Gaza-Tagebuch: Was eine fünfköpfige Familie an einem Tag isst
Unser Autor leidet wie die meisten Menschen in Gaza an Hunger. Er berichtet, wie man noch an Essen kommt. Und wie viel er dafür bezahlen muss.

I ch habe Hunger. Jedes Mal, wenn ich aufstehe, wird mir schwindelig. Ich halte es nicht mehr aus. Die Hungersnot im Gazastreifen hat ein gefährliches Ausmaß erreicht. Und niemand tut etwas für uns. Was für ein Verbrechen haben die Palästinenser begangen, dass sie vor den Augen der Welt getötet werden?
Kinder sterben vor Hunger. Bis jetzt sind 72 Menschen an den Folgen der Hungersnot gestorben, die Israel im Gazastreifen verursacht hat. Wenn ich meinen Brustkorb abtaste, kann ich jeden Knochen spüren. So viel Gewicht habe ich verloren. Ständig habe ich Schmerzen in der Brust.
Trotz allem, was wir derzeit durchmachen, versuche ich, etwas für meine Gemeinschaft zu tun: Ich arbeite mit einer Gruppe von Kindern daran, Geschichten zu erzählen. Der neunjährige Ali sagt mir, er könne nicht an der Sitzung teilnehmen. Als ich ihn nach dem Grund frage, antwortete er: „Ich habe Hunger. Ich möchte in die Gemeinschaftsküche gehen, um etwas zu essen zu bekommen.“ Diese Küchen sind Orte, an denen Menschen kostenlose Mahlzeiten erhalten. Oft werden sie von internationalen Organisationen betrieben – aber es gibt nur wenige davon. Sie versorgen nicht alle und müssen immer wieder wegen Lebensmittelknappheit schließen.
Ein paar Minuten später sagt mir der siebenjährige Mohammad, dass ihm schwindelig sei, weil er noch nicht gefrühstückt habe. Ich sitze mit ihm auf dem Boden. Und als ich aufstehe, wird auch mir schwindelig – auch ich habe nicht gefrühstückt.
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Es gibt drei Quellen für Nahrungsmittel in Gaza
Derzeit ist der einzige Weg, an Essen zu kommen, es zu kaufen. Lebensmittel in Gaza stammen aus drei Quellen: Die erste Quelle sind die sogenannten Verteilungszentren der Gaza Humanitarian Foundation, die mit Israel eingerichtet wurden. Die Menschen gehen dorthin und riskieren ihr Leben, um Lebensmittel zu bekommen. Selbst die Armee gibt zu, auf die Menschen zu schießen. Ich meine: Sie geben absichtlich nur sehr kleine Mengen an Lebensmitteln ab, um Chaos und Gewalt unter der Bevölkerung zu schüren. Diejenigen, die den Gang zu den Zentren überleben und etwas ergattern, verkaufen oft einen Teil davon auf dem Markt. Zu Preisen, die sich keiner leisten kann – auch ich nicht.
Die zweite Quelle sind Lastwägen mit Hilfsgütern, die nach Gaza einfahren. Nur wenige schaffen es bis zu ihrem Ziel. Und was verteilt wird, erreichte nur einige wenige Auserwählte – für mich ein Beweis für die Korruption unter den Verantwortlichen für die Verwaltung und Verteilung der Hilfsgüter.
Die dritte Quelle sind kommerzielle Lieferungen. Durch Vereinbarungen zwischen Händlern und den Besatzungsmächten dürfen sie in den Gazastreifen passieren. Dafür werden hohe Summen gezahlt. Aber auch die Preise für diese Waren sind so hoch, dass wir sie uns nicht leisten können. Vor zwei Tagen startete eine Gruppe junger Menschen eine Kampagne: Sie gingen auf die Straße und skandierten Parolen gegen die Händler, die israelische Besatzung und alle, die uns allen das Recht auf Nahrung verwehren. Infolgedessen blieben alle Märkte zwei Tage lang geschlossen – wir fanden in dieser Zeit nichts zu essen. Die Kampagne war vergeblich.
Vor Kurzem gelang es mir, ein Kilogramm Mehl für 27 US-Dollar zu bekommen. Außerdem habe ich fünf Tomaten, sieben grüne Paprikaschoten und ein Kilo Molokhia (auf Deutsch: Mußkraut) für 44 US-Dollar bekommen. Beim Kochen schnurrt es wie Spinat zusammen. Aus dem Mehl backen wir zehn kleine arabische Brote. Das ist alles, was wir als fünfköpfige Familie an diesem Tag essen.
Esam Hani Hajjaj (28) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.
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