Propaganda der Hamas: Die Grausamkeit der Geiselvideos
Hamas und PIJ veröffentlichten zwei neue Videos der israelischen Geiseln. Es ist Teil ihrer psychologischen Kriegsführung. Und die Strategie geht auf.

V or der Kamera steht ein ausgemergelter, gebrochener Mann, der weinend um sein Leben bettelt: Er sei „kurz vor dem Tod“, sagt Rom Braslavski auf Hebräisch, übersetzt mit arabischen Untertiteln. „Seit zwei Jahren leide ich.“ Seine Hände und Füße würden tagsüber gefesselt, er könne nicht mehr essen oder trinken, sondern müsse über seine Sonde ernährt werden, sagt die blasse, knochige Gestalt.
Das sechsminütige Propagandavideo, mit melancholischer Klaviermusik unterlegt, wurde am Donnerstag veröffentlicht von der Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Dschihad (englisch kurz PIJ), einer kleineren islamistischen Miliz, die ebenfalls an dem von der Hamas geführten Angriff auf Israel am 7. Oktober beteiligt war und Menschen nach Gaza verschleppte. Zu Beginn des Videos steht, es sei aufgenommen worden, bevor der PIJ den Kontakt zu der Zelle, die Braslavski gefangen halten soll, verloren habe. Verifizieren lässt sich das nicht.
Solche Videos sind Teil der psychologischen Kriegsführung von Hamas und Co. Sie verstoßen auch gegen das Völkerrecht. Human Rights Watch hat vorherige Geiselvideos beider Terrororganisationen als Kriegsverbrechen bezeichnet. Schon im November 2023 rief die Menschenrechtsorganisation die Hamas und den PIJ dazu auf, „noch inhaftierten Personen [zu] ermöglichen, über private Kanäle mit ihren Familien zu kommunizieren und Besuche von einer unparteiischen humanitären Organisation zu empfangen“. Passiert ist das bis heute nicht.
Vor 668 Tagen wurde Rom Braslavski vom Nova-Festival entführt, wo er im Sicherheitsdienst arbeitete, als palästinensische Terroristen die Psytranceveranstaltung in ein Blutbad verwandelten. Überlebende berichten, wie Braslavski viele Festivalbesucher rettete. Erst am Nachmittag, Stunden nach Beginn des Massakers in den frühen Morgenstunden, wurde er von PIJ-Kämpfern nach Gaza verschleppt. Braslavski, der auch deutscher Staatsbürger ist, ist inzwischen 21 Jahre alt, er verbrachte seine letzten zwei Geburtstage in Geiselhaft.
Am Freitag veröffentlichte die Hamas, die Gaza kontrolliert, ein weiteres Geiselvideo. Evyatar David, ebenfalls am 7. Oktober vom Nova-Festival entführt, sieht darin aus wie kaum mehr als ein Skelett. Im Video muss er sein eigenes Grab schaufeln. Er zeigt auf eine Art selbst gebastelten Kalender an der Wand des Tunnels, in dem er gefangen gehalten wird, worauf er seine knappe Ernährung – lediglich Linsen und Bohnen – dokumentiert. An einigen Tagen bekomme er nichts zu essen. Dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu sagt er: „Ich fühle mich im Stich gelassen.“
Stärke und Terror
Davids Familie vergleicht das Propagandavideo der Hamas mit Aufnahmen der Schoah. Es ist eine Assoziation, die die Terrororganisation bewusst wecken will, nur zu ihren eigenen zynischen Zwecken. Auf Telegram kursiert eine Bildmontage der Hamas mit der Überschrift „Holocaust 2025“: Braslavski und David sitzen neben ausgehungerten palästinensischen Kindern und Häftlingen der Lager der Nationalsozialisten. Im Hintergrund steht ein Konterfei von Netanjahu mit Hitlerbart.
Die schwer auszuhaltenden Aufnahmen der ausgehungerten Geiseln haben vor allem zwei Funktionen: Israelis zu terrorisieren und der arabischen Welt Stärke zu zeigen. Nicht zufällig erschien das Video des PIJ von Braslavski – anders als zahlreiche vorherige Geiselvideos – nur in hebräischer und arabischer Sprache.
Dabei sind diese Bilder eine bewusst provozierte Inszenierung: Hunger trifft die palästinensische Zivilbevölkerung hart, nicht aber die allermeisten Kämpfer der Terrororganisationen, die sich in Tunneln verschanzen, wo sie die Geiseln gefangen halten.
Die Propagandavideos sollen zudem Druck erzeugen, um einen Waffenstillstand möglichst im Sinne der beiden Terrororganisationen zu erlangen, die ihre Waffen nicht niederlegen wollen – egal, welchen Preis palästinensische Zivilisten in Gaza dafür zahlen. Denn die Hamas weiß nur zu gut, dass mit diesen Videos der Druck nicht auf sie wachsen wird, die restlichen Geiseln freizulassen, sondern alleine auf den jüdischen Staat, seinen brutalen Krieg in Gaza zu beenden.
50 israelische Geiseln befinden sich bis heute in Gaza, nur etwa 20 von ihnen sollen noch am Leben sein. Die Propagandavideos von Rom Braslavski und Evyatar David sind eine weitere traurige Erinnerung daran, dass sie fast zwei Jahre lang im Stich gelassen wurden: von der Netanjahu-Regierung, die die rein militärisch fast unmöglich erscheinende Zerschlagung der Hamas priorisiert hat; von der internationalen Gemeinschaft, die sich zu Recht über Fotos des Hungerns und der Zerstörung in Gaza bestürzt zeigt, aber die Geiseln allzu gern vergisst, weil sie mit dem Feinbild Israel, das alleiniges Übel in diesem Krieg sei, kollidiert; und von Deutschland, einem Land mit immer noch sieben Staatsbürgern in Geiselhaft in Gaza, deren Schicksale hierzulande kaum für Aufmerksamkeit sorgen.
Das muss sich ändern. Und zwar achshaw, wie israelische Demonstrierende bei ihren Protesten jeden Schabbat auf dem Geiselplatz in Tel Aviv skandieren – jetzt.
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