. Dass jedoch ein Bundesverfassungsgericht ohne Verfassungsexpert:innen selbstbewusst genug wäre, die Politik, wenn nötig, verfassungsrechtlich in die Schranken zu weisen, ist zu bezweifeln. Mit der aktuellen Blockade der CDU/CSU-Rebell:innen droht also eine Schwächung des Bundesverfassungsgerichts als Korrektiv und Schiedsrichter. Auch wenn das vermutlich nicht die Intention der Union ist, wäre es die Folge ihrer Kurzsichtigkeit.
Strengere Anforderungen gelten bisher zu Recht nur für Präsident:in und Vizepräsident:in, die das Bundesverfassungsgericht nach außen präsentieren. Hier sind tatsächlich eher mittige, integrierende Positionen gefragt. Daher haben sich auch die meisten der bisherigen Vetos bei Verfassungsrichterwahlen auf designierte Vizepräsident:innen (Herta Däubler-Gemlin, Horst Dreier, Günter Krings) bezogen.
Auch Frauke Brosius-Gersdorf sollte ursprünglich Vizepräsidentin (und später Präsidentin) des Bundesverfassungsgerichts werden. Darauf hat die SPD inzwischen zwar verzichtet, die Unions-Rebell:innen konnte das jedoch nicht mehr beeindrucken. Es zeigt sich, dass die Gegner:innen von Brosius-Gersdorf das bisherige Wahlsystem ganz generell nicht verstehen oder nicht akzeptieren.
Bereits die Grünen setzten den Ton
Jens Spahn ist also nicht vorzuwerfen, dass er den Widerstand gegen Brosius-Gersdorf nicht kommen sah, sondern, dass es ihm nicht gelungen ist, seinen Abgeordneten das bisherige Prinzip der Verfassungsrichter:innenwahlen zu verdeutlichen.
Aber auch die Grünen tragen eine Mitschuld an der aktuellen Misere. Sie haben Ende 2024 den CDU/CSU-Kandidaten Robert Seegmüller, einen sehr konservativen Bundesverwaltungsrichter, abgelehnt. Offiziell begründeten sie das nicht mit den politischen Positionen Seegmüllers, sondern mit dessen inkonsistenter Argumentation beim Vorstellungsgespräch.
Derartige Kleinlichkeit hatte bis dahin nicht für ein Veto gereicht. Vermutlich haben die Grünen damit den Ton gesetzt, der Unions-Abgeordnete nun glauben machte, sie könnten kurzerhand eine SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht ablehnen. Einfach deshalb, weil sie ihnen inhaltlich nicht passt.
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