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„Wandern zeigt mir die Schönheit des Libanon, die nur wenige kennen“, sagt der Guide Oliver Nassif Foto: Julia Neumann

Freizeit in NahostHändchenhalten in den Bergen

Seit der Coronapandemie wandern im Libanon mehr Menschen. Das stärkt den Zusammenhalt in einem Land, in dem die Gesellschaft gespalten ist.

Julia Neumann
Von Julia Neumann aus Akoura

Y allah, let’s go, ruft Maroun Khalil. Die Füße in den Wanderschuhen tauchen ein in das kalte Flusswasser, die Schuhsohle saugt sich voll, das Bein sinkt immer tiefer in den Fluss, der Fuß tastet nach einem stabilen Stein in der Strömung. Das Bein taucht bis zur Hüfte ins Wasser, die Kälte steigt hoch, es kribbelt, die Haut wird rot von der Kälte. Vom Himmel brennt die Sonne, Bäume am Flussrand spenden etwas Schatten. „Nutzt eure Hände, um euch abzustützen“, rät der Guide. Große Steine ragen aus dem Wasser, sie sind mit Moos bewachsen und eignen sich dafür, die Hände abzustützen, für einen besseren Halt beim Balancieren durch den Fluss.

Neben der mediterranen Küste hat Libanon auch bis zu 3.000 Meter hohe Berge mit schroffen Gipfeln und fruchtbaren Tälern. Zedernbäume, wilder Thymian, seltene Blumen, viel Wasser – das Land ist perfekt zum Wandern, auch im Hochsommer.

Eine tiefe Wirtschaftskrise hat das Land seit 2019 im Griff, 2020 zerstörte eine Explosion von fahrlässig gelagertem Ammoniumnitrat Teile der Hauptstadt Beirut, vor allem den Hafen. Die globale Coronapandemie und der Krieg mit Israel seit Oktober 2023 kamen noch hinzu. Täglich summen israelische Drohnen am Himmel über Libanon, trotz des Waffenstillstandsabkommens im November 2024 gibt es Angriffe. Die Menschen gehen trotz der geopolitisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten wandern. Oder gerade deshalb.

Pünktlich um 7.30 Uhr morgens steht Maroun Khalil in schwarzem T-Shirt und Trekkinghose am Märtyrerplatz in der Beiruter Innenstadt. Auf einem Blatt Papier hakt er die handschriftlich notierten Namen auf seiner Anwesenheitsliste ab. Der Reisebus fährt los, an der Schnellstraße steigen mehr Leute hinzu, dann geht es in die Berge. Der erste Stopp ist eine kleine Bäckerei, hier gibt es Manoushe, eine Form der libanesischen Pizza, bestrichen mit einer Paste aus getrocknetem Thymian, Sesam und Olivenöl.

Tourismus im Libanon

Heimat Tourismus hat im Libanon traditionell einen starken Anteil an der Wirtschaft. Das liegt vor allem daran, dass außerhalb des Landes mehr Li­ba­ne­s*in­nen leben als innerhalb. Die große Diaspora verbringt ihre Sommerurlaube gerne im Libanon – und gibt dort Geld für Ausflüge, Übernachtungen und Essen aus.

Arbeit Der Tourismussektor im Libanon erwirtschaftete laut Zentralbank in den Jahren 2022 und 2023 jährlich über 5 Milliarden US-Dollar, im Jahr 2024 waren es 4,7 Milliarden. Überweisungen von Li­ba­ne­s*in­nen aus dem Ausland machten zwischen 2020 und 2024 jährlich durchschnittlich 6,4 Milliarden US-Dollar aus, laut Daten der Weltbank. Zusammen sind sie die zwei wichtigsten Einnahmequellen des Landes und tragen zu mehr als der Hälfte des Nationaleinkommen bei. Das wiederum ist durch die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2019 geschwächt und sank von rund 55 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 auf unter 20 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023.

Krieg 2024 gingen die Ankünfte von Tou­ris­t*in­nen aus dem Ausland stark zurück. Rund 1.130.000 Menschen zählte das Tourismusministerium – ein Rückgang um mehr als ein Drittel gegenüber rund 1.666.500 Be­su­che­r*in­nen im Jahr 2023. Der Abschwung ist größtenteils auf den Krieg mit Israel zurückzuführen. Am 27. November 2023 trat zwar ein Waffenstillstand in Kraft, doch der ist fragil. Israels Militär greift fast täglich im Libanon an, hauptsächlich im Süden und in der östlich gelegenen Bekaa-Ebene, aber auch im Süden Beiruts. Viele westliche Staaten, darunter auch Deutschland, warnen daher vor Reisen in diese Teile des Landes.

„Wer hat Kaffee bestellt?“, ruft Khalil. Nachdem schwarzer Kaffee in einer kleinen Kanne gereicht wurde, stellt er sich vor: „Mein Name ist Maroun Khalil, ich bin 39 Jahre alt, habe 20 Jahre Militärerfahrung und Wandern ist meine Leidenschaft.“ Angesichts der Wirtschaftskrise beschloss Khalil, „diese militärische Erfahrung in zivile Erfahrung umzuwandeln“. Also: mit seiner Leidenschaft für das Wandern Geld zu verdienen.

In den vergangenen 20 Jahren hat er lange, anstrengende Märsche durch die Wildnis unternommen. Das erste Mal als Zivilist aus Spaß wandern war Khalil im Jahr 2017, erzählt er. Auf die Idee, das Wandern zum Beruf zu machen, kam er wenig später durch einen Freund. „Er sagte: 'Du liebst das Wandern. Warum machst du das nicht zu deinem Beruf?’ Ich dachte, er würde nur so reden, aber dann gab er mir einen Privatkredit.“ Khalil kaufte seine erste Ausrüstung: einen großen Rucksack, Wanderschuhe und ein Erste-Hilfe-Set. 2024 machte er ein Diplom als Bergführer an der Antonine-Universität. Die Uni ist die erste, die so einen Studiengang im Libanon anbietet. „Ich belegte Kurse in Flora und Fauna, Tourismus und Wandertechniken, Risikomanagement, Geografie und Klima“, sagt Khalil. Anschließend gründete er ein Unternehmen: Nomads. Khalils Firma hat mittlerweile drei Mitarbeitende, bietet Wanderungen, Trekking und Zelten an.

Es ist verboten, auf unseren Wanderungen über Politik in einem spaltenden Sinne zu sprechen

Maroun Khalil, Wanderguide

„In der Armee ist das Laufen in der Wildnis Teil der Ausbildung. Es ist gefährlich, du musst Entscheidungen treffen, du erhältst oder erteilst Befehle. Wandern ist anders, es ist wie Therapie. Sogar mehr: eine ganzheitliche Erfahrung.“ Das Konzept des Wanderns sei etwas Neues im Libanon. „Die ersten Unternehmen wurden nach 1998 gegründet. Aber während der Coronapandemie gab es einen Boom: Die Menschen sind in die Natur gegangen und viele Gruppen oder Unternehmen sind entstanden.“

Für ihn ist wandern nicht einfach nur spazieren gehen. „Man lernt die Geschichte der Region, die Kultur der Menschen kennen und wie sie leben, wie sie ihr Essen zubereiten und wie es schmeckt.“ Khalil macht Halt bei kleinen, lokalen Bäckereien und Restaurants, er versucht, die lokale Wirtschaft zu stärken. Auch wenn die Teilnehmenden alle Li­ba­ne­s*in­nen sind, ist es ihm wichtig, dass sie die Lebensrealitäten anderer Menschen im Land besser kennenlernen.

Guide Maroun Khalil hilft bei einer tiefen Passage beim Flusswandern in Akoura Foto: Julia Neumann

Im Libanon leben viele verschiedene Religionsgemeinschaften. Die herrschenden Politiker nutzen das für ihre Zwecke aus. Dadurch sind die Vorurteile gegenüber den vermeintlich anderen auch nach dem Bürgerkrieg, der 1990 endete, noch vorhanden. „Der Libanon ist durch diese hässlichen sektiererischen Narrative gespalten“, sagt Khalil. „Es ist verboten, auf unseren Wanderungen über Politik in diesem spaltenden Sinne zu sprechen. Es geht nicht um Christen oder Sunniten oder Schiiten. Wir haben Menschen aus allen Konfessionen dabei, jeder ist willkommen, und wir lernen voneinander und übereinander. In diesem Sinne ist Nomads der Libanon, von dem wir träumen.“

Die Leben anderer Menschen kennen lernen

Wo immer er eine Wanderung organisiert, arbeitet Khalil mit lokalen Guides. Einer von ihnen ist Oliver Nassif. „Mein Vater fuhr einen Minivan für Gruppen und meine Großeltern besaßen ein libanesisches Restaurant“, erzählt Nassif. Der 25-Jährige ist quirlig, voller Energie. Seit elf Jahren hat er ein eigenes kleines Unternehmen und bietet Touren an. „Eines Tages wachte ich morgens auf und die Gruppe, die in unserem Gästehaus wohnte, wartete auf ihren Reiseführer. Als der nicht kam, fragte mein Vater mich: ‚Du kennst doch den Wasserfall, du kletterst da immer die Felsen hoch, kannst du die Leute da nicht hinführen?‘ Das habe ich einfach gemacht. Am Ende des Tages gaben sie mir sogar Geld dafür! Da habe ich beschlossen: Das ist genau das, was ich machen will.“ Es mache ihm Spaß, neue Menschen kennenzulernen, die einen anderen Hintergrund haben als er selbst.

Nassif springt aufgeregt von Strauch zu Strauch: „Hier wachsen Feigen“, sagt er und streicht über die rauen Blätter, „das hier sind Pistazien, hier wachsen Trauben und das hier ist Zaatar, Thymian“, ruft er und pflückt eine hellgrüne Pflanze. „Wandern zeigt mir die Schönheit des Libanon, die nur wenige kennen.“ Diese Schönheit liege in der Vielfalt der Geologie und des Ökosystems, der Blumen und Bäume. „Heute wandern wir sechs Kilometer. Wir beginnen in den Bergen, steigen zwischen riesigen Kalksteinfelsen in ein Gebiet voller Vegetation in der feuchten Umgebung des Flusses. Wenn wir von hier aus weitergehen, kommen wir in ein Tal, das Island ähnelt, mit diesen Felsen, die wie Würfel übereinander gebaut sind. Und genau das macht es so schön, im Libanon zu wandern.“

Außerdem seien es die Menschen. „Wenn man von einem Dorf zum anderen wandert, kann man viele Unterschiede im Dialekt feststellen. Die Namen der Vögel und der Bäume sind unterschiedlich. Auch das Essen ist von Dorf zu Dorf anders.“

An einer Felswand schnappt sich Nassif ein Seil mit vielen Knoten. Es ist an eine Stahlkette geknüpft, an deren Ende eine Kirchturmglocke befestigt ist. Nassif zieht mit beiden Armen an der Kordel, geht in die Knie, springt auf und nutzt sein ganzes Gewicht, um die Glocke zum Läuten zu bringen. „So haben sich unsere Vorfahren bei Gefahren alarmiert oder zum Gebet gerufen“, erklärt er.

Der höchste Berg im Libanon ist der Qurnat as Sawda mit 3.088 Metern über dem Meeresspiegel, mehrere Wanderwege führen zu seinem Gipfel. Er ist christlichen Märtyrern gewidmet, die von den Mamluken, islamischen Konvertiten, Ende des 13. Jahrhunderts ermordet wurden.

Berge machen 73 Prozent des Libanon aus, zwölf Prozent der Bevölkerung wohnen hier. Laut einer Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen in Zusammenarbeit mit dem libanesischen Umweltministerium generieren Berg­aktivitäten wie wandern, Ski fahren, Vögel beobachten etwa 13 Prozent der gesamten Arbeitsplätze in der libanesischen Tourismusindustrie.

Guide Oliver Nassif, 25, zeigt frischen Thymian, genannt Zaatar, am Wegesrand in Akoura Foto: Julia Neumann

Trotz der hohen Berge gibt es keine lange Tradition des Wanderns. Das erklärt Nassif so: „Meine Vorfahren wurden seit Tausenden Jahren verfolgt und suchten Schutz in den Bergen.“ Sein Opa mütterlicherseits kam aus einer schiitischen Familie, die im 13. Jahrhundert in den Libanon kam, weil sie verfolgt wurden. „Für sie ging es nur darum, am Leben zu bleiben. Deshalb konnten wir vielleicht nicht diese Liebe zum Alleinsein entwickeln. Auch heute noch haben wir ständig Stress, einfach nur am Leben zu bleiben. Es ist also nicht so einfach, wie es vielleicht in der Schweiz ist.“

Wandern boomte vor allem zu Beginn der Jahrtausendwende, nach dem Bürgerkrieg und der Besatzung durch das syrische Assad-Regime, erklärt Nassif. „Mit den sozialen Medien fingen die Leute an, Fotos von schönen Orten im Land zu teilen und andere beschlossen: Da möchte ich auch hin!“ Davor gingen die Menschen in der Natur spazieren, um zu ihren Feldern zu gehen oder die Herde grasen zu lassen. „Also sie liefen, um zu arbeiten. Ich bin oft mit meinem Opa Vögel jagen gegangen. Oder wir sind zu Kirsch- oder Apfelfeldern gegangen, um die Felder zu bestellen. So habe ich angefangen, zu wandern.“

Im Sommer sind meine Cousins, meine Geschwister und ich gewandert. Da fühlte sich der Krieg weit weg an.

Rima al-Kouzi, Lehrerin

Rima al-Kouzi sitzt auf einem Stein und blickt auf einen Wasserfall. Um das Wasserbecken herum sonnen sich Menschen auf den Steinen, Jungs in Badehosen stehen mit schlotternden Knien im Wasser und machen Fotos. Al-Kouzi hat sich entschieden, nicht im Becken zu schwimmen, sondern sich etwas auszuruhen. „Wandern verbindet mich mit meinem Heimatland“, erzählt sie. Die 51-Jährige ist Mathematiklehrerin und kommt aus Beirut, aus dem sunnitisch geprägten Stadtteil Tarik al-Jadideh. „Ich bin während des Bürgerkrieges aufgewachsen. Was uns eine schöne Kindheit bescherte, war, dass wir als Familie zusammenhielten, zusammen spielten und im Sommer in die Berge fuhren. Wir haben dort ein Haus. Im Sommer sind meine Cousins, meine Geschwister und ich gewandert. Da fühlte sich der Krieg weit weg an.“

Seit acht Jahren lebt al-Kouzi in Katar, doch in den Sommerferien kommt sie zurück. Zum wandern. „Das erinnert mich an die schönen Tage meiner Kindheit: die grünen Berge, die Kiefern, der Geruch von Pinien und frischer Minze.“

„Meine zwei Söhne leben in Frankreich. Meine Tochter arbeitet in Dubai. Mein Mann lebt im Libanon und ich arbeite in Katar“, erzählt al-Kouzi. „Der Libanon ist der Ort, an den wir zurückkehren, um uns wiederzusehen.“ Li­ba­ne­s*in­nen hätten eine Hassliebe zu ihrem Land: Auf der einen Seite wollten sie ihre Kinder vor Kriegstraumata schützen, auf der anderen Seite fühlten sie eine Sehnsucht. „Das ist es, was uns jedes Mal zurückbringt: die Natur, das Essen, die Familie, die Freunde.“ Im Ausland verdient sie Geld, ihren Ruhestand möchte sie im Libanon verbringen. Sie sagt: „Hier sind meine Wurzeln, hier möchte ich begraben werden.“

Als die Wanderung über Steine weitergeht, reicht al-Kouzi einer Mitwanderin die Hand. „Wenn du siehst, dass jemand fällt, hältst du zum Beispiel einfach ihre Hände fest. Wir sagen uns gegenseitig: Sei vorsichtig, der Stein hier wackelt, tritt nicht hier oder dort hin. Wir fragen nicht: Aus welcher Gegend kommst du? Was ist deine politische Einstellung? Diese Menschlichkeit ist die Richtung, in die wir Libanesen gehen müssen.“

Ursprünglich sollte der Pfad höher verlaufen, nun liegt er so, dass Dörfer einfach erreichbar sind Foto: Julia Neumann

Ein Weg, der die Menschen im ganzen Land verbinden soll, ist der Libanesische Bergpfad. 2007 hat ein kleines Team mithilfe von Geldern der amerikanischen Entwicklungshilfebehörde USAID den ersten Langstreckenwanderweg entwickelt und ausgewiesen, mit dem erklärten Ziel, „Ökotourismus als Freizeitindustrie nach dem Konflikt zu fördern“. Der Weg durch das ganze Land sollte zusammenschweißen, was durch den Bürgerkrieg kaputt gegangen war. Der Libanesische Bergwanderverein wurde zu einer der größten NGOs im Land. Das Team aus Freiwilligen erhält den Pfad, unterstützt Gästehäuser und Restaurants entlang der Wege und aktualisiert eine digitale Karte mit Route, Wasserquellen und möglichen Zeltplätzen.

Erntehelfer, Kirschpflücker, Brotbäckerin

Wer den Libanesischen Bergpfad entlang wandert, trifft an einem Tag syrische Erntehelfer, einen christlich-maronitischen Bauern, der frische Kirschen vom Baum und Wasser aus seinem Brunnen anbietet, eine muslimisch-schiitische ältere Dame, die im Innenhof ihres Hauses Brot backt und selbstgemachte Zitronenlimo mit einem Schuss Rosenwasser serviert.

Der 470 Kilometer lange Pfad verbindet 76 Dörfer miteinander. Er führt vom maronitisch-christlich geprägten Dorf Andaket in der Gegend Akkar im Norden bis in die mit Olivenbäumen und Eichen bewachsenen Hänge von Ain Ebel im Süden; entlang tiefer Täler, vorbei an Klöstern und Höhlen, Bächen und Seen bis zum höchsten Punkt auf knapp über 2.000 Metern über dem Meeresspiegel. Eigentlich sollte der Pfad höher führen, doch einige Stadtverwaltungen setzten sich dafür ein, dass die Ortschaften entlang des Weges einfach zu erreichen sind.

2019 gaben Wanderer rund 100.000 US-Dollar in den Dörfern entlang des Weges aus. Es folgte eine wirtschaftliche Talfahrt durch Finanzkrise und Pandemie. Im Jahr 2021 investierte die deutsche Regierung in Partnerschaft mit der UN-Arbeitsorganisation eine Million Euro in die Instandhaltung des Wanderweges. Freiwillige frischten die Markierungen auf Steinen am Wegesrand mit lila-weißer Farbe auf. Langsam ging es sprichwörtlich bergauf. Dann kam der jüngste Krieg mit Israel. Laut Zentralbank sanken die Einnahmen aus dem Tourismus im Jahr 2024 um 16 Prozent auf umgerechnet 4,5 Milliarden Euro. Der Großteil davon beruht auf Li­ba­ne­s*in­nen aus der Diaspora, die ihren Sommerurlaub sonst im Libanon verbringen.

Israelische Angriffe trafen nicht nur Menschen und ganze Dörfer, auch große Teile der Wanderwege sind zerstört. Vor allem im Süden des Landes ist wandern nicht mehr möglich. Hier trafen israelische Angriffe die Bevölkerung und Natur am härtesten. In Ain Ebel und Bint Jbeil verbrannten ganze Wälder wegen israelischer Luftangriffe. Durch den völkerrechtswidrigen Einsatz von weißem Phosphor und anderen Brandwaffen, für den unter anderem Amnesty International und Human Rights Watch Belege gesammelt haben, verbrannten Zehntausende Olivenbäume und andere Nutzpflanzen im Grenzgebiet. „Wir können nicht wandern, unmöglich“, sagt Yehya Monzer. „Es ist wirklich gefährlich, unsere Wandergebiete sind wie eine Militärzone. Die Drohnen sind jeden Tag am Himmel.“ Der 56-Jährige ist passionierter Wanderer und Guide. Er wohnt in Ebel al-Saqi, nahe an der Grenze zu Israel. Dort wachsen eintausend Jahre alte Olivenbäume, auf einer Aussichtsplattform reicht das Panorama bis zum Berg Hermon im syrischen Grenzgebiet, in einem Naturreservat leben Zugvögel. Seit 1978 sind in dem Dorf UN-Friedenstruppen stationiert. Der Ort war einige Male Ziel von israelischen Angriffen, Anfang November von Phosphorbomben im Umland von Ebel al-Saqi, berichtete die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA. Ende November bombardierten israelische Kampfflugzeuge drei Häuser in dem Ort und töteten eine christliche Frau, ihr Ehemann wurde schwer verletzt.

Wandern erinnert Rima al-Kouzi an ihre Kindheit, so entfloh sie dem Krieg Foto: Julia Neumann

Obwohl der Krieg offiziell durch ein Waffenstillstandsabkommen beendet ist, sind die Menschen noch immer von israelischen Angriffen bedroht. „Seit Beginn des Krieges vor fast zwei Jahren ist die Situation für Wanderer nicht einfach, besonders im Süden. Es war praktisch unmöglich, dorthin zu gehen. Auch jetzt noch, besonders in unserer Gegend hier, vom Distrikt Marjayoun bis hinunter nach Naqoura.“ Es sei ein zu großes Risiko, sich zu versammeln. Eine größere Ansammlung von Menschen wie eine Wandergruppe könne Israel als gefährlich wahrnehmen und angreifen.

Der Krieg hat Monzer zum Aufhören gezwungen, dabei war Wandern sein Beruf und seine Leidenschaft. Vor zwölf Jahren hat er damit angefangen. „Ich erkundete die Gegend, ganz alleine. Wir haben einen sehr schönen Fluss, der an unserem Dorf vorbeifließt. Wandern war damals noch etwas Neues. Niemand sonst machte das.“ Also begann er, Fotos in den sozialen Medien zu teilen. „Leute fragten mich: ‚Bist du außerhalb des Landes?‘ Und alle waren überrascht über meine Antwort. Sie glaubten mir nicht, dass ich diese Fotos in meiner Gegend gemacht hatte.“

Solange Krieg ist, wandert niemand

Dann wollten Menschen mitkommen, doch hatten Angst, dass Wandern zu anstrengend ist. „Ich hatte ein wenig Mühe zu erklären, dass jeder das tun kann. Wandern ist einfach ein Spaziergang, um die Natur zu genießen, den Stress loszulassen.“ Mit der Zeit schlossen sich mehr Leute an, posteten Fotos von dem Ausflug. „Und die Fotos erreichten viele Menschen, bis Leute von außerhalb unserer Gegend kamen, aus Beirut, aus dem ganzen Land.“ Von Frühling bis Herbst, fast jedes Wochenende organisierte er Wanderungen.

„Früher gingen viele Menschen zusammen. Jetzt ist die Situation völlig anders. Die Stimmung, der Stress, alles hat das Wandern beeinflusst.“ Es stehe nicht mehr im Vordergrund, etwas zu unternehmen und zu genießen. „Vor dem Krieg wollten die Leute wandern, um den Stress hinter sich zu lassen und die Natur zu genießen. Und jetzt, während des Krieges, kann niemand mehr wandern. Der Stress wird immer größer und stärker.“

Wandern sei für alle da gewesen, schwärmt Monzer. „Für Kinder, Erwachsene, Alte; Schiiten, Drusen, Christen. Alle hatten Spaß am Wandern. Und jetzt haben nicht nur die schiitischen Wanderer Angst davor.“ Der Guide hofft, „dass dieser Krieg aufhört und dass das Wandern in unserer Gegend wieder möglich ist.“ Doch dafür müssten die israelischen Aggressionen aufhören und dann die Wanderwege repariert werden, sagt Monzer. Er schwärmt von den Wegen zwischen Marjayoun, hinunter bis an die Küste nach Nakoura, durch Bint Jbeil und Tyros. Die Leute fragten zwar, ob er nicht wieder mit ihnen losziehen möchte, doch Monzer geht das Risiko nicht ein.

Gerade nach diesem jüngsten Krieg, der sektiererische Narrative bestärkt und die Angst vor schiitischen Li­ba­ne­s*in­nen erhöht hat, der den Nord- und den Südlibanon tief gespalten hat, sind die gesellschaftlich verbindenden Effekte des Wanderns wichtig. Immerhin gebe es ein paar Menschen aus dem Süden, die für das Wandern in den Norden oder Osten des Landes fahren, sagt Monzer. Er gibt die Hoffnung nicht auf, „dass die Leute wieder von überallher kommen und mit uns hier wandern“.

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