Wohnen und Bürgergeld: Zur Not dann auf den Campingplatz
Laut Bundeskanzler Merz zahlen die Jobcenter vielerorts zu hohe Wohnkosten. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus?

„So etwas kommt oft vor“, sagt Nana Steinke, Sozialrechtsanwältin in Laatzen bei Hannover, die von diesem Fall berichtet. Die Mutter musste wegen der Wohnungssuche ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin unterbrechen. Eine Weile hatte sie sich von Bekannten jeden Monat Geld geliehen, um die Miete zu bezahlen, doch das ließ sich nicht lange durchhalten.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) könnte sich über solche Fälle informieren lassen. Jeder achte Haushalt im Bürgergeldbezug bekam im Jahr 2023 nicht die tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung vom Jobcenter erstattet, ergab eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im August vergangenen Jahres. Im Schnitt fehlten diesen betroffenen Haushalten im Monat 103 Euro für die Miete, die sie zum Beispiel dann aus dem Regelsatz bezahlen mussten, der eigentlich für den Lebensunterhalt gedacht ist.
Doch Merz machte kürzlich im Sommerinterview in der ARD eine andere Rechnung auf. Zurückgelehnt, die Beine übergeschlagen, sprach er über Fälle, in denen das Jobcenter sehr hohe Mieten übernehme. „Sie haben in den Großstädten heute teilweise bis zu 20 Euro pro Quadratmeter, die Sie vom Sozialamt oder von der Bundesagentur bekommen für Miete, und wenn Sie das mal hochrechnen, dann sind das bei 100 Quadratmetern schon 2.000 Euro im Monat“, sagte der Bundeskanzler.
13 Milliarden Euro für Mietkosten
Im Haushalt 2025 werden 52 Milliarden Euro für die Grundsicherung für Arbeitsuchende veranschlagt. 13 Milliarden davon sind für die Kosten der Unterkunft und Heizung von Bürgergeldempfänger:innen vorgesehen. Genau da will Merz nun kürzen. Denkbar für ihn ist „eine Deckelung der Mietkosten“, eine Überprüfung der Wohnungsgröße oder Wohnkostenpauschalen für Bürgergeldempfänger:innen.
Doch die Sachlage ist vielschichtig. Die Mietzahlungen der Jobcenter richten sich nach Haushaltsgröße und nach Region. Die hohen Kosten ergeben sich durch die drohende Obdachlosigkeit in den Metropolen und nicht durch luxuriöses Wohnen. Laut der Statistik der Bundesagentur für Arbeit vom März 2025 zahlen die Jobcenter für eine alleinstehende Bürgergeldempfänger:in im Bundesdurchschnitt 475 Euro an monatlichen Unterkunftskosten, inklusive Betriebs- und Heizkosten.
Dieser Betrag liegt im Schnitt noch um 15 Euro unter den tatsächlichen monatlichen Kosten der Wohnung. Für manche Empfänger:innen bleibt also ein Rest aus dem Regelsatz zu zahlen. Für einen fünfköpfigen Haushalt übernimmt das Jobcenter im Bundesdurchschnitt 995 Euro an Unterkunftskosten. Mit diesen Zahlen lässt sich keine Hetze gegen Bürgergeldempfänger betreiben.
Anders sehen die Zahlen in den Metropolen aus. In der Stadt München beispielsweise weist die Statistik der Bundesagentur für März 2025 für einen fünfköpfigen Haushalt durchschnittliche vom Jobcenter bezahlte Unterkunftskosten von 1.364 Euro im Monat aus, inklusive Betriebskosten und Heizung. Die Mietobergrenze der Jobcenter für eine so große Familie liegt bei 1.900 Euro bruttokalt. Das ist ein Wert, der in Talkshows für Neiddebatten sorgen könnte.
Dabei werden in München grundsätzlich auch nur die Kosten übernommen, die als angemessen gelten, erklärt Frank Boos, Sprecher aus dem Sozialreferat München, gegenüber der taz. Doch der „angespannte Wohnungsmarkt und die hohen Mieten spiegeln sich natürlich auch hier wider“. Zu einem weiteren Anstieg bei Unterkunftskosten führe auch die 2023 eingeführte „Karenzzeit“.
Bürgergeldempfänger*innen bekommen im ersten Jahr des Hilfebezugs die Mietkosten in voller Höhe anerkannt. Die Idee dahinter ist, dass sich Betroffene zunächst auf die Arbeitssuche konzentrieren können und nicht Job, Wohnung und ihr vertrautes Umfeld gleichzeitig verlieren. Diese Regelung führe dazu, sagt Boos, dass Mieten übernommen werden „die jeden Mietspiegel und jede Mietobergrenze weit übersteigen“. Genau diese Regelung möchte Schwarz-Rot nun auch wieder ändern. „Dort, wo unverhältnismäßig hohe Kosten für die Unterkunft vorliegen, entfällt die Karenzzeit“, heißt es im Koalitionsvertrag.
Bezahlbarer Wohnraum fehlt
Doch der Kern des Problems – das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum – wird damit nicht berührt. Die Suche nach einer günstigeren Wohnung sei in München „häufig aussichtslos“ oder könne zumindest lange dauern, sagt Boos. Die Stadt München fordert deshalb schon seit Jahren von der Bundesregierung, das Mietrecht strenger zu regulieren, unter anderem durch eine Nachschärfung der Mietpreisbremse.
Pikant ist: Derzeit wird staatlich gar nicht überprüft, ob die von Vermieter:innen aufgerufenen Mieten für Bürgergeldempfänger:innen überhaupt gesetzlich legitim sind. Die Stadt habe keine Befugnisse, „in ein privatrechtliches Vertragsverhältnis einzugreifen“, erklärt Boos. Es existiere „kein Wohnungsaufsichtsgesetz, mit dem Missstände behördlich unterbunden werden könnten.“ Sprich: Im Fall von überteuerten Mieten müssten die Betroffenen selbst den Weg über die Zivilgerichte gehen.
Die Jobcenter und Sozialämter stellt die aktuelle Lage vor ein Dilemma: Denn die Alternative, Sozialleistungsempfänger:innen in die Obdachlosigkeit zu schicken und dann womöglich in Heimen unterbringen zu müssen, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern meist noch viel teurer.
Hetze in den Medien
Laut eines Infoblatts des Sozialreferats in München über die Unterbringung in Wohnungslosenheimen oder auch einer einschlägigen Gebührenordnung in Berlin werden pro Person und „Bettplatz“ für eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften im Monat um die 750 Euro oder mehr an Unterkunftskosten fällig. In einem fünfköpfigen Haushalt summiert sich das auf über 3.500 Euro im Monat an Unterkunftskosten.
Das ist Anlass für Hetze in den Medien, obwohl die Betroffenen nicht mal ein eigenes Zimmer haben. Manche privaten Heimbetreiber verlangen noch höhere Tagessätze von der öffentlichen Hand und machen dadurch mit der Wohnungsnot ein großes Geschäft.
Betroffenenverbände fordern nun, die Mietobergrenzen der Jobcenter zu erhöhen. Dies würde den Leistungsempfänger:innen Erleichterung verschaffen. Allerdings nutzen die Wohnungsunternehmen die Mietobergrenzen der Jobcenter auch aus, beklagt das Pestel-Institut in Hannover schon seit Längerem. 2024 stellte das Institut eine Studie vor, die sich genau mit den steigenden Staatsausgaben für Wohngeld und Kosten der Unterkunft befasste – und führte das auf den Mangel an Sozialwohnungen zurück.
„Der Staat ist erpressbar“, weil er überteuerte Mieten in Kauf nehmen müsse, erklärte der Leiter des Instituts, Matthias Günther, damals. Er plädiert deshalb für ein Sondervermögen für den Sozialen Wohnungsbau. Der deutsche Mieterbund geht davon aus, dass 11 Millionen Mieterhaushalte Anspruch auf eine Sozialwohnung haben – es existierten 2024 aber nur noch etwa 1,05 Millionen Sozialwohnungen.
Unregulierter Wohnungsmarkt
Die Jobcenter verschicken derweil zu Tausenden Kostensenkungsaufforderungen an ihre Klient:innen, wenn die Mieten die Obergrenzen übersteigen oder auch die einjährige Karenzzeit vorbei ist, in der das Jobcenter höhere Wohnkosten übernimmt.
Davon weiß auch Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei zu berichten, der Menschen im Bürgergeldbezug unterstützt. „Die Leute haben große Angst, ihre Wohnung zu verlieren“, sagt sie der taz. Oft werde ein Kostensenkungsverfahren eingeleitet, wenn sich die Wohnsituation von Menschen verändere. „Zum Beispiel wenn ein Kind auszieht oder wenn der Partner verstirbt.“
In der Folge gilt die bewohnte Wohnung dann nicht mehr als angemessen. Merz suggeriere, dass Bürgergeldempfänger:innen in Luxuswohnungen lebten, die sich eine Arbeiterfamilie nicht leisten könne, sagt Steinhaus. Der Kanzler befeuere damit „den Konkurrenzkampf zwischen Arm und Ärmer“. Dabei seien das eigentliche Problem geringe Löhne und ein unregulierter Wohnungsmarkt, „der vielen Unsicherheit und nur wenigen Profit bringt“.
Nur wenn Bürgergeldempfänger:innen umfangreich nachweisen, dass sie sich erfolglos in einem engen Wohnungsmarkt um eine Wohnalternative bemüht haben, darf ihnen das Jobcenter die Leistung für die Unterkunft nach der Karenzzeit nicht kürzen. Ein Urteil des Bundessozialgerichtes aus dem Jahre 2006 hatte bereits festgestellt, dass bei der Festlegung von „angemessenen Wohnkosten“ von den Behörden auch ermittelt werden müsse, ob in der Gegend überhaupt als Alternative günstige „Wohnungen mit einfachem Ausstattungsniveau konkret zur Verfügung stehen“ (Az B 7b AS 18/06 R).
Defizit aus dem Regelsatz zahlen
„Die Leistungsempfänger:innen müssen allerdings nachweisen, dass sie sich beständig und ausreichend um eine günstigere Wohnung kümmern, aber diese nicht finden“, sagt Moritz Duncker, Vorsitzender der Jobcenter-Personalräte, zur taz. Erst bei diesem umfangreichen und beständigen Nachweis zahlt das Jobcenter auch Unterkunftskosten, die über den Obergrenzen liegen. Wer sich den Stress nicht antun kann und will, zahlt das Defizit dann eben aus dem Regelsatz oder aus anderen Einkommensquellen.
Steinke hat eine Mandantin aus Dortmund mit einer Wohnung, deren Miete über der Angemessenheitsgrenze des Jobcenters liegt. Sie müsse eine „sehr, sehr lange Liste mit Wohnungssuchbemühungen nachweisen, steht bei allen Vermietern auf der Warteliste“, erzählt die Anwältin. Die Frau bekommt auch weiterhin ihre um etwa 220 Euro „zu teure“ Miete vom Jobcenter bezahlt. Allerdings: Einen Vollzeitjob kann die Frau nicht mehr suchen. „Sie ist mit Wohnungssuche und Teilzeitjob voll ausgelastet“ sagt Steinke.
Die Anwältin beobachtet auf dem Wohnungsmarkt für Sozialleistungsempfänger:innen inzwischen „Parallelstrukturen“ zum Mietmarkt, berichtet sie. Menschen bildeten Wohngemeinschaften oder suchten sich andere Alternativen. Eine Leistungsempfängerin aus Celle habe sich nach dem Kampf mit dem Jobcenter entschlossen, „in ein Wohnmobil auf dem Campingplatz zu ziehen“, schildert die Anwältin. Doch auch der Mietpreis für die luftige Unterbringung liegt nur 10 Euro unter der Obergrenze des Jobcenters.
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