Mehrere tausend Angriffe: Gesundheit unter Beschuss
Krankenhäuser werden häufiger zu Kriegszielen, weil ihre medizinische Neutralität nicht geachtet wird. Die Genfer Konvention schützt sie nicht genug.

S chon im Dezember 2023, der israelische Krieg in Gaza war erst wenige Wochen alt, verurteilte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, Tlaleng Mofokeng, den „unerbittlichen Krieg“ gegen Krankenhäuser und ihr Personal. Vergeblich.
Anfang April 2024 war nach einem Militäreinsatz auf dem Gelände des Al-Schifa-Krankenhauses auch die größte Gesundheitseinrichtung des Gazastreifens zerstört. Nach fast zwei Jahren Krieg liegt die gesundheitliche Infrastruktur für 2,3 Millionen Menschen in Trümmern. Die entgrenzte militärische Gewalt in Gaza ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, in der die medizinische Infrastruktur zur Zielscheibe wird.
Dabei hat der hohe völkerrechtliche Schutz medizinischer Einrichtungen im Krieg fast sakrosankten Charakter. Laut Artikel 18 der vierten Genfer Konvention von 1949 dürfen Gesundheitseinrichtungen „unter keinen Umständen angegriffen werden, sondern sind von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen“.
Aber klar ist auch, die Genfer Konventionen haben Gesundheitseinrichtungen de facto nie vollständig geschützt. Da ist etwa die Bombardierung des Bach-Mai-Krankenhauses in Hanoi im Jahr 1972 durch die US-Armee, bei dem Dutzende Mitarbeiter:innen und Patient:innen getötet wurden. Der Angriff wurde ein Symbol für die Brutalität des Vietnamkriegs.
ist Referent für Globale Gesundheit bei der Hilfsorganisation medico international.
In den letzten 15 Jahren hat sich die Intensität der Angriffe immens gesteigert. Der jährliche Bericht der Safeguarding Health in Conflict Coalition (SHCC) dokumentiert allein für das Jahr 2024 weltweit 3.600 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und ihr Personal, mehr als jemals zuvor. Der Bericht erzählt von Ärzt:innen in Myanmar und in Sudan, die inhaftiert und ermordet wurden, weil sie hilfsbedürftige Menschen behandelt hatten. Er erinnert an die Ermordung von Helfer:innen in Pakistan, deren Vergehen darin bestand, Kinder gegen Infektionskrankheiten geimpft zu haben. Und er kündet von mehr als 1.200 Angriffen der israelischen Streitkräfte gegen Gesundheitseinrichtungen in Gaza.
Angesichts dessen spricht der Gesundheitsexperte Len Rubenstein von der Johns Hopkins University von einer „neuen Dimension der Gewalt“. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg seien Krankenhäuser so systematisch aus der Luft zerstört worden. Gesundheitseinrichtungen würden gezielt gestürmt, medizinische Ausrüstung werde vernichtet. Zudem hätten gezielte Tötungen und die Entführung von Gesundheitskräften ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht – seit Oktober 2023 wurden in Gaza über 1.500 Fachkräfte getötet.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Als Sündenfall einer Kriegsführung wider die Genfer Konventionen gilt das Massaker von Mullivaikkal im sri-lankischen Bürgerkrieg 2009. Binnen weniger Monate wurden dort mindestens 40.000 Menschen auf engem Küstenstreifen getötet, unter ihnen viele in gezielt beschossenen Gesundheitseinrichtungen. Exemplarisch für diese Kriegsführung steht die Zerstörung des Mullivaikkal-Krankenhauses mit über 100 Toten. Die damals inflationär genutzte Anti-Terror-Rhetorik verwischte die Grenze zwischen zu schützenden Zivilist:innen und militärischen Gegnern – und degradierte die Gegenseite zum unterschiedslos zu vernichtenden Feind.
In nahezu jedem vergangenen Konflikt soll Krieg den Terror bekämpfen. Sei es in Südsudan, Jemen oder Afghanistan, wo die US-Armee 2015 das Krankenhaus der Ärzte ohne Grenzen in Kundus zerstörte. Damals war der Aufschrei groß, es folgten Kampagnen bis hin zu einer Resolution im UN-Sicherheitsrat. Doch geändert hat das nichts – im Gegenteil.
Die Zerstörung der Geburtsklinik in Mariupol im März 2022 rechtfertigte die russische Regierung damit, dass dort Kämpfer eines ukrainischen Bataillons Stellung bezogen hätten. Mit demselben Argumentationsmuster legitimiert die israelische Regierung die Zerstörungen medizinischer Einrichtungen in Gaza. Wahlweise als Raketenbasis, als Waffenlager oder als Rückzugsort von Hamas-Kämpfern sollen die Krankenhäuser Gazas dienen. Hinreichende Beweise liefert Israel keine. Denn der Anti-Terror-„Joker“ macht es wesentlich einfacher, sich auf eine Ausnahme in der Genfer Konvention zu berufen. Dieser zufolge verlieren Gesundheitseinrichtungen ihren Schutzstatus, sobald sie „außerhalb ihrer humanitären Aufgaben zu Handlungen benutzt werden, die dem Gegner schaden“.
Die Voraussetzungen sind allerdings hoch. Es bedarf eindeutiger Beweise für die Annahme der militärischen Zweckentfremdung. Damit ein Angriff rechtmäßig ist, muss zudem bewiesen werden, dass alles dafür getan wurde, um Schaden für Menschen auf ein Minimum zu beschränken. Angriffe, bei denen zu erwarten ist, dass sie der Zivilbevölkerung Schaden zufügen, der im Verhältnis zu dem erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil übermäßig hoch wäre, gelten als Kriegsverbrechen.
Doch die Empörung darüber bleibt im Jahr 2025, anders als vor 10 Jahren, weitgehend aus. Zu tief sitzt das Terrorismusnarrativ, zu erfolgreich wird die medizinische Neutralität infrage gestellt. Israel verschiebt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ins Absurde. Gemäß derselben Logik hat der US-Verteidigungsminister ein „Kriegsrecht für Sieger“ gefordert.
Und auch hierzulande wird dieser beispiellose Angriff auf die medizinische Neutralität wahlweise gerechtfertigt oder schweigend hingenommen. Selbst die sonst lautstarke Bundesärztekammer hat sich fast zwei Jahre Zeit gelassen, bis sie halbherzig ihrer ethischen Verpflichtung nachkam, sich solidarisch mit ihren Kolleg:innen in Gaza zu zeigen. Andere Berufsverbände schweigen noch immer. Das ist fatal, denn wenn die medizinische Neutralität grundsätzlich infrage gestellt wird, werden auch bei uns die Angriffe auf Sanitäterinnen, Ärztinnen und Pfleger zunehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Russland und Ukraine
Ukrainische Gebietsabtretungen im Tausch für Frieden?
Kürzungsdebatte im Sozialbereich
Und eure Lösung, liebe Linke?
E-Autos versus Verbrenner
Der gefühlte Freiheitsverlust
Trump setzt Museen Frist
Vorbei mit der Freiheit
100 Tage Merz-Regierung
Kein Rezept gegen rechts
Ökonom über ungerechtes Rentensystem
„Es geht um Umverteilung“