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Faisal Zendinans Lieblingsautor ist Nietzsche. Denn der kenne sich mit Schmerz aus, sagt er Foto: Moritz Küstner

Ankommen in Deutschland als GeflüchteteLiebe auf den dritten Blick

Geflüchtet sind sie vor rund zehn Jahren, aus Syrien, aus Afghanistan, aus dem Nordirak. Gelandet sind sie in Deutschland. Wie geht es ihnen heute?

Nach dem Winter

D er Jeside Faisal Zendinan hat einen Überfall durch IS-Terroristen nur knapp überlebt. Heute wohnen er und seine Frau Najma Silo in einer Kleinstadt in Niedersachsen und erwarten ein Kind.

Wenn die Erinnerungen zu laut werden und die Sehnsucht nach der Familie zu groß, dann setzt Faisal Zendinan sich auf eine Bank am Marktplatz von Hessisch Oldendorf. In seinem Rücken liegt die Stadtsparkasse, zu seinen Füßen das Kopfsteinpflaster, vor ihm ein Eiscafé, rechts das Rathaus. Die Fachwerkhäuser stehen seit Hunderten Jahren hier. Viel los ist nicht. Hessisch Oldendorf ist eine Kleinstadt im Weserbergland, im Süden von Niedersachsen, umgeben von Dörfern zwischen Hügeln voller Buchenwald, Mais- und Rapsfeldern.

Hier ist jetzt Zendinans Zuhause. Aber aufgewachsen ist der 34-Jährige im Nordirak, im Shingal-Gebirge, in einer Straße, in der fast je­de*r mit ihm verwandt war. Da waren seine Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten. Jetzt gibt es diesen Ort nicht mehr: Terroristen haben seine Be­woh­ne­r*in­nen ermordet, zur Flucht gezwungen, die Überlebenden sind auf der ganzen Welt zerstreut.

Von seiner Bank in Hessisch Oldendorf grüßt Zendinan die Menschen, die ihre Besorgungen machen. „Mahlzeit“, antworten die Hessisch Oldendorfer*innen, oder: „Schöne neue Frisur.“ Dann fühlt Zendinan, dass er dazugehört, fast, als wäre er immer hier gewesen.

Flüchtlingssommer 2015

Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.

Vom Marktplatz zu Zendinans Wohnung sind es fünf Minuten Fußweg. Im Wohnzimmer stehen ein riesiges graues Sofa, ein Plastikstuhl, ein Sofatisch, ein Fernseher. Dekoriert ist kaum, luxuriös ist es nicht, aber Zendinan ist zufrieden: „Milliardär will ich eh nicht sein“, sagt er. Seine Frau Najma Silo, 29, kocht in einer fein verzierten goldenen Kanne starken Kaffee mit Kardamom, stellt frisches Obst auf den Tisch und zieht sich zurück.

Zendinans Muttersprache ist Kurdisch, er spricht außerdem Arabisch und Englisch, auch sein Deutsch ist fließend und klar. Nur wenn er ganz sicher gehen will, dass er richtig verstanden wird, nimmt er sein Handy aus der Tasche, tippt Wörter in seiner Muttersprache ein und lässt sie übersetzen. Zum Beispiel, um zu erklären, was am 3. August 2014 passierte, dem Tag, an dem IS-Terroristen seinen Heimatort überfielen. Zendinan war damals 23 Jahre alt.

„Ich war Zeuge einer Massenhinrichtung, bei der zahlreiche Gefangene getötet und in einem Massengrab verscharrt wurden. Auch auf mich wurde geschossen, ich wurde von zwei Kugeln getroffen. Doch ich stellte mich tot und konnte so überleben. Ich war der einzige Überlebende dieser Massenhinrichtung“, schreibt er. Die Schüsse haben große Narben hinterlassen, innen an Zendinans rechtem Oberarm und an seinem Brustkorb. Manche davon hat er mit Tätowierungen bedeckt. Auch Schmerzen sind geblieben. Er spürt sie am stärksten, wenn es kalt ist.

Faisal Zendinan und Najma Silo sind Je­si­d*in­nen, so wie die meisten Menschen, die 2014 in Shingal lebten. Für die Islamisten sind sie alle Ungläubige, die den Teufel anbeten. Die Terroristen fallen in die Dörfer im Shingal ein, verwüsten und zerstören, nehmen Zivilisten gefangen, erschießen Männer, Jugendliche, Alte und verkaufen Frauen und Mädchen in die Sexsklaverei. Zendinan überlebt, wie durch ein Wunder, liegt tagelang schwer verletzt im Haus seiner Eltern, ohne Medikamente, Ärzte, ohne Wasser.

Die Schmerzen quälen ihn – und die Erinnerungen

Nach zwei Wochen Belagerung vertreiben kurdische Kämpfer und amerikanische Bomben die Terroristen – erst einmal. Doch sie bleiben in der Region und drohen, jederzeit zurückzukommen. Zendinans Familie flieht, so wie die meisten Jesid*innen. Sie bleiben im Irak, gehen 160 Kilometer nördlich nach Zakho, einer Stadt in den kurdischen Gebieten. Den schwer verletzten Zendinan trägt ein Esel über die Berge.

Dort angekommen, bleibt in Zendinans Leben auf einmal alles stehen: Körperliche Arbeit ist unmöglich, weil die Schüsse der Terroristen zwei Nerven in seinem rechten Arm durchtrennt haben. Er kann die Hand, mit der er bislang schreibt, ein Wasserglas hält, Dinge greift, Hände schüttelt, nicht mehr bewegen. Und auch zum Studieren gibt es in seinem Kopf keinen Platz, denn da sind die Schmerzen, die ihn ständig quälen – und die ­Erinnerungen.

Nach einem unendlich langen Jahr in Zakho entscheidet Zendinan, dass er gehen muss. In Deutschland, das hat er gehört, gebe es Chancen, auch für jemanden wie ihn, dessen Körper nicht mehr alles kann. Also will er dorthin – und irgendwie auch wegen seines Lieblingsautors Friedrich Nietzsche, dessen Texte Zendinan liest, als er noch in Shingal lebt. „Nietzsche schreibt, als würde er die Dinge im Moment des Schreibens erleben“, findet Zendinan. Nietzsche kenne sich mit Schmerz aus, deshalb helfe ihm das Lesen.

Zendinans Familie sammelt Geld, denn die Flucht ist teuer. Im Herbst 2015 bricht er auf, zuerst in die Türkei. Von dort schicken ihn Schlepper tief in der Nacht auf einem völlig überfüllten Schlauchboot über das Mittelmeer. Wenn Zendinan sich heute daran erinnert, spannt sich sein Kiefer an. Er habe all seinen Familienmitgliedern verboten, jemals auf diese Weise zu fliehen, sagt er, viel zu gefährlich.

In der Kleinstadt fühlt er sich sofort wohler, ganz anders als in Hamburg. Und er lernt dort die erste Person in Deutschland kennen, die sich seine Geschichte wirklich anhört

Im November kommt Zendinan in Griechenland an, so wie tausende andere Geflüchtete, in einem kalten Herbst, in dem Stürme über die Küste fegen. Er erinnert sich vage, dass er in einem Bus nach Deutschland gebracht und dort nach Hamburg geschickt wird, in eine Geflüchtetenunterkunft in Altona. Ein ganzes dunkles Jahr verbringt er dort. Privatsphäre, Rückzugsmöglichkeiten gibt es nicht, ärztliche Behandlung wegen seiner Schmerzen habe er nicht erhalten, sagt er. In der Großstadt ist ihm alles fremd, auf der Straße grüßt sich niemand. Inmitten der Millionen Menschen fühlt er sich so einsam wie nie zuvor.

Dann, im Herbst 2016, besucht er Verwandte, ebenfalls geflüchtete Jesid*innen, die in Hessisch Oldendorf eine Wohnung gefunden haben. In der Kleinstadt fühlt er sich sofort wohler, ganz anders als in Hamburg. Und er lernt dort Georg Hagen kennen, der ehrenamtlich Geflüchteten hilft. Er ist die erste Person in Deutschland, die sich Zendinans Geschichte wirklich anhört – und beschließt, ihm zu helfen, zunächst mit der Behördenpost. Als sie sich eine Zeit lang kennen, bietet Hagen ihm einen Job in seiner Gartenbaufirma an. Er setzt sich dafür ein, dass Zendinan eine Arbeitserlaubnis bekommt und umziehen darf, spricht dafür persönlich bei der Ausländerbehörde vor. Sein Einsatz wirkt, 2017 kann Zendinan nach Hessisch Oldendorf ziehen.

Ein halbes Jahr geht erst mal alles gut, doch dann kommt der Winter – und mit der Kälte wird der Schmerz so unerträglich, dass Zendinan die Arbeit aufgeben muss. Er macht einen Deutschkurs, doch wie in Zakho beansprucht der Schmerz noch zu viel Raum, um zu lernen. Auch eine Ausbildung zum Bäcker bricht er ab, Teig kneten geht nicht.

Ein Logistiklager ist der Ausweg

Doch dann vermittelt ihm ein Freund einen Job in einem Logistik­lager am Stadtrand von Hessisch Oldendorf. 2018 geht Zendinan zum ersten Mal probearbeiten und schlägt sich gut: Er ist pünktlich, zuverlässig – und bekommt einen Vertrag. Seitdem packt er 5 Tage die Woche 8 Stunden lang Paletten, mit Baumaterialien, Photovoltaik­anlagen oder Heizungen, foliert sie und beschriftet Lieferzettel.

Die Arbeit passt ihm, er ist zufrieden und lernt im Lager, wo außer ihm fast nur Deutsche arbeiten, endlich die Sprache. Auch einen Führerschein darf er über seinen Arbeitgeber machen, Auto- und Gabelstapler, für die Prüfung lernt er Deutsch lesen und schreiben.

Mit dem Geld, das er jetzt verdient, kann er sich versorgen, seiner Familie helfen – und heiraten. Wenn Faisal Zendinan davon spricht, strahlen seine Augen. Najma Silo, fünf Jahre jünger als er, kennt er noch von früher. Als sie im Irak mit ihrer Familie neben Zendinans Schwester einzieht, besorgt er sich ihre Nummer. Die beiden telefonieren täglich, Zendinan findet, es passt gut zwischen ihnen. Er schlägt vor, dass sie heiraten.

Najmas Silos Familie gibt ihr Einverständnis. Der gesetzliche Ehevertrag wird im Irak ausgestellt, ohne dass sie einander leibhaftig begegnen. Faisal Zendinan muss in Deutschland endlose Behördengänge erledigen, Papiere und Nachweise zusammensuchen, etwa ein Jahr dauert der Prozess. Am 4. August 2024 landet seine Frau in Hannover. Er holt sie ab, bringt Blumen mit, Freunde und Verwandte.

„Najma soll es gut haben, leichter als ich“, wünscht er sich. Aber einfach ist es nicht: Najma Silo spricht kein Deutsch, kein Englisch, ihre Familie ist jetzt weit weg. In Hessisch Oldendorf besucht sie einen Deutschkurs, arbeitet wie ihr Mann im Lager und packt dort kleine Pakete.

In einigen Monaten soll das erste Kind kommen. Najma Silo hofft, schnell die Sprache zu lernen und den deutschen Pass zu bekommen – genauso wie Faisal Zendinan, der ihn vor sieben Monaten beantragt hat.

In ein paar Tagen jährt sich der 3. August zum elften Mal. Zendinan achtet diesen Tag. Dieses Jahr wird er, so wie jedes Jahr, entweder etwas Geld spenden, an eine Familie im Irak – 100 oder 200 Euro, je nachdem, was gerade geht. Oder er wird ein paar Freunde einladen und feiern, dass er nicht tot ist. Das sei das Wichtigste, sagt Zendinan: „Nur wenn du noch lebendig bist, kannst du weitermachen.“ Luisa Faust

Geht man mit Boshi am See entlang, grüßt sie sich mit vielen auf Bayerisch Foto: Erol Gurian

Sie sagt den Fremden, wo’s langgeht

Die Syrerin Najd Boshi ist 2014 von Schleusern auf einer verlassenen Insel ausgesetzt worden und überlebte. Sie hat sich in Tegernsee ein zweites Leben aufgebaut – zunächst als Bootskapitänin, dann bei der Touristeninformation.

Am 3. September 2014 um vier Uhr morgens steigt Najd ­Boshi im syrischen Aleppo mit einem kleinen Rucksack, befüllt mit dem Nötigsten, in ein Taxi. Drei Frauen insgesamt, sie kennen sich nicht. Der Fahrer bringt sie 120 Kilometer Richtung Westen, nach Antakya in der Türkei. Boshi ist 37 Jahre alt, und sie will raus aus Syrien. Raus aus dem Krieg, der eine Straße nach der anderen in ihrer Heimatstadt Aleppo in Schutt und Asche legt. Wo es nichts zu essen gibt. Wo Menschen wahllos beschossen werden. „Die Leichen liegen auf der Straße herum“, sagt sie, „abgetrennte Gliedmaße.“

So erzählt es Najd Boshi im Sommer 2025 am Tegernsee, wo sie heute wohnt. Boshi ist damals entkommen. Heute lebt sie ein zweites Leben in Deutschland, es ist eine Aufsteigerinnengeschichte: Boshi verbrachte zunächst ein Jahr im Asylbewerberheim, wurde Kassiererin, arbeitete bei der Tegernseer Schifffahrt, wurde dann sogar Kapitänin – als erste Frau überhaupt auf dem Tegernsee. Heute arbeitet sie in der städtischen Tourist-Info. Sie scheint angekommen. Das zeigt sich auch an ihrem liebsten Hobby, dem Wandern: Boshi liebt die Berge der Umgebung, geht rauf auf den Neureut, den Galaun oder auch das schon in Österreich gelegene Ebner Joch, immerhin 1.957 Meter hoch. Steht sie oben auf dem Berg und schaut auf die Landschaft, dann denkt sie: „Wie toll ist das Leben?“

Dass Najd Boshi heute solche Sätze sagt, ist alles andere als selbstverständlich. Boshi wird 1977 in Aleppo geboren und wächst dort auf. „Mama und Papa, die Großeltern, die ganze Familie – alle sind aus Aleppo.“ Aleppo ist die größte Stadt Syriens, sie hat heute rund 2,1 Millionen Einwohner, drei Viertel der Stadt wurden im Krieg zerstört. Sie ist ein Mittelschichtskind, wie sie sagt. Ihr Vater hat medizinische Geräte vertrieben und starb bereits 1995, da war sie 18. Die Mutter stammt aus einer reichen ­Familie. „Deshalb hat sie nicht ­lesen und schreiben gelernt“, erzählt sie. „Das war nicht üblich bei Mädchen in einem reichen Haus.“ Drei Schwestern und drei Brüder hat Boshi.

Nach der Schule studiert sie Anglistik. „Mama hat das nicht verstanden. Ich sollte heiraten.“ Sie bekommt einen Job in der Univerwaltung, studiert weiter nebenher. Sie heiratet einen Architekten, 2003 bekommt das Paar eine Tochter. 2007 war dann ein weiteres „großes Jahr“ für sie, wie sie sagt: „Ich habe meinen Bachelor gemacht, unseren Sohn bekommen und eine kleine Wohnung gekauft.“ Ihr Mann, die Kinder und sie leben dennoch zunächst weiter bei seinen Eltern.

Mit Beginn des Bürgerkriegs 2011 ändert sich alles für Boshi. Aleppo wird zum Schlachtfeld. „Auf der einen Seite ein paar Kilometer entfernt die Rebellen, auf der anderen die Regierungstruppen“, sagt sie. Immer wieder kann sie tagelang die Wohnung nicht verlassen. Inzwischen hat Boshi sich scheiden lassen, die Kinder sind mal bei ihr, mal beim Vater. Sie sind stets in Gefahr, ob auf dem Schulweg oder auf dem Weg von einem Elternteil zum anderen. Aus Not heiratet das Paar sogar ein zweites Mal in Syrien, weil erst die Hochzeit es ihnen ermöglicht wieder zusammenzuwohnen und es so für die Kinder sicherer ist.

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An der Uni breitet sich der Protest gegen das Assad-Regime aus. „Die Geheimdienstleute waren überall“, erinnert sich Boshi. Sie ist in Kontakt mit Studentengruppen, die gegen die Regierung kämpfen. Der Geheimdienst verhört sie, sie soll ihre Kommilitonen nennen und sie ans Messer liefern. „Ich hab mich blöd gestellt.“ Boshi löscht all ihre Aktivitäten im Internet, um keine Spuren zu hinterlassen.

Ihr Studienfreund Ammar stellt schließlich den Kontakt zu den Schleusern her. Sie zahlt zunächst 2.800 Dollar, einer der Schleuser verspricht, dass er ihr die Flucht nach Griechenland ermöglichen wird. Ihre kleine Wohnung in Aleppo überlässt sie elf Studierenden.

Von der türkischen Grenze im Süden des Landes fliegt sie nach Istanbul. Von da aus geht es 500 ­Kilometer mit dem Bus in den Süden nach ­Izmir, in dessen Nähe sich griechische Inseln befinden. 42 Menschen aus Syrien, mehr Männer als Frauen, gehen nachts gemeinsam mit zwei türkischen Schleusern Richtung Meer und besteigen dort ein Boot.

Die Schleuser lassen ihnen zwei Kanister Wasser da

Sie setzen ab, fahren ein paar Runden. „Die Küstenwache sollte denken, dass es ein Touristenboot ist“, sagt ­Boshi. Schließlich, nach zwei Stunden, legen sie an einer Insel an. Die Schleuser lassen ihnen zwei Kanister Wasser da und sagen der Gruppe, ganz in ihrer Nähe befänden sich Willkommenszentren von Caritas und anderen Hilfs­organisationen.

Die Sy­re­r:in­nen laufen die ganze Insel ab und stellen fest: Niemand da, sie ist gänzlich unbewohnt. „Der Schleuser wollte uns einfach wegschmeißen“, sagt Najd Boshi. Sie telefonieren daraufhin mit Behörden in Griechenland, die behaupten, die Insel gehöre zur Türkei. Sie telefonieren mit Behörden in der Türkei. Doch nichts passiert, niemand kommt, drei Tage lang. „Obwohl sie wussten, dass wir auf der Insel sind.“

Eine Frau in der Gruppe äußert die Idee, die Insel anzuzünden. Dann würden sie entweder verbrennen, ertrinken oder gerettet. An verschiedenen Stellen setzen sie Büsche in Flammen und tatsächlich kommen rasch türkische Löschhubschrauber, die Wasserwacht, später die Polizei. Noch am selben Tag sind die 42 Geflüchteten wieder in Izmir. Eine Nacht schlafen sie alle im Garten des Polizeipräsidiums. „Wir haben geweint, dass wir leben“, sagt Najd Boshi.

Der nächste Schleuser, der ihr vermittelt wird, bringt sie nach Bodrum ganz im Südwesten der Türkei. Er verlangt 3.500 Dollar. Diesmal sind elf andere Sy­re­r:in­nen dabei. Sie bekommt vorab schicke Kleidung, Flipflops, ein Top. Das Flüchtlingsboot soll wie eine private Urlauberjacht aussehen. Der Schleuser, so meint sie, arbeitet auf eigene Rechnung oder ist von der Mafia. Ziel ist die 25 Kilometer entfernte griechische Insel Kos. Diesmal klappt es. In Griechenland bekommt sie vom Schleuser den echten Pass einer Spanierin namens Maria. Sie sieht ihr ähnlich, heute sagt Najd Boshi: „Ich danke Maria.“ Von Thessaloniki fliegt sie nach Mailand. Weiter geht es mit dem Zug nach München. Doch sie hat Angst, sich bei Behörden zu melden.

Ich möchte den Menschen hier zeigen, wie eine Frau aus Syrien ist. Und ich möchte erklären, warum ich hier bin, was Krieg bedeutet.

Schließlich fährt sie weiter nach Frankfurt am Main. Vor dem Bahnhof stehen Polizisten, die rauchen und nett wirken. Sie geht zu ihnen und sagt: „I come from Syria and I am here illegally.“ Die Polizisten fragen zuerst, ob sie einen Arzt braucht. Sie stellt den Asylantrag. Es ist der 24. September 2014.

Die Behörden schicken sie zurück in die Nähe von München, an den Ort, an dem sie heute noch lebt: nach Tegernsee. Dort steht eine provisorische Unterkunft, in der sie sich einfinden soll.

Zunächst lernt Boshi intensiv Deutsch. Ende August 2015 kommen auch der Mann und die beiden Kinder mit dem Flugzeug nach Deutschland, per Familiennachzug. Sie findet einen Job als Verkäuferin in einer Bäckerei, heuert später bei der Schifffahrt Tegernsee an, wird Ticketverkäuferin auf den Touristenschiffen. 2019 fragt sie der damalige Betriebsleiter der Schifffahrt, ob sie den Kapitänsführerschein machen und künftig selbst steuern möchte. Und ob sie schwimmen kann. Ja, kann sie, hat sie mit 14 in Aleppo gelernt.

Sie wird die erste Steuerfrau, die die Schifffahrt Tegernsee überhaupt je hatte.

Drei Jahre lang fährt sie über den See, es erscheinen Zeitungsartikel über sie, das Bayerische Fernsehen macht ein Porträt. „Dass ich manchmal in den Medien bin, hat mich überhaupt nicht verändert“, sagt sie. Gesprächen und Interviews verweigert sie sich nicht. „Ich möchte den Menschen hier zeigen, wie eine Frau aus Syrien ist.“ Da herrsche einige Unwissenheit. „Und ich möchte erklären, warum ich hier bin, was Krieg bedeutet.“

Man kennt sie in der kleinen Stadt

Sie und ihr Sohn Ali leben noch immer zusammen, er ist jetzt 17 Jahre alt und in der 9. Klasse der Realschule. Sie hat eine Dreizimmerwohnung von der Gemeinde gemietet. Genau hier an der Seestraße war sie 2015 einige Monate in der städtischen Turnhalle untergebracht. Man kennt sie in der kleinen Stadt, die viele Urlauber anzieht, aber nur knapp 3.600 Einwohner hat.

Geht man mit ihr die Schlosspromenade am See entlang, grüßt sie sich mit vielen auf Bayerisch: „Servus.“ Die jetzt 22-jährige Tochter Nai ist von Tegernsee nach München gezogen, sie studiert Jura. Dort wohnt sie bei ihrem Vater. Najd Boshi und er sind geschieden, zum zweiten Mal.

Mittlerweile gibt Najd Boshi bei der städtischen Tourist-Info Urlaubern Auskünfte, verteilt Stadtpläne, vermittelt Zimmer, trägt die Kulturveranstaltungen auf der Homepage ein. Zur Tochter in München hält sie engen Kontakt. „Die Kinder sind mir das Wichtigste.“ Sie lacht gerne, ist ein fröhlicher Mensch. Und sie weint immer wieder, sagt sie. „Etwa wenn ich die Kinder in der Ukraine im Krieg sehe. Das ist so schlimm.“

Ist für sie alles gut geworden? Najd Boshi sagt, sie erlebe in ihrem Alltag durchaus Rassismus, möchte aber dazu nicht viel erzählen. Damals, in der Bäckerei, sagte ein Mann, als er von ihrer Herkunft erfuhr: „Und wo hast du dein Messer?“ Sie meint, dass sie auch deshalb nicht auf der Straße angefeindet wird, weil sie auch eine Italienerin oder Spanierin sein könnte. „Dabei sehe ich wie eine typische syrische Frau aus“, sagt sie.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Als der Despot Assad im Dezember 2024 stürzt, feiert sie. Mit Tausenden Landsleuten schwenkt sie auf dem Münchner Odeonsplatz die Landesfahne. Schluss mit „54 Jahren der ­Gewalt, Ungerechtigkeit und Verbot der Meinung“, schreibt sie den Kol­le­g*in­nen von der Tourist-Info in einer Mail. Sie backt Kuchen, die anderen freuen sich mit ihr, gratulieren. Doch ob man dem neuen, sich gemäßigt islamistisch gebenden Präsidenten Ahmed al-Scharaa trauen kann, vermag Najd Boshi noch nicht zu sagen. Immerhin zeige er sich als „moderner Mann“. Wie viele Syrer sagt sie derzeit: „abwarten“.

Von der großen Familie von Najd Boshi ist keiner mehr in Aleppo. Alle Geschwister und die Mutter sind letztlich geflohen, zuerst in die Türkei, nach Ägypten, nach Dubai. Heute leben sie weit verstreut, einige in Deutschland. Vor zwei Jahren wurde die Mutter auf dem Islamischen Friedhof in Leipzig begraben.

Najd Boshi zieht es andererseits auch zurück. Sie würde Aleppo zumindest gern besuchen. Die Wohnung dort hat sie noch immer, aber sie weiß nichts über sie. Sie kann nicht hinfahren, weil sie bislang keinen deutschen Pass besitzt. „Bürokratie“, sagt sie, „das soll meine Tochter für mich erledigen.“ Anspruch auf die Staatsangehörigkeit hat sie in jedem Fall. Hier hat sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und will für die Kinder da sein, solange diese sie brauchen. In einem ist sie sich aber sicher: „Wenn ich in Deutschland bleibe, dann in Tegernsee.“ Patrick Guyton

Ahmad Shah Josoufi in einer Sport­halle in Berlin-Kreuzberg Foto: Miriam Klingl

Boxen als Therapie

Ahmad Shah Josoufi floh als Minderjähriger ohne seine Eltern aus Afghanistan nach Berlin. Heute gibt er ehrenamtlich Boxtraining und arbeitet in der Strombranche.

„Okay, Seilspringen“, sagt Ahmad Shah Josoufi und startet damit das Boxtraining. Sieben Sport­le­r*in­nen sind an diesem Sonntagnachmittag in die Turnhalle der Boxgirls in Berlin-Kreuzberg zum All-Gender-Training gekommen. Ihre Seile sirren und klacken auf den Boden, dazu ist ein leichtes Tapp-tapp der Füße zu hören. Drei Minuten Springen, 30 Sekunden Pause, danach wieder Springen. Der Schweiß ­bildet dunkle Flecken auf den T-Shirts der Teilnehmer*innen.

Nach dem Aufwärmen holt Josoufi zwei der Jungs hoch in den Ring. Während die anderen an Boxsäcken oder zu zweit auf der Fläche trainieren, zeigt er hier oben einen Bewegungsablauf. Ein Arm schießt für einen Haken lang nach vorn, gefolgt von zwei kurzen unteren mit der anderen Hand. Josoufi ­korrigiert die Bewegungen des einen Teilnehmers. Dann wendet er sich dem zweiten zu. Er lässt ihn seine Bein­arbeit vorführen und gibt Tipps, ermuntert ihn, es noch mal anders zu probieren. Zwischendurch macht er Scherze, für jeden hier hat er ein freundliches Wort und wechselt mühelos ins Englische, falls jemand kein Deutsch spricht.

Dreimal in der Woche gibt Ahmad Shah Josoufi hier im Gym der Boxgirls ehrenamtlich Training und trainiert auch selbst. Es ist der Ort, an dem er sich auspowert. Und es ist gleichzeitig der Ort, an dem er Kraft schöpft. „Ich war allein und ohne Familie in einem fremden Land mit einer anderen Kultur. ­Boxen hat mir geholfen, an mich selbst zu glauben, und es hat mir Selbstvertrauen gegeben“, sagt Josoufi. Dank des Boxunterrichts wisse er, wie er sich verteidigen und andere schützen könne. Außerdem sei Boxen die einzige Therapie gewesen, die ihm geholfen habe, sagt er und lacht.

2018 erwarb er seine erste Trainerlizenz, 2020 die zweite. Bei mehreren Berliner Vereinen hat er zwischenzeitlich Trainings gegeben und mit Kindern in einem Jugendclub am Kottbusser Tor gearbeitet. Früher habe er auch selbst an Wettkämpfen teilgenommen, erzählt Josoufi. Doch neben der Arbeit fehle ihm dafür inzwischen die Zeit.

Montag früh steigt Josoufi wieder ins Auto und fährt nach Lübbenau im südöstlichen Brandenburg. Seine Firma schickt ihn deutschlandweit auf Montage. Als Elektroniker für Betriebs­technik arbeitet er in unterschied­lichen Umspannwerken. „Wir bauen dort um und wir bauen auch neu auf“, sagt er – und erklärt: Der Strom werde teils weit weg von den Orten erzeugt, wo er am Ende gebraucht wird. Das Umspannwerk verändere ihn von Hoch- auf Mittelspannung oder von Mittel- auf Niederspannung, sodass er für die Be­woh­ne­r*in­nen von Städten oder für Betriebe nutzbar ist. „Erst dann könnt ihr damit euer Handy laden“, sagt ­Josoufi, der komplizierte Dinge gut erklären kann.

Was er Deutschland raten würde? Eine andere Betriebskultur wäre gut

Wenn es um Fragen nach Afghanistan geht, winkt er hingegen ab. „Lass uns lieber über heute reden“, sagt er dann und erzählt, dass das Unternehmen, bei dem er gerade arbeitet, auf der Suche nach neuen Mitarbeitern sei. „Sie würden gern mehr Leute wie mich einstellen“, sagt Josoufi. Denn gerade so etwas wie Montage, das macht nicht jeder: montags hin, donnerstags zurück, dabei jeweils zehn Stunden pro Tag arbeiten und an unterschiedlichen Orten schlafen. „Viele wollen lieber einen Job, bei dem sie abends zu Hause sind“, sagt er. Dazu kommt, dass viele seiner Kollegen schon etwas älter sind. Sie werden in zehn bis fünfzehn Jahren in Rente gehen.

Auf der Arbeit erlebt er auch Rassismus

„Mir gefällt mein Job“, sagt Josoufi: „Aber man erlebt schon auch Rassismus auf der Arbeit.“ In den Gesprächen mancher Kollegen komme immer wieder auf, dass Ausländer angeblich nicht arbeiten würden, dass sie kriminell seien und nur Bürgergeld abziehen wollten. „Wenn etwas passiert ist, wenn ein Ausländer etwas gemacht hat wie bei dem Anschlag in Mannheim, dann diskutieren sie den ganzen Tag. Sie denken, dass alle so sind“, sagt Josoufi.

Wenn ein Deutscher so etwas mache, sei das wiederum kein Thema. Oft sage er dann nichts, sagt Josoufi, versuche wegzuhören, obwohl er es am Ende doch hört. „Aber ich mache dann einfach meine Arbeit.“ Viele seiner Kollegen kämen aus Brandenburg. Dass er und ein anderer Kollege aus Afghanistan das genaue Gegenteil von ihren Vorurteilen sind – „das sehen sie nicht“, sagt Josoufi.

Nach seiner Ausbildung hätten ihm gleich mehrere Betriebe einen Job angeboten, erzählt Josoufi. Auch sein damaliger Ausbildungsbetrieb wollte ihn gerne übernehmen. „Ich habe dann auch direkt dort angefangen“, sagt er. „Sie haben mir damals eine Chance gegeben, das wollte ich wertschätzen.“ Und das, obwohl er auch schon während seiner Lehre Rassismus in der Firma erfahren hat, wie er erzählt. „Es war damals die gleiche abfällige Art, in der sie über Ausländer und Flüchtlinge redeten, wie heute.“

Josoufi war noch minderjährig, als er vor rund zehn Jahren aus Afghanistan floh. Dort konnte er nur die Grundschule abschließen. In Deutschland lernte er erst die Sprache, danach machte er die mittlere Reife, die die Voraussetzung für seine Ausbildung in der Strombranche war. „Es war schwer für uns. Aus der Klasse, in der ich anfing, haben es nur drei von zehn bis zum Ende geschafft, zwei Deutsche und ich“, sagt er. Besonders Biologie und Geschichte seien ihm nicht leicht gefallen. Seine Betreuerin habe damals viel mit ihm gelernt. Sie habe ihm bei der Suche nach der Schule geholfen und bei der Bewerbung für die Aus­bildung zum Elektroniker. „Sie hat mich wirklich unterstützt, ich bin ihr sehr dankbar dafür.“

In der Ausbildung kam dann mit der Fachsprache die nächste Herausforderung: „Es war eine schwere Zeit. Ich musste um 4 Uhr aufstehen und eine Stunde fahren, um rechtzeitig um 6 Uhr bei der Ausbildungswerkstatt zu sein.“ Jetzt, mit Mitte 20, hat Josoufi eine eigene Wohnung, ein Auto, einen gut bezahlten und sicheren Job. „Mein ruhiges Leben“, wie er es selber nennt.

Dass es sich für ihn und viele seiner Freunde, die wie er in einem ähnlichen Zeitraum aus Afghanistan nach Deutschland kamen, einmal so positiv entwickeln würde, war in den vergangenen zehn Jahren nicht immer absehbar. Doch ähnlich wie Josoufi haben auch sie ihre Ausbildung abgeschlossen, ähnlich wie er konnten auch sie sich aussuchen, wo sie arbeiten, sagt er.

Ich hatte Lust auf Handwerk. Und ich habe auch bemerkt, dass in dem Bereich viele Menschen gesucht werden“, erzählt Josoufi. Die damalige Bundesregierung hatte den Weg dafür zumindest etwas geebnet, mit der sogenannten Ausbildungsduldung, also einem Aufenthalt, der an eine duale Berufsausbildung geknüpft ist. Nun möchte Ahmad Shah Josoufi sich endlich einbürgern lassen. Der Antrag ist gestellt, jetzt wartet er auf Antwort.

„In Berlin habe ich Freunde aus vielen verschiedenen Kulturen gefunden“, sagt Josoufi. Aus Kontakten beim Training sind mit der Zeit Freundschaften entstanden, Bekannte sind zu Vertrauten geworden. „Ich habe vieles von der deutschen Kultur mitbekommen. Zum Beispiel Pünktlichkeit“, sagt er.

Was er andersherum Deutschland raten würde? „Flüchtlinge dürfen hier am Anfang nicht arbeiten“, kritisiert Josoufi. „Das verstehen die Leute falsch. Viele denken, dass Flüchtlinge nicht arbeiten wollen. Deutschland sollte ihnen die Chance geben, direkt ganz normal in den Arbeitsmarkt zu kommen.“

Er findet außerdem, dass Unternehmen sich um eine andere Betriebskultur bemühen sollten: „Ich höre das auch von Freunden. Sie fühlen sich nicht angenommen als Ausländer und wollen ihre Firma wechseln, damit es besser wird. Aber im nächsten Betrieb haben sie auch wieder damit zu tun.“ Dabei brauche Deutschland doch Fachkräfte, und zwar viele. „Da müssten sich die Betriebe eigentlich jetzt schon darum kümmern. Aber das Verständnis dafür, das fehlt oft noch.“ Uta Schleiermacher

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