Ukrainisches Korruptionsgesetz: Odessa protestiert gegen Selenskyj
Die ukrainische Regierung verabschiedet ein Gesetz, das zwei Antikorruptionsbehörden die Unabhängigkeit nimmt. Demonstrierende sehen Machtmissbrauch.

„Besonders wütend macht mich“, so ein jugendlicher Teilnehmer der Aktion zur taz, „dass hier gegen Institutionen vorgegangen wird, weil sie angeblich Kontakte zu Russland haben.“ Das suggeriere ja, dass die Demonstranten, die sich für diese Institutionen einsetzen, russlandfreundlich seien.
Aufmerksam liest sich ein Mann die Plakate durch. Doch mitmachen bei der Aktion will er nicht. „Letztlich sind die Demonstranten Leute, die die Macht von Selenskyj infrage stellen“, glaubt Sergi, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. „Die stehen den amerikanischen Demokraten nahe.“
Institutionen mithilfe von EU und USA gegründet
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
Nicht nur in Odessa, auch landesweit waren Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die geplante Entmachtung der beiden Institutionen zur Bekämpfung der Korruption zu protestieren. Allein in Kyjiw protestierten 1.500 Menschen. Unter ihnen auch die beiden ehemaligen Box-Weltmeister Wladimir und Vitali Klitschko, Letzterer ist seit 2014 Bürgermeister von Kyjiw. Auch in Lwiw mischte sich Bürgermeister Andrij Sadowyj unter die Protestierenden.
Die betroffenen Institutionen Nabu und SAP waren 2015 auf Druck der Zivilgesellschaft und internationaler Partner wie der EU und den USA zur systematischen Bekämpfung der Korruption gegründet worden. Seit Anfang der Woche ist es mit ihrer Unabhängigkeit vorbei. Landesweit durchsuchte der ukrainische Geheimdienst am Montag über 70 Wohnungen bei mindestens 15 Mitarbeitern des Nabu und verhaftete den ranghohen Nabu-Ermittler Ruslan Magamedrasulow. Dieser soll dem Vorwurf zufolge dem russischen Geheimdienst FSB zugearbeitet haben. Gegen andere Nabu-Mitarbeiter wurden auf einmal alte Verkehrsunfälle neu aufgerollt. Ein „Maulwurf“ bei der Nabu soll 60-mal Informationen an den FSB weitergegeben haben. Auch gegen den SAP wird wegen ähnlicher Vorwürfe ermittelt.
Die Proteste zeigten keine Wirkung: Noch am Dienstag passierte das Gesetz Nummer 12414 das Parlament. Noch am selben Abend unterzeichnete Präsident Selenskyj das umstrittene Gesetz, das diese beiden Institutionen nun dem Generalstaatsanwalt unterstellt. Da dieser vom Präsidenten ernannt wird, sind nun auch Nabu und SAP dem Präsidenten untergeordnet.
Auch Vertraute von Selenskyj waren Ziel von Ermittlungen
In seiner abendlichen Video-Ansprache versuchte Selenskyj Kritik abzuwiegeln. Er habe sich bereits zu einem Gespräch mit den Chefs von Nabu und SAP getroffen. Die Institutionen gegen die Korruptionsbekämpfung werden weiterarbeiten, versicherte er, „aber ohne russischen Einfluss“.
Kritiker sehen in dem Vorgehen den Versuch, Ermittlungen der Institutionen zur Bekämpfung von Korruption gegen das Umfeld des Präsidenten im Keim zu ersticken. Nabu und SAP hatten gegen Ex-Minister Olexi Tschernyschow und Timur Minditsch von Selenskyjs früherer Spaßtruppe „Kwartal 95“ ermittelt – und damit gegen zwei Personen aus dem engen Umfeld des Präsidenten. Diese sollen ihn zu bewogen haben, Nabu und SAP zu entmachten, meint der Abgeordnete Yaroslav Yurchyshyn von der Holos-Fraktion gegenüber der New Times. Nach der Anklage der Nabu gegen Ex-Minister Oleksij Tschernyschow soll es zwischen Nabu-Chef Semen Krywonos und einem Vertreter des Präsidialamts eine „unangenehme Unterredung“ gegeben haben, so die New Times.
„Die Unterschrift des Präsidenten unter dieses Gesetz untergräbt das Vertrauen der westlichen Partner und gefährdet die Integration der Ukraine in die EU“, kritisiert der Kolumnist Sergi Fursa auf dem Portal der New Times. Es erfreue korrupte Zeitgenossen und lasse im Kreml die Sektkorken knallen.
Enttäuscht über dieses Gesetz ist auch Mustafa Nayyem. Nayyem war eine Schlüsselfigur bei den Protesten der Maidan-Bewegung 2014. Nun, so fürchtet Nayyem, können Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss zur Normalität werden. Das neue Gesetz sei ein Rückschritt im EU-Beitrittsprozess. Doch solange junge Menschen wie in diesen Tagen auf die Straße gehen, solange einige Abgeordnete nicht bereit sind, mit der Mehrheit zu stimmen, sei noch nicht alles verloren, so Nayyem.
Mittelfristig könnten die Proteste auch Selenskyjs weitere politische Position gefährden, mutmaßt das Portal strana.news. Das wäre dann der Fall, wenn sich die Proteste auch auf andere Themen ausweiten und der Westen zu den Vorgängen nicht schweigen wird.
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