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10 Jahre „Wir schaffen das“Ein Social-Media-Aufruf – zack 1000 geschmierte Brote

Im für Flüchtlinge zuständigen Berliner Landesamt herrschte Chaos. Als Reaktion darauf entstand die Hilfsorganisation „Moabit hilft“. Ein Blick zurück – und nach vorn.

Nach dem Schlange stehen am 16.09.2015 vor dem Lageso, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin Foto: Christian Jungeblodt

Berlin taz | Als Angela Merkel am 31. August 2015 ihr heute legendäres „Wir schaffen das“ sagte, tobte wenige Kilometer vom Bundestag entfernt das Chaos. In der Turmstraße 21 im Stadtteil Moabit, wo das damals für Flüchtlinge zuständige Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) auf einem weitläufigen ehemaligen Krankenhausareal residierte, drängten sich seit Wochen jeden Tag und jede Nacht hunderte bis tausende Flüchtlinge.

Verzweifelt versuchten sie, sich registrieren zu lassen, um eine Unterkunft, Geld für Essen und medizinische Versorgung zu bekommen. Sie schliefen vor der Behörde, um am nächsten Tag vielleicht zu einem Sachbearbeiter vorzudringen – oder auch im Park davor, weil sie obdachlos waren. Das Amt war mit der seit Jahresanfang stetig steigenden Zahl von Geflüchteten völlig überfordert.

„Die Menschen standen stundenlang in der Warteschlange, teils bei sengender Hitze. Es gab kein Wasser, kein Essen, keine Krankenversorgung, niemand, der ihnen sagt, wie es weitergeht“, erinnert sich Diana Henniges, die Gründerin der Hilfsorganisation „Moabit hilft“.

Die Gruppe war 2013 gegründet worden, um die Bewohner eines neuen Flüchtlingsheims in Moabit zu unterstützen. Nun rief sie über Facebook dazu auf, Spenden zu bringen und in der Turmstraße helfen zu kommen. „Wir waren so geschockt, dass solches Chaos mitten in der Hauptstadt möglich ist – und niemand es bemerkt“, so Henniges.

Flüchtlingssommer 2015

Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.

Der Aufruf war ein Erfolg: Hunderte Menschen brachten Sachspenden oder Zeit mit, die Leute von Moabit hilft begannen, die Hilfe zu koordinieren. „Anfangs war es sehr chaotisch, später haben wir Catering mit täglich 2.000 warmen Essen ausgegeben“, erinnert sich Henniges. Nach viel Drängen bekam die Gruppe einen Platz auf dem Lageso-Gelände, erst Haus N, dann Haus D, später Haus R. Sie richtete eine Kleiderausgabe, sowie Hygiene- und Lebensmittelstationen ein, organisierte eine Erste-Hilfe-Station mit ehrenamtlichen Ärzten, Hebammen und Pflegern.

Andere Freiwillige wurden je nach Fähigkeit eingesetzt, als Sprachmittler, Tröster, Begleiter, Ratgeber. Wieder andere koordinierten die Hilfe mit anderen neu entstandenen Gruppen wie „Nachts am Lageso“, die private Unterkünfte für obdachlose Geflüchtete organisierte. „Sogar der Sozialsenator hat uns manchmal angerufen, wenn er jetzt sofort 200 Schlafplätze brauchte“, erinnert sich Henniges.

Eine Helferin und ein Geflüchteter im Sommer 2015 beim Berliner Lageso
Foto: dpa
taz Texte aus dem Jahr 2015 über den Flüchtlingsommer

Im Sommer waren die Geflüchteten Thema an vielen Stellen in der taz. Hier eine kleine Auswahl von Texten, die heute noch eindrucksvoll zu lesen sind.

Von Aleppo über Izmir nach Bad Langensalza

Die Flucht aus Syrien bis nach Deutschland dauert für die meisten mehrere Monate. Johannes Gernert und Charlotte Stiévenard haben im März 2015 für die taz den Weg von drei Flüchtenden nachgezeichnet.

Ein Tag bei den Geflüchteten am Lageso in BerlinIm August 2015 waren tausende Geflüchtete vor dem Lageso, dem für die Registrierung zuständigen Landesamt in Berlin gestrandet. Die Stadt bekam es nicht hin, sie zu versorgen. Ohne die Freiwilligen der Initiative „Moabit hilft“ lief nichts. taz-Redakteur Gereon Asmuth schrieb damals über einen Tag als Helfer, über den Kampf der Menschen ums Essen und darüber, wie Hel­fe­r:in­nen sich noch spät am Abend mit einem Flüchtlingstreck durch die Stadt auf den Weg zu einer Unterkunft machten.

Rassistische Ausschreitungen in Heidenau

Nicht überall im Land war die Stimmung pro Geflüchtete. In Heidenau gibt es tagelang Auschreitungen. Ende August 2015 war taz-Reporter Tobias Schulze vor Ort. Das war eine gruselige Erfahrung und beim Lesen der Zitate aus seinem Text schüttelt es ihn wieder. Neben all dem Rührenden, das in diesem Sommer passiert ist, war eben auch alles Schlechte schon angelegt. Hier sein Bericht „In Heidenau versagt das Bürgertum“.

Eine Woche bei den Flüchtenden am Bahnhof von Budapest

Anfang September strandeten Tausende Flüchtende am Bahnhof der ungarischen Hauptstadt, weil sie von dort nicht weitergelassen wurde. taz-Reporter Martin Kaul war eine Woche vor Ort und begleitete schließlich die Flüchtenden erst zu Fuß, dann mit dem ersten bereitgestellten Bus zur Grenze nach Österreich. Hier hat er seine sehr persönlichge Bilanz der Woche aufgeschrieben.

Illegale Helfer, die Flüchtende mit dem Auto nach Deutschland bringen

Auch Mitte September 2015 sind die Grenzen alles andere als offen. Aktivisten aus Deutschland machen sich immer wieder auf dem Weg, um mit ihren PKW Flüchtenden ins Land zu bringen. Martin Kaul hat aufgeschrieben, was sie bewegt.

Die Schriftstellerin Samar Yazbek über die Lage in Syrien

Wie war eigentlich die Lage in Syrien? Was hat die Menschen zur Flucht getrieben? Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek ging für ihr Buch „Die gestohlene Revolution“ in die Hochburgen des Widerstands gegen Assad. taz-Kulturredakteur Andreas Fanizadeh hat sie im Oktober 2015 interviewt.

Rafik Schami zur Situation in Syrien

Ein weiteres Interview mit dem Schriftsteller Rafik Schami über das Morden in seinem Land und die Chancen der Opposition, zeigt, wie drückend die Lage im Land schon lange vor 2015 war. Es stammt aus dem Jahr 2011.

Medien aus der ganzen Welt berichteten über das „Lageso-Chaos“ und Moabit hilft, auch die New York Times schaute in der Turmstraße vorbei. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit gelangte noch mehr Hilfe nach Moabit, auch der Tourbus von Herbert Grönemeyer half zwischenzeitlich beim Shutteln von Geflüchteten zwischen Turmstraße und Turnhallen, die zu Notunterkünften umgewidmet wurden.

Diana Henninges (l.) hat mit anderen die Initiative Moabit hilft ins Leben gerufen, hier bei einer Demo in Berlin im Oktober 2015 Foto: Miguel Lopes

Am 7. September 2015 kam auch Hussein Al Nasir Alshiekh aus Syrien in Moabit an. Heute ist er 30 Jahre alt und eingebürgert, hat in Berlin studiert und arbeitet als Sozialarbeiter in einer Schule im Bezirk Lichtenberg. An damals erinnert er sich so: „Es war spätabends, aber vor dem Lageso war es so voll, als wäre Tag. Viele Menschen schliefen auf dem Bürgersteig oder wollten schlafen. Ich ging zu einem Mann mit Weste, der meinte: ‚Herzlich willkommen, du musst hier rein, wenn du es schaffst.‘“

„Die Willkommenskultur hat gut funktioniert“

Zwei Monate hat es gedauert, bis Al Nasir Alshiekh registriert wurde. „Ich war fast die ganze Zeit auf dem Gelände, oft auch nachts“, sagt er. In der Zeit des Wartens hat er die Freiwilligen von Moabt hilft kennengelernt. „Die Willkommenskultur hat gut funktioniert, es gab sehr viele Helfer“, erinnert er sich.

Irgendwann hat er angefangen, mitzumachen, wenn er das ewige Schlangestehen mal wieder satthatte. „Ich wollte mir die Zeit vertreiben und auch was Sinnvolles machen.“ Er hat Wasser verteilt, andere Hilfsbedürftige angesprochen und sich ihrer angenommen. „Dieses Prinzip von Moabit hilft finde ich bis heute gut: Den Leuten zuhören, was sie brauchen und das anzupacken. Und jeder kann mithelfen mit dem, was er oder sie kann.“

Die „Lageso-Krise“ mit dem Ausnahmezustand in der Turmstraße dauerte ungefähr ein Jahr. Am 1. August 2016 wurde eine neue Behörde gegründet: Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) bekam mehr Mitarbeiter und neue Räume außerhalb der Turmstraße. Die Notunterkünfte in Turnhallen wurden im Laufe des Jahres 2017 wieder geschlossen.

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Der Verein Moabit hilft wurde durch die Krise zu einer Instanz: Politiker sind bis heute genervt von der „Meckerliese“, die behördliches Versagen immer wieder ins grelle Licht der Öffentlichkeit zerrt. Zugleich brauchen sie den Verein, der die Folgen des Systemversagens ausputzt, in dem er Betroffenen zu ihren Rechten verhilft – und somit auch schlicht Armut lindert.

Auch bei Geflüchteten ist Moabit hilft seither bekannt wie ein bunter Hund. Zumal dort viele ehemalige Klienten wie Al Nasir Alshiekh weiter ehrenamtlich mitarbeiten. Obwohl der Deutsch-Syrer einen Fulltime-Job und wenig Zeit hat, kommt er immer wieder vorbei, übersetzt, begleitet Menschen zu Ämtern – was eben so anfällt. Ihm gefällt der Zusammenhalt, das Freundschaftliche innerhalb der Gruppe. „Wir sind wie eine Familie“, sagt er, „aber sehr durchmischt in den Nationen. Das reflektiert auch ein bisschen Berlin.“

Seine Arbeit hat der Verein im Laufe der Jahre professionalisiert. Neben den etwa zwei Dutzend ehemaligen Geflüchteten, die neue Geflüchtete betreuen, gibt es heute neun Berater für Sozial- und Asylrecht, die von Verein eine kleine Aufwandsentschädigung bekommen. „Wir haben viele Fortbildungen gemacht, vor allem in Sozial- und Asylrecht. Viele von uns kennen die Rechtslage heute besser als die Mitarbeiter vom LAF oder anderen Behörden“, so Henniges.

Das bewährte sich bei der nächsten großen Krise, dem Ukraine-Krieg seit 2022. Wieder versagten die Behörden, wieder rockten Hunderte Bürger mit Organisationen wie Moabit hilft, Schöneberg hilft oder der neu gegründeten Berlin Arrival Support einen Großteil der Erstversorgung und Unterbringung der Geflüchteten.

Immerhin: Die Politik – inzwischen regierte in Berlin Rot-Grün-Rot – hatte dazu gelernt und versuchte zumindest stellenweise, die Vereine einzubeziehen, indem sie etwa in Krisenstäbe und „Steuerungsrunden“ eingeladen wurden.

„Wir wurden nie auf Augenhöhe behandelt“

Genutzt habe das nicht viel, bilanziert Henniges, denn das praktische Wissen der Helfer sei bei Entscheidungen selten berücksichtigt worden. „Das zieht sich durch die 10 Jahre: Wir als Zivilgesellschaft wurden nie auf Augenhöhe behandelt, immer nur als Helfer in der Not benutzt.“

Dabei haben Ehrenamtliche gegenüber staatlichen Stellen einen entscheidenden Vorteil, der sich vor allem in Krisen-Zeiten auszahlt: Bürger sind schneller. Ein Social-Media-Aufruf – zack: 500 Wasserflaschen, 1.000 selbst geschmierte Butterbrote und 200 Übernachtungsplätze sind zur Stelle. „Wir sind die kurze Rutsche zum Elend“, sagt Henniges dazu.

Behördlicherseits habe sich seit 2015 nicht so viel geändert, findet sie – außer dem Namen der zuständigen Stelle. In der Tat: Auch das LAF hat personelle Engpässe, viele überlaste Mitarbeiter – und vor allem zu wenig reguläre Heimplätze und zu viele Notunterkünfte. In den Heimen fehlen Sozialarbeiter, es fehlen Unterkünfte für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, es fehlen Schulplätze – vieles davon wurde wieder abgebaut, als die Flüchtlingszahlen ab 2017 rückläufig waren.

Nur ist das Elend anders als 2015 nicht mehr so leicht sichtbar (zum Lageso konnte jeder gehen), sondern gut versteckt hinter dem Stacheldraht von Tegel. Auf dem Ex-Flughafen steht seit 2022 Deutschlands größte, teuerste und vermutlich schlechteste Flüchtlingsunterkunft. „Die Menschen werden dort zwischengeparkt und warten oft über Monate auf Leistungen, ihre Krankenkassenkarte, einen Heimplatz oder einen Termin bei der Einwanderungsbehörde“, beschreibt Henniges die Lage.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und so lange die Behörden es nicht auf die Reihe kriegen, haben die Leute von Moabit hilft gut zu tun. Allerdings gibt es keinen Ort mehr: Haus R auf dem Lageso-Gelände ist seit Mitte Juni Geschichte. Der Mietvertrag war seit Jahren ausgelaufen, die landeseigene Berliner Immobilien Management GmbH (BIM) wollte den Verein erst gar nicht mehr, machte dann ein zu schlechtes Angebot, das die Mehrheit der Vereinsmitglieder nicht annehmen wollte. Termine für Beratungen werden jetzt telefonisch oder online unter moabit-hilft.com/kontakt/online vergeben.

Al Nasir Alshiekh findet das schade, für ihn war Haus R wichtig, weil hier Helfer und Hilfsbedürftige schnell zusammenfanden und jeder willkommen war. „In Berlin gibt es viel Elend, die Stadt braucht so einen Ort.“

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