30 Jahre nach Chaos-Tagen in Hannover: Wie ginge Plündern heute?
Auch durch das Plündern von Supermärkten bildeten Hannovers Punks 1995 den Chaostage-Mythos aus. Heute wäre die Supermarkt-Plünderei keine gute Idee.

Moralisch: Nein, sorry. Das ist die erste Antwort. Kapitalismuskritik hilft, ganz klar, gegen die Einwände von Ethik und guter Erziehung, aber trotzdem: Wenn man zu lange und zu tief drüber nachdenkt, kann man sie nur schwer so ganz beseitigen. Das geht nur mit Bausch und Bogen.
Moralischen Bedenken? Ein Erbe des 20. Jahrhunderts
Der Kollege sagt dazu mutig: Die moralischen Bedenken, die seien eh ein Erbe des 20. Jahrhunderts. Gab es früher nicht! Denn siehe: Queen Victoria hatte ein Hündchen – die kleine Pekinesin wurde bei der Plünderung des Alten Sommerpalastes bei Peking 1860 erbeutet; Victoria benannte sie mit dem treffenden Namen Looty (loot = plündern). Keine Scham also, nur ein royales Augenzwinkern.
Na gut! Natürlich haben wir doch ein paar moralische Bedenken gegen diese Art der kolonialen Plünderung. Aber ist es nicht auch anders denkbar? Als praktische Umverteilung von oben nach unten? Als Selbstermächtigung? Weg vom Konsumenten, hin zum Menschen? Das ist natürlich Quatsch mit Pathos. Und das Schöne am Punk ist ja, dass er so etwas gar nicht unbedingt braucht.
Ganz praktisch: Es heißt manchmal, die DJ-Kultur in New Yorks Ghettos konnte erst nach dem Großen Stromausfall von 1977 durchstarten, bei dem die Stadt, die niemals schläft, eine ganze heiße Nacht lang dunkel war; unzählige Shops wurden geplündert. Am nächsten Tag hatten viele junge Menschen gute Mixer, Kopfhörer, Lautsprecher, Plattenspieler, mit denen eine neue Kulturtechnik an Fahrt aufnahm.
Penny-Überfall hat nicht den richtigen Effekt
Ein solcher Effekt lässt sich mit einem Überfall auf Penny selbstredend nicht erreichen. Unter den Non-Food-Angeboten dieser Woche finden sich Akku-Staubsauger, sogenannte Flachbodenwischer und WC-Sitze mit Palmenoptik. Produkte, deren Wirkung sich eher auf individueller Ebene abspielt.
Wer jetzt als Plünderziel die Amazonlager in Winsen (Luhe) empfiehlt, weil er (oder sie) sich von den Produkten dort mehr Auswirkung auf die nächste große kulturelle Entwicklung erhofft, der denkt viel zu utilitaristisch, zu zweckgebunden. Das Charmante am Punk, das, was die Bewegung lange nach ihren mehrfachen Toden über Generationsgrenzen hinweg interessant macht, das ist doch eigentlich ihr Nix-Wollen-Können-Müssen.
Nix wollen, na ja. No future, das sagt sich so. Aber irgendwie kommt die Zukunft doch und wird zur Gegenwart, und die Menschen, manche zumindest, kommen mit und machen doch noch Pläne, irgendwo arriviert anzukommen. Fragen Sie mal die Beteiligten von 1995 (die, die noch leben): Mutmaßlich ist man heute an vielen Stellen ganz froh darüber, dass damals nicht jede Bewegung im Supermarkt von Kameras verfolgt wurde. Eine Punker-Kartei? Ha! Lächerlich, wenn die Polizei Palantir haben kann oder eine andere Spitzel-Software.
Automatische Gesichtserkennung und ihre Folgen
Was also hilft im Hier und Heute gegen die automatische Gesichtserkennung und ihre Folgen im Morgen? Striche und geometrische Muster ins Gesicht malen, das sieht auf jeden Fall nach was aus und ist als moderne, punkige Ästhetik nur zu empfehlen. Aber ob's noch was bringt? Ein klares Jein. Der alte Tipp mit den Dreiecken ist schon seeehr 2010 – die KI lässt sich davon schon länger nicht mehr beeindrucken. Aktuell empfohlen wird Glitzer – aber „aktuell“, ach, das ist auch schon wieder 2020, und damit graue Vorzeit.
Vor drei Jahren haben Studis in den USA einen wilden Pullover herausgebracht, der nicht nur die KI, sondern sogar echte Menschen erfolgreich vom Gesicht darüber ablenken konnte. Aber der nächste Überwachungsschritt ist immer schon um die Ecke: Wenn Bewegungsmuster in den Fokus rücken und irgendwann Individuen identifzierbar machen, dann muss, wer nachhaltig unerkannt bleiben will, ein paar silly walks einüben.
Vertrauen jedenfalls kann man diesen Tipps nicht mehr – die Erfolgsquoten liegen je nach System bei zwischen 5 und 70 Prozent. Robustere Techniken bieten sich an: Kameralinsen ansprühen. Oder abmontieren. Oder ganz drauf scheißen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Schwarz-Rot in der Krise
Der Brosius-Gersdorf-Rückzug löst die Probleme nicht
Wahl zum Bundesverfassungsgericht
Brosius-Gersdorf zieht sich zurück
Nebeneffekte von Windkraftanlagen
Wenn Windräder sich die Böen klauen
Klassenkampf an der Imbissbude
Der Döner, 10 Euro und ein Trugschluss
Tierwohl im Agrarministerium
Kritik an neuer Tierschutzbeauftragten
Mitarbeiter von SPD-Mann abgewiesen
Antifa-Shirt im Bundestag unerwünscht