Selenskyj unter Druck: Ein Vertrauensbruch, den er sich gerade nicht leisten kann
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat mit seinem Vorgehen gegen Korruptionsbekämpfung zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt Proteste provoziert.

D as Gesetz Nr. 12414 überschattet gerade alle anderen Probleme in der Ukraine. Wegen dieses neuen Gesetzes zieht es Tausende in der Ukraine auf die Straße – und das mitten im Krieg. Bislang war das undenkbar. Doch dass das Parlament am Dienstag in einem intransparenten Schnellverfahren das Gesetz verabschiedete, empfanden viele Ukrainer:innen als Affront. Spätestens, als Präsident Selenskyj es am Abend desselben Tages unterzeichnete und damit in Kraft setzte, während die Menschen zur gleichen Zeit vor seiner Nase demonstrierten, war die rote Linie überschritten. Damit provozierte Selenskyj einen nicht so schnell wiedergutzumachenden Vertrauensbruch.
Dem Gesetz zufolge sollen die bisher unabhängig agierenden Antikorruptionsbehörden – das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung (SAP) – dem politisch ernannten Generalstaatsanwalt unterstellt werden. Das wiederum bedeutet, dass der Präsident und sein Umfeld künftig unliebsame Nachforschungen gegen ihre Leute einfach unterbinden können. Die Vermutung liegt nahe, dass das mit den kürzlich erhobenen Korruptionsvorwürfen zusammenhängt, bei denen Personen im Visier sind, die dem Präsidialamt nahestehen, darunter der ehemaligen Vizeministerpräsident Olexij Tschernyschow.
Dieses undemokratische Vorgehen schneidet den Ukrainer:innen so tief ins Mark, dass sie trotz der Bedrohung von außen, trotz der ständigen nächtlichen Luftangriffe und des damit verbundenen Schlafmangels laut demonstrieren. Denn NABU und SAP haben sie erkämpft: vor rund zehn Jahren, als die Ukrainer:innen mit den Maidan-Protesten gegen die Autokratie unter Präsident Wiktor Janukowytsch vorgingen.
Die Abschaffung der Behörden bedeutet einen Rückschritt, der auch die von vielen in der Ukraine herbeigesehnte EU-Integration des Landes gefährdet. Die beiden Antikorruptionsbehörden waren in Kooperation mit westlichen Partnern entwickelt worden. Die EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos äußerte auf X ernsthafte Besorgnis und betonte, dass unabhängige Behörden wie NABU und SAP „essenziell für den EU-Weg der Ukraine“ seien.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
In Kyjiw und vielen anderen Städten des Landes demonstrieren seit Dienstag jeden Abend die Massen: junge Menschen, Linke und Rechte, Zivilist:innen und Soldat:innen, Veteran:innen, die für die Souveränität der Ukraine ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben und deshalb als Held:innen gelten. Die Botschaften auf ihren selbst gebastelten Kartonschildern sind unmissverständlich: „12414, fick dich“ und „Hanba!“ (Schande!), das schon bei den Maidan-Revolutionen verwendet wurde.
Beschwichtigung nach hinten los gegangen
Der ukrainische PEN veröffentlichte einen Appell, in dem er den Präsidenten und das Parlament auffordert, „die Risiken abzuwägen und die notwendigen Schritte zu unternehmen, um das Gesetz aufzuheben und damit der ukrainischen Gesellschaft und den europäischen Partnern die Treue zur europäischen Entscheidung der Ukraine zu bekräftigen“. Viele zivilgesellschaftliche Akteure wie das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Center for Civil Liberties und Transparency International Ukraine veröffentlichten eigene Stellungnahmen.
Dass Selenskyj nach den ersten Protesten zunächst beteuerte, die Antikorruptionsinfrastruktur werde weiterhin funktionieren, nur ohne russischen Einfluss, von dem es bereinigt werden müsse, schien die Menschen noch wütender zu machen. Denn diesen angeblichen russischen Einfluss konnte Selenskyj nicht belegen. Am Donnerstag folgte ein weiterer Beschwichtigungsversuch: ein neuer Gesetzentwurf zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der ukrainischen Antikorruptionsbehörden. Parallel dazu reichten 48 Abgeordnete verschiedener Parteien einen eigenen Gesetzentwurf zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der beiden Antikorruptionsbehörden zur Abstimmung ein. Doch das Parlament hat Sommerpause, es muss eine außerordentliche Sitzung einberufen werden.
Die Proteste halten an und zeigen deutlich, dass die Demokratie in der Ukraine mit ihrer aktiven Zivilgesellschaft selbst nach dreieinhalb zermürbenden Kriegsjahren funktioniert. Seit Beginn der Großinvasion herrschte eine stillschweigende Vereinbarung darüber, im Angesicht der existenziellen Bedrohung aus Russland über Fehler im Inneren hinwegzusehen. Damit ist es vorbei. Selenskyj, der bislang eine beliebte Führungsfigur war und das Land zuverlässig durch schwere Zeiten navigierte, sägt jetzt an dem Ast, auf dem er sitzt. Der droht jeden Moment abzubrechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutsche Israel-Politik
130 Diplomaten im Außenministerium fordern härteren Kurs
Frankreich zu Palästinenserstaat
Macron kündigt Anerkennung Palästinas im September an
Krieg im Gazastreifen
Keine Hilfe für die Verhungernden
Êzîdische Familie in Irak abgeschoben
Zurück ins Land des Verbrechens
IGH-Gutachten zum Klimaschutz
Haftbar für Schäden auf dem ganzen Planeten
Bettelverbot in Hamburgs S- und U-Bahnen
S-Bahn verhindert Grundrechtsentscheidung