5 Jahre Revolution in Belarus: Das System Lukaschenko hat sich überlebt
Diktator Alexander Lukaschenko unterdrückt sein Volk. Doch seit den Protesten bei der Wahl 2020 entwickelt sich eine widerständige Zivilgesellschaft.
G roße Veränderungen beginnen im Kleinen. Am 9. August 2020 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt, von denen niemand etwas erwartet hatte. Doch es kam anders: Die Wiederwahl des ewigen Alexander Lukaschenko bei einer wie eh und je undemokratischen Wahl führte zu beispiellosen Protesten: Hunderttausende gingen an vielen Tagen gegen die in ihren Augen stattgefundene Wahlfälschung auf die Straße. Doch auch die massenhaften Proteste konnten den Diktator nicht stürzen, Lukaschenko und sein Regime hingegen reagierten mit Repressionen beispiellosen Ausmaßes: Es marschierten bewaffnete Soldaten auf, die Polizei setzte Blendgranaten ein, es gab rund 6.700 Festnahmen, einen Toten und zahlreiche Verletzte, Inhaftierte berichteten von Folter. Webseiten, Messengerdienste, VPN-Server waren nicht mehr erreichbar, Straßenlaternen wurden abgeschaltet. Seitdem sind fünf Jahre vergangen und es ist höchste Zeit zu verstehen, was damals – und vor allem danach – passierte.
Im Zentrum der Proteste stand die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Ihr Programm: faire Wahlen, Freiheit für politische Gefangene, Ende der Gewalt. Anschließend positionierte sie sich trotz ihres „offiziellen“ Wahlergebnisses von nur knapp 10 Prozent als „Übergangspräsidentin“ und versprach, ihr Amt aufzugeben, sobald echte Wahlen mit echten Präsidentschaftskandidaten stattfinden würden. Tichanowskaja wurde zur Lokomotive der Proteststimmung, ihr gelang, was 27 Jahre lang niemand aus der Opposition geschafft hatte: Sie vereinigte die Menschen. Lukaschenko selbst trug zu Tichanowskajas Prominenz bei, indem er eine Reihe schwerer Fehler machte. Er leugnete das Coronavirus und hatte offenbar nicht mitbekommen, dass die Gesellschaft im 21. Jahrhundert mit Internet lebte, es war unmöglich, etwas zu verbergen.
Sein zweiter Fehler war das gewaltsame Vorgehen gegen die Proteste vor den Wahlen. Zum ersten Mal erhob sich die belarussische Gesellschaft, alle kamen, um abzustimmen. Lukaschenko fälschte seinen Sieg mit beispielloser Dreistigkeit und schrieb sich ein Ergebnis von über 80 Prozent zu.
Sein dritter Fehler war das Abschalten des Internets. Das führte dazu, dass sich alle, selbst Rentner*innen in Kleinstädten, einen VPN-Tunnel installierten. Belarus*innen verstehen sich selbst als tolerant und duldsam, aber drei Tage nach den Wahlen und beispielloser Grausamkeit hatte die Geduld ein Ende und es entwickelte sich eine klassische revolutionäre Situation nach den Grundsätzen Lenins: Die Gesellschaft war ihrer Staatsmacht entwachsen und wollte nicht mehr leben wie bisher. Zuvor schien in Belarus ein unausgesprochener Konsens zu herrschen: Die Gesellschaft lebt ihr eigenes Leben, die Regierung ebenfalls. Solange die Regierung sich nicht einmischt, ist die Gesellschaft mit allem zufrieden, sogar mit Lukaschenko. Doch dann?
Die Gesellschaft mobilisierte und organisierte sich selbst. Die Behörden reagierten auf die Proteste mit den üblichen Methoden: Sie wiesen Tichanowskaja aus Belarus aus, nahmen andere Politiker*innen fest. Aber das war gar nicht mehr so wichtig, der Protest brauchte keine Anführerin mehr. 2020 bezeichneten friedliche Demonstrant*innen die Ereignisse im Land als eine Evolution, ein nationales Erwachen, heute spricht die Mehrheit von einer Revolution – und das Regime von einem „Versuch einer Farbrevolution“.

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Womit haben wir es zu tun? Mit einer Revolution der Menschenwürde ganz sicher. Sie begann damit, dass Tausende von Belaruss*innen erkannten, wie grausam der Staat sein kann. Sie haben aus eigener Erfahrung gelernt: Wenn du dich nicht für Politik interessierst, wird sich die Politik früher oder später für dich interessieren. Die Menschen waren schockiert über die Gewalt, ihre Emotionen waren am Limit. Doch inmitten dieser Gewalt wurde das ethische Fundament der belarussischen Gesellschaft geboren, das auf der völligen Ablehnung von Gewalt beruht.
Daher konnte die Revolution vonseiten der Protestierenden nicht anders als friedlich verlaufen. Laut Schätzungen gingen damals 14 bis 20 Prozent der Bevölkerung des Landes auf die Straße. Denjenigen, die das nicht wollten, standen Hunderte andere Protestformen zur Verfügung. Das Wichtigste war und ist die Solidarität mit den Demonstrant*innen und den Festgenommenen. Sie ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Belaruss*innen im Jahr 2020.
Diese Solidarität lebt weiter, und das trotz harter Repressionen, wie es sie seit Stalin nicht mehr gegeben hatte. Seit dem 1. November 2020 ist die Teilnahme an Protesten strafbar. Seitdem wurden nach Angaben von Menschenrechtsaktivist*innen rund 25.000 Menschen strafrechtlich verfolgt. Schätzungsweise 600.000 bis 1 Million Menschen mussten das Land aufgrund drohender politischer Verfolgung verlassen – 10 Prozent der Bevölkerung. Auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit ist ein wichtiges Ergebnis des Jahres 2020. Hinzu kommen Solidarität, die Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstorganisation sowie das Selbstbewusstsein der Belaruss*innen, eine politische, kulturelle, nationale Gemeinschaft zu sein.
Lukaschenko hat alles Gemeinnützige verboten
Die Menschen wollen Demokratie, Meinungsfreiheit, eine Zivilgesellschaft, dafür bauen sie im Ausland Institutionen auf. Denn in Belarus ist das unmöglich. Lukaschenko hat alle gemeinnützigen Organisationen verboten und deren Mitglieder entweder ins Gefängnis gesteckt oder aus Belarus vertrieben. Im Exil setzen sie ihre Aktivitäten fort, so wie Menschen in Belarus dies im Untergrund tun. Kurz: Belarus ist ein totalitärer Staat im Orwell’schen Sinne. Doch der Widerstand bleibt.
Die Regierung in Belarus ist von Russland abhängig. Lukaschenko hat sämtliche Zugeständnisse gemacht, die Putin seit Jahren fordert: Militärstützpunkte, Zugang zur belarussischen Wirtschaft für russisches Kapital, selbst ein Aufmarschgebiet für die russische Armee. 98 Prozent der belarussischen Exporte gehen heute nach Russland, 2020 lieferte Belarus 41 Prozent der Exporte in die EU. Die Abhängigkeit des Regimes von Russland wird durch Kredite, die Lukaschenko von Russland aufgenommen hat, verstärkt.
Heute beträgt die Staatsverschuldung von Belarus 35,17 Milliarden Dollar. Moskau refinanziert zwar regelmäßig Kredite. Doch wenn Minsk zahlen muss, wird das der letzte Tag von Lukaschenkos Wirtschaft sein. Die Beziehungen zwischen Russland und Belarus lassen sich auf eine einfache Formel reduzieren: Putin kontrolliert Lukaschenko und Lukaschenko kontrolliert Belarus. Aus diesem Teufelskreis versucht er auszubrechen, indem er sich durch Verhandlungen mit dem Westen legitimieren will. So lässt er politische Gefangene im Austausch für „Zugeständnisse“ frei, die es noch gar nicht gibt. Das ist eine Sackgasse, aus der es für Lukaschenko keinen Ausweg gibt.
Das Beste wäre eine friedliche Machtübergabe
Das Beste für das Land und selbst für Lukaschenkos Umfeld wäre eine friedliche Machtübergabe. Das lehnt er, wen wundert es, ab. Eine ebenso wünschenswerte, aber äußerst unwahrscheinliche Option: eine Verschwörung der Eliten. Lukaschenko hat den Apparat buchstäblich von jeglichem freien Denken „gesäubert“, alle haben Angst. Und sie haben allen Grund dazu, ab 2020 wurden Repressionen und totale Kontrolle zum Alltag. Diese Angst hält das System zusammen – aber sie könnte es auch zerstören. Angst zerfrisst wie Rost das Staatssystem von innen. Dieser Prozess hat bereits begonnen, langsam, aber jeden Tag ein wenig schneller. Auch Lukaschenkos Tod wird das Problem in Belarus nicht lösen. Dieses liegt wie immer in Russland, das Belarus’ Souveränität von jeher bedroht. So hängt die weitere Entwicklung in Belarus direkt von der Lage in der Ukraine ab.
Trotz allem blicke ich optimistisch in die Zukunft. Alle totalitären Regime in der Geschichte sind irgendwann zusammengebrochen, meist unerwartet. Zudem nimmt Lukaschenko noch immer Rache an der Bevölkerung für das, was 2020 geschah. Damit versucht das Regime der Außenwelt zu zeigen, dass sich die Lage stabilisiert habe. Aber nichts davon ist wahr. Lukaschenkos Sieg war ein Pyrrhussieg. Die Belaruss*innen indes nutzen ihr Potenzial, das sie 2020 erkannt haben. Sie haben ihren Weg gewählt, den Weg nach Europa. Sie haben sich verändert und werden sich nie wieder mit dem Staat, der sie heute regiert, identifizieren können.
Diese Botschaft muss auch in Europa gehört werden. Denn die Prozesse in Belarus betreffen nicht nur die Sicherheit der EU, sondern des gesamten europäischen Kontinents. Die EU braucht weder ein russisches Belarus noch ein belarussisches Russland. Aber Belarus braucht die EU. Vielleicht waren wir 2020 noch nicht bereit, den ganzen Weg für die Freiheit zu gehen. Doch jetzt, wo die Existenz der belarussischen Nation durch den wachsenden Einfluss Russlands bedroht ist, verstehen alle Belaruss*innen den Wert von Unabhängigkeit, Demokratie, Meinungsfreiheit.
Ich bin sicher: Das Ausmaß und die Dauer des seit fünf Jahren andauernden Protests werden eines Tages der Existenz des Lukaschenko-Regimes ein Ende setzen. Große Veränderungen beginnen im Kleinen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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