Geleaktes AfD-Gutachten in Brandenburg: Drei Tage Vorsprung für die AfD
Der Leak des Gutachtens zur Hochstufung der Brandenburger AfD kommt der Partei gelegen. Im Kampf um die Deutungshoheit konnte sie den ersten Zug machen.

E twas wirklich Neues kann Brandenburgs parteiloser Innenminister René Wilke nicht präsentieren, wenn er an diesem Donnerstag in Potsdam vor die Presse tritt, um das Gutachten des Verfassungsschutzes zur Hochstufung der Brandenburger AfD als „gesichert rechtsextrem“ vorzustellen.
Das liegt nicht nur daran, dass in dem Papier fast nur Äußerungen von AfD-Politiker*innen als Belege verwendet werden, die ohnehin schon bekannt waren: Sie stammen aus Posts in sozialen Netzwerken, aus Wahlkampfreden und Interviews. Mit geheimdienstlichen Methoden gewonnene Informationen brauchte die Behörde kaum, um der AfD verfassungsfeindliche Bestrebungen zu attestieren.
Vor allem ergibt sich der geringe Neuigkeitswert von Wilkes Pressekonferenz jedoch daraus, dass das lang erwartete Dokument bereits seit Montag im Netz kursiert. Das rechtspopulistische Hetzportal Nius des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt hatte den sogenannten Einstufungsvermerk geleakt.
Aber warum veröffentlicht ein AfD-nahes Medium überhaupt Belege für die rassistische und autoritäre Gesinnung der Partei, bevor es Innenministerium und Verfassungsschutz tun? Ganz einfach: Das durchgestochene Papier kommt der AfD sehr gelegen. Das Leak ist wie aus dem Lehrbuch für sogenanntes Agenda Setting: Die Aufmerksamkeit, die Nius mit der Veröffentlichung erzeugen konnte, und die Vielzahl an Medienberichten, die folgten, wirken sich auf die öffentliche Meinung aus.
Stimmungsmache auf allen Kanälen
Denn im Kampf um die Deutungshoheit über das Gutachten konnte das rechtsgerichtete Medium den ersten Zug machen – und nicht etwa Innenminister Wilke und Verfassungsschutzchef Wilfried Peters. Die AfD hatte jetzt drei Tage Vorsprung, während derer sie ihre Lesart des Einstufungsvermerks auf allen Kanälen verbreiten konnte.
Die verfolgt wie so oft zwei Strategien: Opferrolle einnehmen und Kritik verächtlich machen. Brandenburgs AfD-Chef René Springer etwa sprach von einer „politischen Verfolgung der Opposition im Mantel des Rechts“. AfD-nahe Medien tönten: „Gesichert an den Haaren herbeigezogen!“
Das Echo in den sozialen Medien ist wie immer laut. Tausende Posts und Kommentare schlagen in die gleiche Kerbe: Es gebe in Deutschland keine Meinungsfreiheit mehr, der Inlandsgeheimdienst werde gegen die politische Opposition benutzt. Praktisch zudem: Die AfD und ihr Vorfeld können ihre Stimmungsmache mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten und Passagen aus dem Gutachten unterfüttern – was ihr womöglich mehr Glaubwürdigkeit verschafft.
Innenminister und Verfassungsschutzchef müssen sich jetzt gegen die geballte Diskursmacht der Brandenburger AfD behaupten – so wie eigentlich alle, die sich öffentlich gegen die rechtsextreme Partei stellen. Das wird nicht leicht. Denn wie die Behörde in überraschender Klarheit und Schärfe schreibt, ist die AfD in einigen Regionen Brandenburgs ihrem „Ziel nahegekommen, eine ‚kulturelle Hegemonie‘ zu erringen und rechtsextremistische Positionen in der Mitte der Gesellschaft zu verankern“.
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