Das palästinensische Flüchtlingsproblem: Ein zionistischer Masterplan steckte nicht dahinter
„Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ von Benny Morris liegt nun auf Deutsch vor. Er zeigt, dass die „Nakba“ viele Ursachen hatte.

Wer sich im vehement ausgefochtenen Stellvertreterkrieg parallel zu jenem, der zwischen Israel und der Hamas geführt wird, nicht hinter einem Bollwerk aus Unwissenheit und Ressentiments verstecken will, dem sei „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ von Benny Morris zur Lektüre empfohlen. Die Chancen, dass seine Darstellung in dieser Debatte gebührend gewürdigt werden wird, dürften allerdings gering sein. So bleibt nichts anderes übrig, als geduldig darauf hinzuweisen, dass die Kriege in Palästina eine Genese haben und es meist die arabischen Nachbarstaaten und die arabischen Führerfiguren im Land selbst waren, die Anlass und Grund für militärische Auseinandersetzungen waren und selten Kompromissbereitschaft erkennen ließen.
Seinen Klassiker von 1988, der nun in deutscher Erstübersetzung vorliegt, hat Morris vor der Übersetzung ins Deutsche einer gründlichen Überarbeitung unterzogen und neue Informationen aus inzwischen zugänglichen israelischen Militärarchivakten und nachrichtendienstlichen Unterlagen eingearbeitet, wenngleich sich nichts Wesentliches an seiner Einschätzung änderte.
Morris verteidigt keine Staatsräson. Er zählt in Israel zu den „Neuen Historikern“. Diese versuchten Mitte der 1980er Jahre – nach der Freigabe von Dokumenten in den israelischen Archiven (arabische Archive, so sie denn überhaupt existieren, sind bis heute unter Verschluss) – zu erforschen, wie es zur israelischen Staatsgründung 1948 kam und damit zur „Nakba“, der von den Palästinensern so genannten „Katastrophe“, also zur Flucht von circa 700.000 Palästinensern.
Denn Benny Morris hält den Begriff „Vertreibung“ für eine „unangemessene Bezeichnung“. Die Fluchtbewegungen zwischen November 1947 und Juni 1948 kamen seiner Einschätzung nach zustande, weil ein Großteil der Menschen „vor dem Krieg und seinen Grausamkeiten“ flüchtete.
Besiegelt wurde die Vertreibung per Dekret
Die Motive dieser Fluchtbewegungen sind umstritten. Ab Dezember 1947 ordneten arabische Offiziere die vollständige Evakuierung einzelner Dörfer an, um zu verhindern, „dass sich ihre Bewohner ‚verräterisch‘ der israelischen Herrschaft fügten oder den Einsatz arabischer Militäreinheiten behinderten“. Diese Evakuierungen hatten eine Demoralisierung zur Folge, aber dies ist nur eines der zahlreichen Narrative, die sich unvermeidlich aus der geografischen Vermischung der arabischen und jüdischen Bevölkerung ergaben.
Eine weitere Rolle spielte die vom Nachrichtendienst der paramilitärischen zionistischen Untergrundbewegung Hagana so bezeichnete „Fluchtpsychose“, als die Hagana in einigen Schlachten ihre Überlegenheit demonstrierte. Des Weiteren hatte es am Vorabend des Kriegs das Massaker in Deir Yassin gegeben, als die revisionistische jüdische Miliz Irgun, die damals auf eigene Rechnung kämpfte, in einer Vergeltungsaktion 110 Menschen ermordete.
Schließlich gab es noch den Plan D, der Anfang März 1948 aufgrund der Aussicht einer panarabischen Invasion eine „vollständige Räumung lebenswichtiger Gebiete“ vorsah, um die Störfeuer von „Freischärler-Banden“, die sich in strategisch wichtigen Dörfern verschanzt hatten, zu beenden.
Insofern ist der Anteil der Palästinenser, der vertrieben wurde, schwer zu beziffern. Morris’ Schätzung beläuft sich auf 10 bis 20 Prozent. Besiegelt wurde die Vertreibung der Araber per Dekret von der neuen israelischen Regierung, die im Juni 1948 den Geflüchteten die Rückkehr verwehrte. Ein zionistischer Masterplan, wie etwa Omri Boehm behauptet, steckte jedoch nachweislich nicht dahinter. Die Fluchtbewegungen hatten nichts mit den Bevölkerungstransfers gemein, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zugetragen und der späteren Bundesrepublik die Schlesier und die Sudetendeutschen beschert haben.
Die meisten Araber waren keine Anhänger des Nationalchauvinismus
Dass es zur „Nakba“ überhaupt kommen konnte, liegt auch an einem Mann, der entscheidend zum Erwachen der palästinensischen Nationalbewegung beigetragen hat. Amin al-Husseini, den die Briten zum Repräsentanten der Araber im Land gemacht hatten, führte schon 1936 bis 1939 den Arabischen Aufstand gegen die Briten an, mit dem Ziel, die zionistische Bewegung zu zerstören. Die meisten auf dem kargen Land eine Subsistenzwirtschaft betreibenden und in einem Clan oder einer Großfamilie lebenden Araber hatten ursprünglich keine Lust, für eine nationalchauvinistische Idee den Kopf hinzuhalten. Ihr Lebenszentrum war das Dorf, alles, was darüber hinausging, interessierte sie nicht sonderlich, was ein sympathischer Zug ist, weil ihnen das große nationalistische Ganze offensichtlich fremd war. Diese Haltung wirkte sich auch noch während des Krieges 1948 aus, denn der Antrieb, bei Gefahr einem Nachbardorf zu Hilfe zu kommen, war eher gering.
Amin al-Husseini versuchte das zu ändern, indem er krude Verschwörungstheorien und islamistischen Antisemitismus verbreitete. Nach der Niederschlagung des Aufstands lebte er von 1941 bis zum Ende des Kriegs in Deutschland, organisierte die NS-Propaganda im arabischen Raum und muslimische Verbände der Waffen-SS auf dem Balkan. Nach seiner Rückkehr ins Mandatsgebiet Palästina/Eretz Israel setzten ihn die Briten zunächst fest, ließen ihn aber wieder laufen, weil er dem Arabischen Hohen Komitee angehörte und die Mandatsmacht sich keinen Ärger einhandeln wollte. Er erhielt in Ägypten Asyl und schürte weiterhin den religiös motivierten Hass auf Israel. Damit hatte er Erfolg, wenngleich sich damit auch kein Krieg gewinnen ließ.
Ein Bevölkerungsaustausch war schon seit 1936 ein Thema, als die im Auftrag der Krone handelnde Peel-Kommission zur Beilegung des Streits diejenigen Araber, die auf dem für den jüdischen Staat vorgesehenen Gebiet lebten, umsiedeln wollte, und umgekehrt. Das sollte auf freiwilliger Basis erfolgen, die Betroffenen sollten eine finanzielle Kompensation erhalten, bevor als Ultima Ratio Zwang angewendet werden würde. Damit hoffte man, auf friedlichem Weg den jüdischen Staat zu etablieren.
Der Peel-Plan sah 18 Prozent für den jüdischen Staat vor
Von dem circa 10.000 Quadratmeilen großen Gebiet sollten laut Peel-Plan 18 Prozent dem jüdischen Staat zur Verfügung stehen, die zionistischen Führer David Ben-Gurion und Chaim Weizmann sprachen sich dafür aus. Die Araber lehnten den Plan wie alle späteren Schlichtungsversuche „entschieden ab“. Im Nachhinein muss man konzedieren, dass dieser Plan eine gute Idee war, um das absehbare Konfliktpotenzial zu mindern.
Die britische Position änderte sich jedoch aufgrund des Zweiten Weltkrieges, weil man die Araber nicht provozieren wollte. Der Konflikt schwelte weiter, und schon vor dem Unabhängigkeitskrieg 1948 fingen die arabischen Gesellschaften an, missbilligend auf ihre jüdischen Gemeinden zu blicken. 75.000 Juden lebten in Syrien, 130.000 im Irak, über 50.000 in Ägypten, mehrere Hunderttausend im Maghreb. Sie waren in die jeweiligen Gesellschaften integriert und standen der zionistischen Sache eher indifferent gegenüber, wenngleich sie mit einer Heimstätte für Juden sympathisierten. Zum Teil noch während des Zweiten Weltkriegs, vor allem aber nach 1948 fanden unter anderem im Irak, Syrien und Marokko Pogrome statt, Häuser wurden niedergebrannt, die Juden enteignet. Ungefähr 700.000 wurden in den 1950er und 1960er Jahren gezwungen, ihre arabischen Länder zu verlassen, häufig ohne Hab und Gut, das sie zurücklassen mussten. Wohlhabendere Juden wanderten meist nach Frankreich und England aus, der mittellose Rest wurde mit offenen Armen in Israel empfangen, weil das Land dringend Arbeitskräfte benötigte.
Von dieser jüdischen Fluchtbewegung ist heute seltener die Rede, vermutlich aufgrund der gelungenen Integration der Geflüchteten, während die Solidarität der arabischen Staaten mit den palästinensischen Flüchtlingen immer nur rhetorischer, nie praktischer Natur war. Zudem fand eine wundersame Vermehrung statt, denn heute sind aus den ehemals circa 700.000 Flüchtlingen von 1948 (die meisten davon Binnenflüchtlinge) durch die Vererbung des Flüchtlingsstatus nach Schätzung der Vereinten Nationen vier Millionen geworden.
Dem Problem der Flüchtlingsbewegungen wurde trotz seiner Bedeutung für den Konflikt lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Benny Morris’ Studie ist ein großer Wurf und sollte an den Schulen als Lehrstoff verwendet werden. Sein Buch ist ideologiefrei und auf historische Gründlichkeit bedacht. Wie sein im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenes Buch „1948“ über den ersten arabisch-israelischen Krieg unterscheidet sich auch dieses Werk von Morris wohltuend von Rashid Khalidis „Der hundertjährige Krieg um Palästina“. Khalidi lehrt an der Columbia University, kümmert sich aber in seinem Buch wenig um wissenschaftliche Standards. Er verklärt die Ereignisse nationalromantisch und schreibt eine „selektive Ereignisgeschichte“, in der sich ein „überkommenes historisches Selbstbild fortschreibt, in dem die palästinensische Politik seit Jahrzehnten gefangen ist“, wie die Süddeutsche Zeitung kritisierte.
Morris’ Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, auch wenn zu befürchten ist, dass die rege Aufmerksamkeit, die viele dem Krieg in Gaza widmen, für das 800-seitige Buch dann doch nicht ausreichen wird. Wer sich jedoch für den Konflikt interessiert und nicht für die Propaganda der Kriegsparteien, sollte diese großartige Erzählung nicht an sich vorüberziehen lassen.
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