Nach EU-China-Gipfel: Letzte Chance für Europa
Die neue Selbstsicherheit der EU gegenüber China ist positiv. Nötig sind nun konsequentere Entscheidungswege in der EU, um Blockaden zu verhindern.
F ünfzig Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen hat der Jubiläumsgipfel in Peking vergangenen Donnerstag vor allem eines gezeigt: Die sino-europäischen Beziehungen stecken in einer tiefen Krise. Bereits im Vorfeld zeugten symbolträchtige Gesten von Distanz und Entfremdung: Peking kürzte das ursprünglich zweitägige Treffen kurzerhand auf einen Tag, während Staats- und Parteichef Xi Jinping seine Teilnahme demonstrativ lange offenließ. Er kam dann doch.
So brachte der Gipfel auch keine Annäherung, sondern ließ bestehende Konflikte und Bruchlinien deutlicher denn je hervortreten: Politische Differenzen, eskalierende Handelsstreitigkeiten und Pekings Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine dominierten die Gespräche. China präsentiert sich Europa gegenüber nicht länger als Hoffnungsträger, sondern zunehmend als Rivale, der die regelbasierte internationale Ordnung herausfordert.
Damit markiert der Gipfel eine Zäsur: Europa steht nun dringlicher denn je vor der Aufgabe, seine Chinapolitik konsequent, souverän und realistisch neu auszurichten – frei von alarmistischen Feindbildern, aber entschlossen in der Verteidigung eigener Interessen und Werte.
Wie konnte es so weit kommen? Jahrzehntelang setzte Europa auf die Strategie „Wandel durch Handel“ – die Annahme, wirtschaftliche Integration werde langfristig auch politische Öffnung in Peking bewirken. Spätestens seit etwa 2015/16 zeichnete sich jedoch immer deutlicher ab, dass diese Hoffnung vor allem eine naive Illusion war. Politisch manifestierte sich diese Erkenntnis 2019, als die Europäische Kommission China erstmals explizit als „systemischen Rivalen“ einstufte.
Dieser Paradigmenwechsel war das Resultat einer Reihe von Enttäuschungen, die seither anhielten: der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong und der systematischen Unterdrückung der uigurischen Minderheit in Xinjiang, Pekings mangelnder Kooperationsbereitschaft bei der Aufklärung des Ursprungs der Coronapandemie sowie der demonstrativen Missachtung der regelbasierten internationalen Ordnung etwa durch Ablehnung internationaler Schiedssprüche zum Konflikt im Südchinesischen Meer. Diese Verdichtung von Menschenrechtsverletzungen, Völkerrechtsbrüchen und geopolitischen Muskelspielen ließ die „Partner“-Rhetorik Pekings aus Sicht europäischer Politiker zunehmend hohl wirken.
Doch Europas Ernüchterung hat nicht nur politische Ursachen: Europas enge wirtschaftliche Verflechtung mit China ist längst zur strategischen Achillesferse geworden. Obwohl China weiterhin Europas zweitwichtigster Handelspartner ist, erreichte das Handelsdefizit der EU mit China 2024 mit über 300 Milliarden Euro einen besorgniserregenden Höchststand – eine Schieflage, die keineswegs ausschließlich den Marktgesetzen, sondern vielmehr Pekings bewusster Abschottungspolitik und massiven Subventionen geschuldet ist.
Das geopolitische Dilemma Europas
Besonders drastisch zeigt sich Europas Verwundbarkeit bei seltenen Erden – jenen kritischen Rohstoffen, die für Zukunftsindustrien wie Elektromobilität, Digitalisierung und erneuerbare Energien unverzichtbar sind. Hier hält China de facto ein Monopol und nutzt dies zunehmend als strategisches Druckmittel. Als Peking im Frühjahr 2025 die Exportbeschränkungen noch verschärfte, standen europäische Produktionsketten am Rand des Stillstands – die politische Erpressbarkeit Europas wurde in aller Deutlichkeit sichtbar.
Die EU begegnet dieser Gefahr inzwischen mit der Strategie des „De-Risking“: Diversifizierung von Lieferketten, Aufbau eigener Kapazitäten, Partnerschaften mit alternativen Lieferländern – all das soll kritische Abhängigkeiten reduzieren, ohne in eine unrealistische Abkopplung („De-Coupling“) zu verfallen. Ziel ist es, „strategische Autonomie“ und Resilienz zu gewinnen und Europas wirtschaftliche Handlungsfähigkeit langfristig zu sichern – bei gleichzeitiger Offenheit für ökonomisch sinnvolle Kooperation. Diese Balance ist anspruchsvoll, aber alternativlos.
Erschwert wird Europas Lage zusätzlich durch ein geopolitisches Dilemma: Die sich verschärfende Rivalität zwischen den USA und China fordert die europäische Eigenständigkeit massiv heraus. Seit Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus Anfang 2025 wächst der Druck auf Europa spürbar: Washington fordert eine klare Positionierung gegenüber China und droht offen mit protektionistischen Maßnahmen. Peking wiederum reagiert äußerst sensibel auf jede europäische Annäherung an die USA – besonders bei Schlüsseltechnologien und Sicherheitsfragen wie Taiwan.
Dieser geopolitische Spagat fordert Europas strategische Autonomie massiv heraus. Die EU darf weder blind Washington folgen noch vor Pekings Drohungen einknicken. Sie muss unverhältnismäßige Forderungen der USA ebenso entschieden zurückweisen wie chinesische Versuche, einzelne Mitgliedstaaten wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Nur wenn Europa eigene Interessen und Werte souverän vertritt und sich weder vereinnahmen noch erpressen lässt, wird es als relevanter geopolitischer Akteur anerkannt.
Dabei steht Europa nicht allein außenpolitisch vor schwierigen Balanceakten: Die innergesellschaftliche Herausforderung, komplexe Spannungen nicht in simplen Feindbildern zu verflachen, ist ebenso drängend. Europa darf nicht zulassen, dass legitime Kritik an Pekings autoritärem Kurs in pauschale Ressentiments gegenüber China und seiner Bevölkerung mündet. Rassistische Topoi wie die „Gelbe Gefahr“ dürfen keine Renaissance erfahren.

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Gerade in geopolitisch angespannten Zeiten sind gesellschaftlicher Austausch und kulturelle Kooperation entscheidend: Städtepartnerschaften, wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie Studierenden- und Schüleraustausche bauen Brücken und verhindern, dass politische Gegensätze zu kultureller Entfremdung führen. Nur eine Haltung, die klare politische Distanz gegenüber Pekings Führung mit einer offenen, dialogbereiten und respektvollen Beziehung zur chinesischen Gesellschaft verbindet, sichert Europas Glaubwürdigkeit.
Doch die vielleicht größte Gefahr lauert nicht in äußeren Bedrohungen oder Feindbildern: Europas mangelnde Geschlossenheit könnte am Ende das größte Risiko für eine erfolgreiche Chinapolitik darstellen. Pekings Führung nutzt diese innere Zerrissenheit gezielt, indem sie einzelne Mitgliedstaaten durch lukrative Investitionen lockt und damit eine gemeinsame Linie untergräbt. Zugleich erschweren Differenzen zwischen zentralen Akteuren wie Deutschland und Frankreich – etwa beim Umgang mit Chinas Einfluss auf kritische Infrastruktur – die dringend nötige Geschlossenheit.
Weniger Abhängigkeiten
Maßnahmen wie das Anti Coercion Instrument [Mittel der EU zur Abwehr von wirtschaftlichem Zwang durch Drittstaaten; d. Red.] oder verschärfte Investitionsprüfungen entfalten ihre Wirkung nur, wenn sie solidarisch und konsequent von allen Mitgliedstaaten getragen werden. Mittelfristig braucht Europa daher eine Reform seiner Entscheidungsstrukturen etwa durch qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse in außenpolitischen Kernfragen, um nationale Blockaden künftig zu verhindern. Nur wenn Europa interne Differenzen überwindet und Geschlossenheit demonstriert, wird es von China als ernst zu nehmender Akteur respektiert.
Wie aber sollte Europas Chinapolitik künftig konkret aussehen? Geboten ist eine klar definierte, prinzipiengeleitete Realpolitik – kein Zickzackkurs zwischen moralischer Hybris und blinder Pragmatik, sondern eine souveräne Balance aus Interessen, Prinzipien und Realitätssinn.
Oberste Priorität sollte die gezielte Reduzierung kritischer Abhängigkeiten haben: Schlüsseltechnologien und Infrastruktur – von Halbleitern über Telekommunikation bis zu Energienetzen – dürfen nicht unter chinesische Kontrolle geraten. Europas Unternehmen müssen ihre Lieferketten diversifizieren, alternative Bezugsquellen erschließen und eigene Kapazitäten gezielt ausbauen.
Zugleich braucht es klare rote Linien gegen Pekings autoritären Kurs: Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, die Knebelung demokratischer Freiheiten in Hongkong oder Drohgebärden gegenüber Taiwan dürfen für Europa nicht hinnehmbar sein. Hier sind deutliche Worte und – wo nötig – gezielte politische oder wirtschaftliche Reaktionen gefordert.
Gleichzeitig bleibt Kooperation unverzichtbar. Die großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Pandemievorsorge, globale Finanzstabilität – sind ohne Zusammenarbeit mit China nicht zu lösen. Hier muss Europa mit klugem Pragmatismus den Dialog offen halten, technologische Partnerschaften pflegen und in multilateralen Foren konstruktiv agieren, wo Interessen sich überschneiden.
Der EU‑China‑Gipfel brachte keine Annäherung. Im Gegenteil, er geriet zum Gipfel klarer Kanten. Xi Jinping pochte auf Chinas „Kerninteressen“ und geißelte europäische Handelsrestriktionen; EU‑Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hielt Pekings Überkapazitäten in der Industrieproduktion und das weiterhin steigende Handelsdefizit dagegen. Eine förmliche Abschlusserklärung scheiterte folgerichtig – übrig blieb nur eine Pressemitteilung, in der beide Seiten ihr gemeinsames Bemühen im Kampf gegen den Klimawandel betonten: der kleinste gemeinsame Nenner angesichts aller übrigen Gegensätze.
Gleichwohl markiert das Treffen einen Wendepunkt. Erstmals fordert Brüssel öffentlich eine „Neugewichtung“ der Beziehungen und signalisiert das Ende vornehmer Zurückhaltung. Diese neue Selbstsicherheit hat Substanz. Abhängigkeit ist keine Einbahnstraße: China braucht Europas Absatzmarkt, um sein durch Überproduktion getriebenes Wirtschaftsmodell zu stützen. Dass Peking nun selbst über eine Drosselung der Überproduktion nachdenkt, zeugt weniger von guten Absichten als von nüchterner Sorge um die eigene Ökonomie. Genau hier liegt Europas Hebel – wenn es ihn entschlossen nutzt.
Einhegung von Sonderwegen
Ob das gelingt, entscheidet sich jetzt. Die viel beschworene De‑Risking‑Agenda muss vom Papier in Produktionshallen, Hafenterminals und Kabinette wandern – mit messbaren Etappen und klaren Zuständigkeiten. Diversifizierte Lieferketten, strategische Reserven, scharfe Investitionskontrollen – all das darf nicht länger als Prüfauftrag in Fußnoten des EU-Rats verharren. Ebenso notwendig ist eine Entscheidungskultur, die nationale Sonderwege einhegt: qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse in Wirtschafts‑ und Sicherheitsfragen, verbindliche Solidaritätsmechanismen bei wirtschaftlichem Zwang, eine konsequent angewandte Anti‑Coercion‑Verordnung und der Mut, Vetospielräume zu begrenzen, wo sie europäische Geschlossenheit blockieren.
Peking achtet nicht auf Erklärungen, sondern auf Ergebnisse. Kann Europa binnen Jahresfrist Fortschritte bei Rohstoffpartnerschaften, Halbleitern, Infrastrukturscreening und Sanktionsvollzug vorweisen und zugleich den gesellschaftlichen Austausch mit China vertiefen? Nur ein Europa, das diese Balance sichtbar meistert, wird als strategischer Akteur ernst genommen.
Die kommenden Monate sind daher mehr als eine Bewährungsprobe – sie sind Europas letzte Chance, vom reaktiven Beobachter zum gestaltenden Mitspieler aufzusteigen. Scheitert dieser Schritt, droht dem Kontinent die strategische Randlage zwischen Washington und Peking; gelingt er, gewinnt Europa die Glaubwürdigkeit, seine Werte zu verteidigen und seine wirtschaftlichen Interessen souverän zu sichern. Strategische Klarheit ist damit keine Option mehr, sondern Conditio sine qua non europäischer Zukunftsfähigkeit.
Stefan Messingschlager forscht als Historiker und Politikwissenschaftler an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg zur Geschichte und Gegenwart des sino-westlichen Verhältnisses.
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