Krankheit PCOS: Isabel will Blut sehen
Unter dem Polyzystischen Ovarialsyndrom leidet in etwa jede zehnte Frau – doch das Gesundheitssystem ignoriert dies. Die Betroffene Isabel Flieter berichtet.
D er Terminkalender von Isabel Flieter ist mal wieder voll: Sie geht zu einem Psychiater, einem Hausarzt, einer Hautärztin, einer Gynäkologin und einer Endokrinologin, also einer Fachärztin für Hormon- und Stoffwechselerkrankungen.
Seit Kurzem besucht Flieter eine psychosomatische Klinik in Düsseldorf, und eigentlich müsste sie noch zum Nephrologen, einem Nierenspezialisten, sowie regelmäßig zum Herzultraschall. Falls sie eine Diabetesdiagnose bekommt, und das ist wahrscheinlich, käme ein Diabetologe dazu. Zwei volle Tage pro Woche blockt sie für diese Termine, den Rest der Woche füllt sie mit Vorlesungen.
All diese Ärzt*innen sind Teil eines Systems, das ihre Krankheit im Blick behalten soll. Isabel Flieter hat das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS), eine der häufigsten hormonellen Erkrankungen bei Frauen im gebärfähigen Alter. Bis zu zwölf Prozent sind laut Deutschem Ärzteblatt weltweit betroffen.
Die meisten erfahren zwischen ihrem 20. und 30. Lebensjahr von ihrer Krankheit, viele andere bleiben ihr Leben lang im Ungewissen. Denn die Symptome des PCO-Syndroms sind von Person zu Person unterschiedlich. Oft werden sie deshalb nicht einem einheitlichen Krankheitsbild zugeordnet.
Als Flieter zwölf Jahre alt war, spürte sie zum ersten Mal, dass in ihrem Unterleib etwas nicht stimmte. An ihren Eierstöcken war eine Zyste geplatzt. Ihre damalige Gynäkologin hielt das für normal. Ihre erste Periode bekam Flieter mit 14 Jahren, allerdings war ihr Zyklus schon nach einem halben Jahr sehr unregelmäßig.„Als ich dann in die Oberstufe gekommen bin, wurde alles immer schwieriger“, erinnert sich die 25-Jährige. Innerhalb eines Jahres hat Flieter 20 Kilo zugenommen, trotz Sport und vieler Diäten.
Auch ihre Akne wurde schlimmer, und das in einer Zeit, in der sich die Haut ihrer Freundinnen längst von den hormonellen Umstellungen der Pubertät erholt hatte. Viele ihrer psychischen Probleme nahmen hier ihren Anfang. „Ich wurde stark gemobbt, mein Körper hat sich verändert, ich wusste nicht, was mit mir los war.“
Mehrmals hat Flieter ihre Gynäkologin damals nach Erklärungen für ihre Beschwerden gefragt. Doch die einzige Antwort, die sie bekam, war klein, rund und eingepackt in eine Blisterpackung: die Antibabypille.
Dass Flieter sich zu diesem Zeitpunkt bereits als lesbisch geoutet hatte, weshalb Mittel zur Schwangerschaftsverhütung für sie überflüssig waren, spielte keine Rolle. Denn die Pille wird aufgrund ihrer synthetischen Hormone häufig auch bei Hautproblemen und Zyklusstörungen verschrieben. Symptome, die für PCOS typisch sind.
Flieter musste früh lernen, sich selbst zu verteidigen, das merkt man ihr an. Den Schmerz, den sie erlebt hat, tarnt sie durch trockenen Humor, der manchmal ins Bittere kippt. „That’s so gay, I love it!“, steht auf einer Tafel im Flur ihrer WG im Düsseldorfer Osten. Flieter bezeichnet sich als queer. Zum Interview sitzt sie ganz in Schwarz in ihrem Zimmer, hinter ihr hängen Bilder von Taylor Swift, Katzen, Pride-Flaggen und handgeschriebene Buchzitate. Sie trägt schwarzen Nagellack, in ihren Haaren blitzen bunte Strähnen.

Aufgewachsen ist Isabel Flieter in Mettmann, einer Kleinstadt zwischen Wuppertal und Düsseldorf. 2018 hat sie dort Abitur gemacht. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr auf Usedom ist sie zum Studium nach Düsseldorf gezogen. An der Heinrich-Heine-Universität studiert sie bis heute Geschichte und Kunstgeschichte, „nicht besonders erfolgreich“, wie sie selbst sagt. Ihre Mutter, erzählt sie, war früher bei Hausbesetzungen in Bochum aktiv, ihr Vater ist Alt-Punk. Zu beiden habe sie bis heute ein enges Verhältnis, regelmäßig begleiten ihre Eltern sie zu Arztterminen.
Dass Flieter von ihrer Erkrankung weiß, hat sie sich selbst zu verdanken. Anfang 2021 stieß sie bei einer ihrer Recherchen auf einen Podcast, der über das PCO-Syndrom berichtete. Eigentlich habe sie sofort gewusst, dass das die Erklärung ist, sagt sie. Also verlangte sie von ihrer damaligen Gynäkologin, ihre Hormonwerte mittels eines Bluttests zu untersuchen. Knapp zehn Jahre nach den ersten Beschwerden im Unterleib erhielt sie schließlich ihre Diagnose.
Rotterdam-Kriterien
PCOS lässt sich anhand der Rotterdam-Kriterien diagnostizieren. Der Name geht auf ein Expertentreffen in der niederländischen Stadt zurück. Drei Symptome sind sehr typisch für PCOS. Erstens: Der Zyklus ist unregelmäßig oder nicht vorhanden. Zweitens: der Körper produziert überdurchschnittlich viele männliche Hormone, Androgene.
Betroffene leiden unter Akne, Haarausfall am Kopf oder starkem Haarwuchs an der Brust, dem Bauch oder dem Rücken. Drittens: An den Eierstöcken sammeln sich viele kleine, unreife Eibläschen an, im Ultraschall sehen sie aus wie Zysten, daher der Name „polyzystisch“. Wenn auf eine Person zwei dieser drei Merkmale zutreffen und andere Krankheiten mit ähnlichen Symptomen ausgeschlossen werden können, geht man davon aus, dass sie PCOS hat.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Begleiterscheinungen, die oft in Zusammenhang mit dem Syndrom auftreten: Angst- und Essstörungen, Depressionen, soziale Phobien, Insulinresistenz, Typ-2-Diabetes oder Fettleibigkeit, auch Adipositas genannt. PCOS wirkt im Körper ähnlich wie ein verschobenes Zahnrad in einem fein abgestimmten Uhrwerk. Gerät der Hormonhaushalt aus dem Takt, kann das nach und nach auch andere Bereiche aus dem Gleichgewicht bringen.
Mit welchen körperlichen und psychischen Beschwerden PCOS einhergehen kann, sollte eigentlich bekannt sein. Bereits seit 2018 gibt es eine internationale Leitlinie zur Diagnose und Behandlung der Erkrankung, die 2023 umfassend überarbeitet wurde. In der Theorie ist sie kostenlos und frei verfügbar. In der deutschen Praxis allerdings bleibt sie ein weitgehend unbenutztes Archiv.
Die Gründe dafür sind vielfältig und lassen sich nicht abschließend klären. Laut Expert*innen trägt die Sprachbarriere dazu bei, dass viele Fachkräfte ausschließlich mit deutschsprachigen Materialien arbeiten – und das in einer Zeit, in der Übersetzungsprogramme in anderen Bereichen bereits gut funktionieren.
Auch strukturelle Faktoren spielen eine Rolle: PCOS betrifft ausschließlich Menschen mit Eierstöcken, also überwiegend Frauen, was in der Medizin womöglich zu einer geringeren Priorisierung führt. Hinzu kommt die fachliche Komplexität des Syndroms, das mehrere Disziplinen wie Gynäkologie, Endokrinologie und Psychosomatik umfasst. In der ärztlichen Ausbildung wird PCOS bislang kaum behandelt.

Wie systematisch Frauen vom Gesundheitswesen benachteiligt werden, beweist der sogenannte Gender Health Gap. Herzinfarkte zum Beispiel verlaufen bei Frauen anders als bei Männern, werden jedoch bis heute vorrangig an männlichen Körpern erforscht. Auch werden Schmerzen von Frauen in ärztlichen Gesprächen häufiger relativiert oder psychologisiert, wie unter anderem die Studie „The girl who cried pain“ aufzeigt. Nur rund 2,5 Prozent des weltweiten Gesundheitsbudgets fließen in die Forschung zu frauenspezifischen Krankheiten.
Dabei bedeutet die Erkrankung an PCOS ein erhebliches medizinisches Risiko für Betroffene. Bleibt der Eisprung über längere Zeit aus – wie es bei PCOS häufig der Fall ist, da sich unreife Eibläschen im Eierstock ansammeln, ohne zu springen –, kommt es oft auch nicht zur Regelblutung.
Die Gebärmutterschleimhaut wird in solchen Fällen immer weiter aufgebaut, aber nicht regelmäßig abgestoßen. Auf Dauer kann das zu einer krankhaften Verdickung der Schleimhaut führen, im schlimmsten Fall sogar zu Gebärmutterschleimhautkrebs. Das Ziel muss daher sein, entweder einen regelmäßigen Eisprung zu erreichen, oder eine sogenannte Abbruchblutung durch Medikamente auszulösen.
Isabel Flieter blutet durchschnittlich zweimal im Jahr und das höchstens zwei Tage lang, trotz Medikamenten, die versprechen, eine Abbruchblutung einzulösen. „Wenn meine Brüste anfangen zu spannen, mein unterer Rücken schmerzt und da unten mal wieder nichts passiert, sitze ich wie ein Häufchen Elend auf der Toilette, weil ich kein Plan habe, was ich noch tun soll.“
Spricht Flieter über ihre Krankheit, wird sie oft sarkastisch. „Natürlich war ich nie dünn, aber so ein Platzbuttergesicht wie dieses hier?“, sie deutet mit beiden Händen auf ihre geröteten Wangen und grinst. „Das ist ja wirklich nicht normal.“ Eine große transparente Box steht auf ihrem Schreibtisch, sie ist bis obenhin mit Medikamenten vollgestopft. In Gedanken ist Flieter schon bei ihrer Endokrinologin, bei der sie heute ihren jährlichen Kontrolltermin hat.
In der Praxis
Welche Informationen für ihre Endokrinologin relevant sind, weiß Flieter genau. In ihrem Notizbuch hat sie deshalb sorgfältig dokumentiert, welche Medikamente sie im vergangenen Jahr wann eingenommen hat und welche Wirkungen und Nebenwirkungen diese hatten.
Was dort auch steht: Seit ihrem vorherigen Kontrolltermin hatte sie kein einziges Mal ihre Tage. Nur Mitte Februar entdeckte Flieter als Reaktion auf das Medikament Duphaston – ein künstliches Gelbkörperhormon, das eine Abbruchblutung auslösen soll – einige Tage lang rote Flecken in ihrer Unterhose. „Nicht wirklich erwähnenswert“, sagt sie.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Das ist natürlich nicht so schön zu hören“, antwortet Susanne Hahn ruhig, ohne von ihrem Blatt Papier aufzuschauen. Flieter sitzt ihrer Ärztin im Besprechungszimmer gegenüber. Die Wände sind weiß gestrichen, hinter Susanne Hahn steht ein Regal mit endokrinologischer Fachliteratur.
Kleine Schweißperlen glänzen auf Flieters Stirn, mehrmals reibt sie ihre feuchten Hände an ihrer Hose ab und spielt an ihren Ringen herum, während sie aufzählt, welche Medikamente sie im vergangenen Jahr eingenommen hat: Spironolacton, ein Nierenmedikament. Clavella und Berberin, Nahrungsergänzungsmittel, die unter anderem zur Minderung männlicher Hormone beitragen sollen. Metformin, das den Blutzuckerspiegel senkt und die Insulinresistenz bekämpft, unter der Isabel und viele andere PCOS-Betroffene leiden – ursprünglich wurde das Medikament für die Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelt.
Die deutschlandweit erste klinische Studie zur Wirksamkeit von Metformin bei PCOS führte Susanne Hahn bereits 2003 durch. In einer Untersuchung stellte sie fest, dass viele Frauen mit PCOS einen gestörten Zuckerstoffwechsel haben. Von 450 Proband*innen im Alter von durchschnittlich 27 Jahren waren 71 Prozent insulinresistent. Rund 74 Prozent der PCOS-Betroffenen gelten als übergewichtig.
„Wenn eine Frau mit PCOS zunimmt, verstärkt sich die gesamte Symptomatik“, erklärt Hahn, die heute eine Praxis für Endokrinologie in der Düsseldorfer Innenstadt leitet. Denn mit steigendem Körpergewicht sinkt die Konzentration des wichtigen Bindungsproteins SHGB, das Testosteron im Blut abfängt.
Empfohlener externer Inhalt
Ohne das SHGB bleibt mehr freies Testosteron im Körper, was zu Körperbehaarung, Akne und Zyklusstörungen führen kann. Gleichzeitig sei es für Betroffene besonders schwer, Gewicht zu verlieren. Sie benötigen deutlich mehr Bewegung als gesunde Personen, die Empfehlung liegt bei mehr als vier Stunden pro Woche.
Flieter hat seit ihrem vorherigen Kontrolltermin zehn Kilo abgenommen, statt 120 wiegt sie jetzt 110 Kilo. Dennoch zieht sie ein ernüchterndes Fazit: Die Medikamente konnten ihre Beschwerden bislang kaum lindern. Ihre Wassereinlagerungen seien unerträglich, morgens könne sie manchmal ihre Hände und Füße nicht mehr bewegen. Auch ihre psychischen Probleme belasten ihren Alltag.
„Wir müssen uns jetzt fragen, was wir noch an Optionen haben“, sagt Susanne Hahn. „An Medikamenten, die für PCOS empfohlen werden, haben wir schon alles ausgeschöpft.“ Flieter könnte sich eine Hormonspirale einsetzen lassen oder sich an einer Pille versuchen, die ein Gelbkörperhormon statt Östrogen enthält. Perspektivisch käme auch eine Ausschabung der Gebärmutterschleimhaut infrage.
Wird das oberflächliche Gewebe der Gebärmutterschleimhaut chirurgisch entfernt, spricht man in der Medizin von einer Ausschabung. Die Schleimhaut der Gebärmutter, auch Endometrium genannt, baut sich normalerweise im Rahmen des Menstruationszyklus regelmäßig neu auf.
Nach dem Eingriff beginnt die Regeneration der Schleimhaut meist innerhalb weniger Tage. Allerdings gilt die Methode als veraltet und birgt das Risiko von Verletzungen und Infektionen – daher wird die Ausschabung nur in seltenen Fällen empfohlen, etwa, wenn die Schleimhaut stark verdickt ist und eine Blutung über lange Zeit ausbleibt.
Hormonelle Verhütungsmittel will Isabel vermeiden, auch, weil sie die Pille in der Vergangenheit psychisch stark belastet habe. Susanne Hahn nickt verständnisvoll, später spricht sie von einer „gewissen Pillenmüdigkeit“ in Flieters Generation.
Hormonelle Verhütungsmittel können viele Symptome von PCOS in der Regel gut in den Griff bekommen, erklärt sie. Nach dem Absetzen jedoch kehren die Beschwerden meist zurück, da das hormonelle Ungleichgewicht nicht behoben wird.
Dass Isabels Zyklus unter der aktuellen Therapie ausbleibt, ist laut Hahn ungewöhnlich: „Wir sehen das nicht oft, dass die Kombination aus allen Medikamenten, die Sie nehmen, gar nicht funktioniert.“ In den meisten Fällen sorgen Metformin oder Mittel, die Myo-Inositol enthalten (wie Clavella, das Flieter nimmt), schnell für eine Besserung. Myo-Inositol ist eine Substanz, die Insulinresistenz mindern und den Fett- und Glukosestoffwechsel sowie den Hormonhaushalt positiv beeinflussen soll.
Ein solches Mittel hat auch Elisa F. geholfen. Sie möchte nicht, dass ihr voller Name in der Zeitung genannt wird. F. absolviert selbst ein Medizinstudium, sie möchte irgendwann als Ärztin arbeiten. „Deshalb will ich vermeiden, dass meine Patienten beim Googeln erfahren, dass ich PCOS habe“, erklärt die 25-Jährige am Telefon. Ihre Diagnose hat F. vor eineinhalb Jahren erhalten.
Wie lange sie schon erkrankt ist, wisse sie nicht. Erst als sie die Pille absetzte, traten plötzlich typische Symptome auf: unreine Haut, starker Haarausfall am Kopf, Haarwuchs im Gesicht. Das vergebliche Warten auf die Periode.
Weil sie in ihrem Studium schon von PCOS gehört hatte, hegte sie schnell Verdacht, der ebenso schnell bestätigt wurde. Im Ultraschall erkannte ihre Ärztin viele unreife Follikel an ihren Eierstöcken, auch ihr Testosteronspiegel im Blut war deutlich erhöht. „Wenn ich nicht Medizin studieren würde, hätte ich wahrscheinlich das gemacht, was meine Ärztin mir geraten hat: wieder die Pille nehmen. Aber ich habe mich nicht gut mit ihr gefühlt, deshalb habe ich abgelehnt.“
Die Sache mit dem Stinkefinger
Von Monat zu Monat ging es F. schlechter, ihre körperlichen Beschwerden verstärkten ihre psychischen. Ein roter, brennender Ausschlag legte sich über ihr ganzes Gesicht, in dieser Zeit habe sie sich stark isoliert. Besonders unangenehm sei ihr ein Moment auf dem Fahrrad, nachdem ihr ein Auto die Vorfahrt genommen hatte: „Ich bin so dermaßen sauer geworden, dass ich vom Fahrrad gesprungen bin, zu ihm hingegangen bin und ihm den Stinkefinger gezeigt habe. Eigentlich bin ich überhaupt nicht so. Danach habe ich gedacht: Oh Gott, irgendwas läuft gerade ganz schief mit mir.“
F. ist weder übergewichtig noch insulinresistent und gilt damit als eher ungewöhnliche PCOS-Patientin. In Rücksprache mit einer Endokrinologin begann sie schließlich eine Behandlung mit Nahrungsergänzungsmitteln, die den Wirkstoff Myo-Inositol enthalten.
Nach einigen Monaten kehrte ihre Periode zurück, inzwischen kommt sie etwa alle fünf Wochen. Auch die auffälligen Follikel an ihren Eierstöcken sind vollständig verschwunden. Während einer Reise durch Südostasien schreibt sie: „Es geht mir wirklich sehr, sehr gut.“
Belastend sei für Elisa nur noch ein Thema: ihr Kinderwunsch. „Als ich die Diagnose bekommen habe, war das ein richtiger Schlag in die Magengrube. Weil ich weiß, was alles dahintersteckt.“ Besonders bewegend sei ein Praktikum in einer Praxis gewesen, in der viele PCOS-Patientinnen behandelt wurden, die nicht schwanger werden konnten.
Wenn die Eizellen, die jeden Monat reifen sollen, in den Eibläschen verkümmern und es nur selten zu einem Eisprung kommt, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft bei den Betroffenen gering. Per se unfruchtbar sind Personen mit PCOS aber nicht.
„Wenn ich schwanger werden sollte, dann nur von einer Göttin“, sagt Isabel Flieter verschmitzt. Geschlechtsverkehr mit Männern hatte sie seit ihrer Jugend nicht mehr. Kinder seien für sie nie ein Thema gewesen. Umso mehr störe sie, dass der medizinische Blick auf PCOS sich häufig auf die gefährdete Fruchtbarkeit verenge. Das gehe an der Lebensrealität vieler Betroffener vorbei, findet sie.
Zu dieser Realität gehören auch die sozialen Auswirkungen der Erkrankung. Flieter schwitzt viel und heftig, selbst wenn sie sich gerade nicht bewegt. Schuld ist die Insulinresistenz. Oft erntet sie dafür angeekelte Blicke oder fiese Bemerkungen. Lange hat Flieter Fußball und Volleyball gespielt, inzwischen geht sie lieber schwimmen, weil man ihren Körper im Wasser weniger sieht.
Auch im medizinischen Alltag erlebt sie immer wieder diskriminierende Situationen: Ärzt*innen, die sich ungefragt Bemerkungen über ihr äußeres Erscheinungsbild erlauben und ihr empfehlen, bei Heißhungerattacken einfach Gurken statt Chips zu essen.
Solche Kommentare seien kein Einzelfall, berichtet auch Endokrinologin Susanne Hahn. Dass viele Betroffene sich aus Scham zurückziehen und nicht offen über ihre Beschwerden sprechen, sei eine nachvollziehbare Folge.
PCOS-Selbsthilfegruppe
„Ich hatte noch nie in meinem Leben das Gefühl, meinen Körper wirklich zu mögen“, erzählt Flieter. „Aber durch die Diagnose habe ich auch noch das Gefühl, er ist kaputt, er will nicht das tun, was er soll. Ich arbeite mental viel an dem Gedanken, dass das nicht bedeutet, dass ich kaputt bin.“ Seit Jahren ist Flieter in Therapie, auch wegen selbstverletzendem Verhalten. Sie besucht zudem eine PCOS-Selbsthilfegruppe.
Die gibt es überall in Deutschland, so auch seit 2022 in Berlin-Mitte. Sie ist heute Anlaufstelle für rund 40 Frauen im Alter von 20 bis 35 Jahren. Grundsätzlich ist die Gruppe für jeden Menschen offen, betont Gründerin Victoria Jahn, unabhängig von Geschlecht oder Sexualität. Wichtig ist nur eine PCOS-Diagnose.
Jahn erfüllt wie Flieter fast alle Kriterien für PCOS. Monatelang bekam sie ihre Periode nicht, nachdem sie 2020 nach sieben Jahren die Pille absetzte. Bis heute hat sie mit Übergewicht, Essstörungen, Insulinresistenz und einem unregelmäßigen Zyklus zu kämpfen.
In einer offenen Runde wird hier über Diagnosen, Medikamente und Ärzt*innen gesprochen: Wer behandelt in welchem Bezirk? Welche neuen Therapieformen gibt es? Welchen Arzt sollte man als übergewichtige Frau besser meiden? Darüber hinaus gehe es vor allem um seelischen Beistand. „Die Erfahrung, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein, ist für viele Betroffene das Wichtigste“, sagt Jahn. „Das war es für mich damals auch.“
Weil die Auswirkungen ihrer Krankheit gesellschaftlich stark stigmatisiert werden, geben sich viele PCOS-Betroffene selbst die Schuld an ihrer Erkrankung. Habe ich dicke Oberschenkel, weil ich zu wenig Sport gemacht habe? War ich als Kind zu gestresst, habe ich zu viel gegessen oder wurde mir das alles in die Wiege gelegt? Dass viele dieser Fragen offenbleiben, liegt auch daran, dass die Ursachen von PCOS bis heute nicht eindeutig geklärt sind.
Zwar ist inzwischen bekannt, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen müssen, denn Mütter und Zwillinge von Betroffenen sind häufig auch erkrankt. Allerdings konnte der Grund, also ein bestimmtes Gen, das für den Überschuss an männlichen Hormonen verantwortlich ist, noch immer nicht gefunden werden. Expert*innen vermuten, dass eine Vielzahl von Faktoren, unter anderem Umwelteinflüsse eine Rolle spielen.
Rund um mögliche Behandlungen hat sich unterdessen längst ein profitabler Markt entwickelt. Abnehmspritzen für rund 320 Euro bringen den Herstellern hohe Umsätze – dabei setzen die Präparate lediglich an den Symptomen an, indem sie das Hungergefühl dämpfen. Nach Absetzen der Medikamente kehrt das Körpergewicht meist auf das Ausgangsniveau zurück.
Günstige Substanzen wie Metformin hingegen bleiben wegen ihres geringen Preises wirtschaftlich unattraktiv. Weil sich mit einer Zulassung als PCOS-Medikament kein Gewinn erzielen lässt, verzichten Pharmahersteller auf nötige Studien. Betroffene müssen ihre Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel also aus eigener Tasche bezahlen. Erst wenn Begleiterkrankungen diagnostiziert werden, bewilligen viele Krankenkassen eine Kostenübernahme.
In Deutschland finden Betroffene Hilfe auf der Website des Dachverbands PCOS Selbsthilfe. 24 Selbsthilfegruppen im ganzen Bundesgebiet listet der Verein inzwischen. Regelmäßig werden Workshops zu Themen wie Ernährungsumstellung oder Body-Positivity angeboten.
www.pcos-selbsthilfe.org
Etwas mehr als 40 Euro gibt Flieter monatlich für Medikamente aus. Dazu kommen verschiedene Vitaminpräparate und Kapseln zum Aufbau ihrer Darmbakterien. Zweimal hat sie in den vergangenen sechs Monaten versucht, eine Brustverkleinerung zu beantragen, ohne Erfolg. Dabei können große Brüste zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen.
Vielen PCOS-Patientinnen fällt Sport dadurch deutlich schwerer. Auch psychische Beschwerden treten häufig auf. Kompressionsstrümpfe gegen ihre Wassereinlagerungen bekommt Flieter ebenfalls nicht mehr bezahlt. „Meine Krankenkasse und ich werden in diesem Leben keine Freunde mehr“, sagt sie.
Auf Anfrage teilte die AOK mit, dass PCOS zwar als behandlungswürdige Erkrankung anerkannt sei, viele gängige Behandlungsansätze jedoch unter die Kategorie der individuellen Gesundheitsleistungen fallen. Metformin etwa ist zur Behandlung von Diabetes Typ 2 zugelassen.
Bei PCOS handelt es sich um eine sogenannte Off-Label-Anwendung, für die nur im Einzelfall eine Kostenübernahme beantragt werden kann. Maßnahmen wie eine Brustverkleinerung könnten übernommen werden, wenn eine medizinische Notwendigkeit besteht.
Laut dem Wissenschaftlichen Institut der AOK erhielten im Jahr 2023 nur 0,29 Prozent der weiblichen AOK-Versicherten, die mindestens einen Tag im Jahr versichert waren, die Diagnose „Syndrom der polyzystischen Ovarien“. Hier werden allerdings nur Fälle erfasst, bei denen auch eine Behandlung stattgefunden hat.
„Wir gehen von einer Unterkodierung aus“, bestätigt ein Sprecher des AOK-Bundesverbandes. Denn häufig würden statt des Syndroms selbst nur einzelne Symptome oder Begleiterkrankungen wie übermäßiger Haarwuchs, Diabetes, Adipositas oder Sterilität dokumentiert. Verstärkt wird dieses Problem dadurch, dass in Deutschland bislang keine einheitlichen Diagnosekriterien gelten. Je nachdem, welche Kriterien angewendet werden, verändern sich auch die Angaben zur Häufigkeit.
Klarheit soll die erste deutsche PCOS-Leitlinie schaffen, deren Veröffentlichung noch im Sommer dieses Jahres erwartet wird. Der Entwurf ist bereits an die Fachgesellschaften verschickt. Expert*innen wie Susanne Hahn setzen allerdings nicht allzu große Hoffnung in sie.
Was das Lexikon für Frauenheilkunde sagt
„Ich glaube sogar, dass sie Betroffenen weniger bietet als die internationale Leitlinie“, sagt sie, denn Mittel wie Myo-Inositol sind in den neuen Empfehlungen nicht aufgeführt. Auch die Übernahme von Kosten für Metformin und andere Medikamente könne nicht erwartet werden.
Insgesamt werde das PCO-Syndrom in der Medizin „total stiefmütterlich behandelt“, so Hahn. Dabei gebe es inzwischen einige spannende Untersuchungen zu wirksamen Mitteln gegen die Erkrankung. Curcumin etwa, ein Inhaltsstoff aus Kurkuma, kann nach aktuellen Studien den Blutzuckerspiegel senken und einer Insulinresistenz entgegenwirken. Allerdings wurden die positiven Effekte mit sehr hohen Dosen erzielt, die im Alltag kaum dauerhaft eingenommen werden können.
Auch neue digitale Anwendungen wie die Paula-App wollen die Aufklärung und Versorgung von PCOS-Betroffenen verbessern. Entwickelt wird sie von einem Ärzt*innenteam um die promovierte Medizinerin Nadine Rohloff, die bereits eine App zur Begleitung von Endometriose-Patient*innen konzipiert hat.
„Die Krankheitsbilder Endometriose und PCOS sind sehr unterschiedlich, aber die Rahmenbedingungen sind ähnlich schlecht“, sagt sie. Bis zur Diagnose vergehe in beiden Fällen zu viel Zeit, zudem gebe es nur wenige Expert*innen, die fundierte Auskunft zu den Erkrankungen geben könnten.
Trotz weiterer Verbreitung erhält PCOS bislang weniger öffentliche Aufmerksamkeit als Endometriose. Ein Blick ins Bücherregal illustriert das Problem. In einem als „neues Standardwerk der Frauenheilkunde“ beworbenen Buch aus dem Jahr 2024 geht es auf fast 500 Seiten um Aspekte weiblicher Gesundheit – von Menstruation bis Menopause, von Lust bis Geburt. PCOS erhält darin ein kleines Unterkapitel à fünf Seiten. Über Endometriose und ihren Verlauf, ihre Diagnose, Erscheinungsformen und Therapien hingegen wird ausführlich aufgeklärt.
„Endometriose führt zu Entzündungen, die starke Schmerzen verursachen“, erklärt Susanne Hahn. „Da denken sich viele berechtigterweise: die arme Frau!“ Dass PCOS in der Regel keine körperlichen Schmerzen verursache, ändere allerdings nichts daran, dass viele Betroffene unter einem erheblichen Verlust an Lebensqualität leiden. Studien aus 2006 zeigen, dass der Leidensdruck ähnlich hoch ist wie bei chronischen Schmerzpatient*innen.
„PCOS ist eine komplexe Diagnose, die wahnsinnig viele Fragen aufwirft. Im klinischen Alltag ist für deren Klärung meist zu wenig Zeit“, sagt Nadine Rohloff. Die Paula-App soll Betroffene verlässlich und niedrigschwellig in ihrem Alltag begleiten, bietet medizinische Erklärungen und strukturierte Tagespläne. Ergänzt wird das Angebot durch Aufklärungsvideos zu gesunder Ernährung und Bewegungstipps – Maßnahmen, die in vielen Fällen zur Verringerung der Symptome beitragen.
In einer Studie wird aktuell die Wirksamkeit der App untersucht. Isabel Flieter nimmt als Mitglied der Kontrollgruppe teil. Langfristig soll die App als digitale Gesundheitsanwendung zugelassen werden und auf Rezept erhältlich sein. „Es ist noch viel zu tun“, sagt Rohloff mit Blick auf die Versorgungslage. Auch für andere hormonelle Beschwerden wie PMS oder die Wechseljahre arbeite ihr Team bereits an digitalen Angeboten.
Nach dem Termin bei ihrer Endokrinologin ist Flieter erschöpft. Solche Gespräche seien für sie oft belastend, erzählt sie später. „Ich weiß ja, dass medikamentös wenig bis gar nichts mehr zu machen ist, aber man hat ja dann doch immer diesen Hoffnungsschimmer, dass es noch ein Wunder gibt.“
Ein kleines Wunder gibt es drei Tage später dann tatsächlich: Eine leichte Blutung setzt ein, ohne dass Isabel zuvor ein Medikament zur Abbruchblutung eingenommen habe. „Es ist kein krasser Flow und ich hatte auch 20 Stunden Pause, wo nichts passiert ist, aber anscheinend hat irgendwas mal funktioniert“, schreibt sie. „Ich freu mich sehr.“
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