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Demo in München: Rund 850 Menschen zeigen im Februar 2025 Solidarität mit Hanna S. und weiteren Angeklagten im „Budapest-Komplex“ Foto: Thomas Vonier/sz photo/picture alliance

Angriffe in BudapestMit welchen Mitteln gegen den Faschismus?

Die Studentin Hanna S. steht wegen versuchten Mordes an Neonazis vor Gericht. Statt eines Kunstpreises droht ihr nun eine lange Haftstrafe.

E s ist eine kleine Zahl, die Hanna S. jeden Hafttag mit einem Kugelschreiber auf ein kariertes DIN-A4-Blatt schreibt, in jedes Karo die gleiche Zahl. Eine für jeden Hafttag. Inzwischen ist die 30-Jährige bei 447 vollgeschriebenen Blättern und Hafttagen angekommen, mit jedem Papier wird es darauf immer enger und dunkler. Und jedes dieser Blätter schickt die Nürnberger Kunststudentin nach draußen, raus aus der kleinen Zelle, in der sie nun schon seit 14 Monaten sitzt, derzeit in der JVA Stadelheim, einem rotgetünchten Rundbau im Süden Münchens.

Es ist ein Ritual, um die Zeit hinter Gittern zu verarbeiten, mit Blick nur auf einen Innenhof, und die Ohnmacht, dort gefangen zu sein. Es ist aber auch der Wille, die künstlerische Arbeit fortzusetzen. Auch und gerade jetzt.

Erst vor wenigen Tagen hat Hanna S. ein paar Blätter Papier vor sich liegen, diesmal im ausladenden, holzvertäfelten Hochsicherheitssaal des Oberlandesgericht München, der unterirdisch liegt und mit der JVA verbunden ist. Sonnenlicht bricht sich durch vergitterte Dachfenster hinein. Seit Februar sitzt die Nürnbergerin hier auf der Anklagebank, seit 27 Prozesstagen. Hanna S. erscheint am Dienstagmorgen ganz in Schwarz, die Haare zum Zopf gebunden. Sie wirkt erschöpft, knetet immer wieder ein braunes Kissen, verfolgt die Verhandlung jedoch aufmerksam, macht Notizen und spricht mit ihren Verteidigern.

Egal ob in der Kunst, auf meiner Arbeit oder auf der Straße: Schau hin! Tu was! Mache! Sei laut!

Hanna S., Künstlerin

Der Vorwurf gegen sie ist schwer: Die Studentin soll im Februar 2023 an Angriffen auf Rechtsextreme in Budapest beteiligt gewesen sein – rund um den „Tag der Ehre“, bei dem Neonazis aus ganz Europa den letzten Wehrmachtswiderstand verherrlichen. Damals griffen Vermummte in Kleingruppen neun Rechtsextreme an, teils mit Schlagstöcken. Es gab schwere Verletzungen. Hanna S. soll an zwei dieser Angriffe beteiligt gewesen sein, auf einen Ungar und ein deutsches Paar. Die Anklage lautet auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, gefährliche Körperverletzung und versuchten Mord.

Bereits am 6. Mai wurde Hanna S. in Nürnberg-Gostenhof auf Geheiß der Bundesanwaltschaft festgenommen – kurz bevor sie mit ihrem Hund joggen wollte. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft. Bei einer Verurteilung wegen versuchten Mordes drohen bis zu 15 Jahre.

Der Vorwurf gegen Hanna S. ist schwer

Den Sicherheitsbehörden gilt Hanna S. nun als eine der gefährlichsten Linksextremen des Landes. Und ihr Prozess ist ein Präzedenzfall, was hierzulande beschuldigten Linken für die Budapest-Angriffe droht. Denn acht weitere Linke sitzen derzeit deshalb in Haft, denen demnächst Prozesse in Düsseldorf und Dresden bevorstehen. Auch hier lautet der Vorwurf auf versuchten Mord. Dazu kommt eine weitere Person, deren Fall bisher die meisten Schlagzeilen machte: Maja T., nonbinäre An­ti­fa­schis­t*in aus Jena, vor einem Jahr ausgeliefert nach Ungarn – rechtswidrig wie das Bundesverfassungsgericht später feststellte. Maja T. sitzt seitdem in Isolationshaft, es drohen 24 Jahre Haft. Zuletzt war T. 40 Tage im Hungerstreik.

Auf der Anklagebank: Hanna S. beim Prozessauftakt wegen der mutmaßlichen Angriffe auf Neonazis in Budapest, Februar 2025 Foto: Alf Meier/picture alliance

Hanna S. geriet dabei zunächst gar nicht ins Zentrum der Ermittlungen. Erst spät wurde sie zur Beschuldigten. Anders als bei den anderen Festgenommenen verlangte Ungarn in ihrem Fall keine Auslieferung mehr. Diese droht bisher nur noch einem weiteren Beschuldigten, Zaid A., ebenfalls aus Nürnberg. Für den syrischen Staatsbürger sieht sich die Bundesanwaltschaft als Nichtdeutschen bislang nicht zuständig.

Hanna S. sitzt nun unter verschärften Sicherheitsbedingungen in Haft – zunächst in einem besonders gesicherten Haftraum, rund um die Uhr videoüberwacht. Freizeitangebote wurden ihr verwehrt. Inzwischen wurden einige Auflagen gelockert. Doch weiterhin wird jeder Brief geprüft, Besuch findet nur unter Aufsicht und hinter einer Trennscheibe statt. Über ihren Fall wachte zeitweise ein eigens abgestellter Extremismusbeauftragter der JVA – ausschließlich für sie zuständig.

Der Vorwurf gegen sie ist schwer: Die Studentin soll im Februar 2023 an Angriffen auf Rechtsextreme in Budapest beteiligt gewesen sein

Ihre Werke seien fragil und sensibel

Dabei hätten für Hanna S. die nächsten Monaten ganz anders verlaufen sollen. Denn an ihrer Nürnberger Kunstakademie gilt sie als eines der größten Talente. Sehr engagiert, sehr kreativ, sehr präsent, wie es dort heißt. Und am 6. November sollte sie auf einer Bühne in Bonn stehen, in der Bundeskunsthalle, einem der bestbesuchten Museen Deutschlands – als Preisträgerin beim Bundeswettbewerb für Kunststudierende, ausgelobt vom Bundesbildungsministerium und Studierendenwerk. Als eine von sieben bundesweit ausgewählten Nachwuchskünstler*innen, gekürt im März. Mit 3.750 Euro Preisgeld für jeden, plus einem Stipendium von 2.250 Euro.

Mit einem Fußabtreter, gewoben aus Frauenhaaren, braun, blond, schwarz, hatte Hanna S. die Jury überzeugt. Die Textur wird erst bei genauem Blick klar – und dann auch die Botschaft. Das Abstreifen schmutziger Schuhe auf der Matte, die Demütigung von Frauen in der Gesellschaft. Oder eine meterlange Kette, geknüpft aus kleinen Gliedern aus Papierausdrucken von Gesetzestexten und rassistischen Po­li­ti­ke­r*in­nen­zi­ta­ten – bei der jedes Kettenglied für einen der mehr als 25.000 ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer steht.

In der Laudatio des Bundespreises heißt es, Hanna S. überführe gesellschaftspolitische Themen wie den Rechtsruck, Sexismus oder die „Flüchtlingskrise“ in „formal präzise und äußerst poetische Setzungen“. Ihre Werke seien, in ihren Materialien und Techniken, fragil und sensibel. Geschaffen würden damit aber „wirkmächtige, politische Bilder“, denen „sich nur schwer zu entziehen ist“. Wobei Hanna S. keine einfachen Antworten gebe, ihre Werke „belehren und agitieren nicht“.

Auch der damalige Interims-Bundesbildungsminister Cem Özdemir (Grüne) lobte die Arbeiten von Hanna S. und den anderen sechs Ausgezeichneten als „hervorragend“. Gerade die Kunst biete einzigartige Möglichkeiten, sich mit den aktuell drängenden Fragen zu beschäftigen und Menschen öffentlich zusammenzubringen, so Özdemir. Was in Zeiten, in denen die Demokratie angegriffen werde, „umso wichtiger“ sei.

Preisverdächtig: Fußabtreter aus Frauenhaar – Sinnbild für die gesellschaftliche Demütigung von Frauen Foto: adbk Nürnberg

Doch aus der Siegerehrung in der Bonner Bundeskunsthalle wird wohl nichts. Denn Hanna S. sitzt weiter in Haft und in München vor Gericht. Und dort wie an ihrer Nürnberger Akademie der Bildenden Künste fragen sie sich: Wie passen diese Bilder zusammen – das der gefeierten Kunststudentin und das der als Linksmilitanten Angeklagten? Wie gefährlich ist die 30-Jährige wirklich?

Hanna S. selbst äußerte sich bisher nicht zu den Vorwürfen, nicht nach der Festnahme und auch nicht im Prozess. Nur am zweiten Prozesstag sagte sie zu ihrem Lebenslauf aus. „Das Bild, das von mir durch die Bundesanwaltschaft und die Polizei­ gezeichnet wird, ist nicht das, was ich bin“, erklärte sie. „Es zeigt lediglich, dass sie mit aller Härte gege­n mich und die Mitbeschuldigten vorgehen.“

Einige Verletzungen lebensgefährlich

Die Bundesanwaltschaft betont vor allem die Brutalität der Angriffe: Ziel sei es gewesen, den Opfern „größtmöglichen gesundheitlichen Schaden zuzufügen“. Teilweise sei mehr als fünfzehn Mal auf den Kopf geschlagen worden, einige Verletzungen seien lebensgefährlich gewesen. Hanna S. soll laut Anklage eine vermummte Person mit roter Jacke auf einem Überwachungsvideo sein – zu sehen ist, wie diese versucht, einem Opfer Arme und Beine zu fixieren.

Die Täter seien gezielt vorgegangen, heißt es in der Anklage: Sie hätten frühzeitig zwei Wohnungen in Budapest gemietet und anonymisierte Handys genutzt. Aber: Ob Hanna S. tatsächlich die vermummte Frau in roter Jacke ist, bleibt nach 27 Verhandlungstagen umstritten – die Videos zeigen keine Gesichter, und keines der Opfer konnte sie identifizieren.

Und Hanna S. setzt im Gerichtssaal dem Bild der linken Gewalttäterin ein anderes entgegen. Sie berichtete dort von einer „schönen und recht normalen Kindheit“ in einem Dorf in Unterfranken, von ihren Schwestern, ihrer „tollen Familie“. Sie habe auf Pferden voltigiert, als Jugendliche dies auch Kindern beigebracht. Nach dem Fachabitur zog sie nach München, machte erst eine Ausbildung zur Kommunikationsdesignerin, dann in Nürnberg eine Schreinerin-Lehre am Staatstheater, kellnerte nebenbei. Sie sei schon immer jemand gewesen, die gerne auch mit ihren Händen arbeitet, sagte sie im Gericht über sich selbst.

Was Hanna S. politisierte, liegt Jahre zurück: 2017 sollte ein afghanischer Mitschüler an ihrer Berufsschule abgeschoben werden, der 20-jährige Asef. Schü­le­r*in­nen blockierten das Polizeiauto, es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. Am Ende wurde die Abschiebung abgesagt, weil es einen Anschlag in Kabul gab. „Dieser Tag hat mir die Augen geöffnet“, sagte Hanna S. – damals habe sie erkannt, „wie ungerecht diese Welt ist“.

Kurz darauf gründete sie die Initiative „Bildung statt Abschiebung“ mit, die sich zunächst für Asef einsetzte, später für ein generelles Bleiberecht von Geflüchteten in Ausbildung. Sie beteiligte sich an einem bayernweiten Bildungsstreik, protestierte gegen Lagerunterbringung und half als Schreinerin beim Bau eines Seenotrettungsschiffs für den Einsatz im Mittelmeer. „Ich kann nicht all das wissen und nichts unternehmen“, sagte sie.

Ab 2020 nahm Hanna S. dann in Nürnberg ihr Kunststudium auf. Und auch ihre Werke dort sind politisch. Sie will damit zum Nachdenken anregen, aber auch „gegen das Ohnmachtsgefühl ankommen“, wie sie sagt. In ihrem Umfeld heißt es, die Empörung über Ungerechtigkeiten, sei der Antrieb von Hanna S.' Kunst. Sie suche nach Systemfehlern und lege diese offen. Nachdem die Wohnung von Hanna S. bereits im Oktober 2023 in Nürnberg von der Polizei durchsucht wurde – damals unter dem Vorwurf, mit anderen Antifa-Graffiti gesprüht zu haben –, zerstückelte die Studentin eine Nachstellung der Akte ihrer „erkennungsdienstlichen Behandlung“ durch die Beamten. Dokumentiert war dort, wie sie sich entkleiden musste, wie ihre Tattoos oder Narben fotografiert wurden. Die Akte drillte sie zu Papierwolle und strickte daraus ein weiß-graues Hemd, hängte es auf einen Bügel. „Gedemütigt, erniedrigt und nackt“ habe sie sich damals gefühlt, notierte sie dazu.

Auch ein weiteres Werk begann Hanna S.: 324 kleine Tafeln aus grauem Karton, auf denen mit dunkelblauen Garnknötchen Lebensjahre markiert sind – die Lebensjahre jedes Todesopfer durch rechte Gewalt seit 1945. Wenn man über Monate Knötchen für die Lebensjahre der Ermordeten binde und dazu ihre Schicksale nachlese, „dann macht das was mit dir“, sagte Hanna S. Ihre Festnahme verhinderte die Vollendung des Werks.

Und die Ermittler betrieben erheblichen Aufwand, um Hanna S. festzunehmen. In Budapest wurden zunächst zwei Tatverdächtige aus Berlin gefasst. Ungarische Behörden baten daraufhin die deutsche Polizei um Hilfe. Diese glaubte, auf den Videos ein Muster zu erkennen: das der „Hammerbande“, wie sie von Boulevardmedien und Rechten genannt wird – eine Gruppe Linker um Lina E. und Johann G., die in Sachsen und Thüringen Neonazis angegriffen haben sollen. Lina E. verbüßt dafür eine mehrjährige Haftstrafe, Johann G. steht demnächst vor Gericht.

Das sächsische LKA veranlasste daraufhin Telefonüberwachungen und Observationen. So wurde im Dezember 2023 Maja T. in Berlin festgenommen. Ungarische Ermittler analysierten stundenlang Überwachungsvideos aus Budapest und verfolgten die Wege der mutmaßlichen Täter zurück bis zu einer Ferienwohnung. Über eine Türspion-Kamera erhielten sie Bilder einzelner Gesichter. Deutsche Ermittler verglichen diese mit Fotos aus dem Umfeld der bereits Identifizierten – und stießen dabei auf ein Bild von Hanna S., das sie mit einer „unbekannten weiblichen Person 15“ aus einem der Videos in Verbindung brachten. Sie war ihnen bereits aus dem Graffiti-Verfahren bekannt.

Im Prozess in München wurden nun stundenlang die Überwachungsvideos angeschaut – von den Angriffen, der Ferienwohnung, einem Restaurantbesuch, einer Straßenbahnfahrt. Das Gesicht, das zu Hanna S. gehören soll, ist dort allerdings nur undeutlich zu erkennen. Sachverständige mehrerer LKAs verglichen deshalb in Gutachten akribisch, ob sichtbare Gesichtspartien wie Zwischenbrauen, Lidplatten oder Nasenfurchen zu Polizeifotos von Hanna S. passten. Das Ergebnis: Sie sei „wahrscheinlich“ die Frau in der roten Jacke – oder die Bilder „deuten darauf hin“. Zweifelsfrei festlegen konnten sich die Sachverständigen nicht.

3D-Modell wird als entwürdigend krtisiert

Das Gericht beauftragte zudem einen Hochschulprofessor, Dirk Labudde, der Hanna S. mit Lasern vermessen ließ. Die Studentin musste sich dafür bis auf die Unterhose entkleiden, dann wurde ein 3D-Modell von ihr erstellt. Anschließend fertigte Labudde auch 3D-Modelle von Tatorten in Budapest an und prüfte, ob das Modell von Hanna S. zur vermummten Person passte. Sein Ergebnis: „Äußerst wahrscheinlich“ sei das so. Auch Sachsens Staatsschutzchef beim LKA, Denis Kuhne, pries das 3D-Verfahren und erklärte zu den Budapest-Angriffen: „Die objektive Beweislage ist aus meiner Sicht klar.“

Die Verteidiger von Hanna S., Peer Stolle und Yunus Ziyal, sehen das anders. Sie kritisieren die 3D-Methode als entwürdigend – und die Ergebnisse als unbrauchbar, weil zu ungenau. Auch Personen ähnlichen Körperbaus könnten in die Videos eingepasst werden. „Und der Sachverständige sagt selbst, dass man mit der Methode niemanden identifizieren kann“, betont Stolle. Und auch die Videoaufnahmen seien von sehr unterschiedlicher Qualität. „Die Anwesenheit unserer Mandantin in Budapest bleibt rein auf Indizien gestützt.“

Die Frage ist: Reichen dem Gericht diese Indizien? Bisher lässt sich das der Vorsitzende Richter Philipp Stoll nicht anmerken. Nur zu Beginn des Prozesses erklärte er, dass anstatt eines versuchten Mordes auch eine Verurteilung für gefährliche Körperverletzung infrage komme. Zuvor schon hatte der Bundesgerichtshof den Vorwurf des versuchten Mordes als nicht belegt gesehen – Stolls Senat aber ließ ihn dennoch zu. Und er hält auch den Haftbefehl gegen Hanna S. bis heute in Kraft. Entlastet sieht das Gericht die Studentin bisher offenbar nicht.

„Ohnmächtig“ fühle sie sich in Haft, sagte Hanna S. vor Gericht. Zudem leide sie seit Längerem unter Schmerzen, deren Ursache unklar sei. Wochenlang habe sie auf einen Facharzt warten müssen. „Es kostet wahnsinnig viel Kraft, die Nerven zu behalten.“ Dass Hanna S. immer noch in Haft sitzt, können ihre Verteidiger nicht nachvollziehen. Ihre Mandantin sei „aus einem stabilen Lebensumfeld mit Job und Wohnung gerissen“ worden, sei nie flüchtig gewesen, kritisieren sie. Dass sie sich absetzen könne, sei „fernliegend“.

Im Prozess sagten aber auch die Opfer der Budapest-Angriffe aus, im Saal oder per Video zugeschaltet. Die Angriffe seien für sie aus dem Nichts gekommen, erklärten sie. Ein Angegriffener wurde zuvor laut eigener Aussage von einer Beschuldigten auf Ungarisch gefragt, ob er zum „Tag der Ehre“ gehe. Er verneinte, weil er arbeiten müsse, aber Freunde seien dort. Dann sei auf ihn eingeschlagen worden, immer wieder, bis die Angreifer auf ein Kommando verschwanden.

Ihre rechtsextreme Einstellung spielten die Attackierten herunter: Sie seien nur zur Arbeit gefahren oder touristisch in der Stadt gewesen. Fotos zeigen die sie indes inmitten von Neonazis oder mit Thor-Steinar-Jacke, mit Mütze mit SS-Totenkopfemblem oder 88-Tattoo auf der Brust, dem Zahlencode für „Heil Hitler“. Zu ihren Verletzungen attestierten ihnen Krankenhausberichte teils zentimeterlange Kopfplatzwunden, die genäht werden mussten, auch Prellungen oder gebrochene Finger. Ein 62-Jähriger sagte, er habe aus Mund und Ohren geblutet, seit der Tat sei seine Wange taub.

Dass die Angriffe aber lebensbedrohlich waren, stellen die Verteidiger von Hanna S. infrage. Und auch der Vorwurf versuchter Mord sei „nicht haltbar“, sagt Yunus Ziyal. Ein Tatentschluss, dass die Beschuldigten es in Budapest in Kauf nahmen, die Neonazis tödlich zu verletzen, sei nicht belegbar. Der Fall sei viel zu hoch gehängt, hätte auch vor einem Amtsgericht verhandelt werden können.

Auch an der Nürnberger Kunstakademie bringen sie die Vorwürfe nicht mit dem Bild zusammen, dass sie dort von Hanna S. haben. Drei Mal wurde die 30-Jährige für ihre Arbeiten mit akademieinternen Preisen ausgezeichnet. Akademie-Sprecherin Petra Meyer verweist auf Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Hanna S. erhielt und die „große künstlerische Exzellenz voraussetzen“. Und dann folgte die Nominierung zum Bundeskunstpreis.

Die Akademie betont, dass Hanna S. noch vor ihrer Festnahme für die Nominierung in den Blick genommen worden sei. Die Jury – Professor*innen, Mittelbau und Studierende – hätten diese dann am 27. Mai vergangenen Jahres eingereicht. Nur drei Tage zuvor habe man von der Festnahme erfahren, so Sprecherin Meyer. Dies sei hochschul­intern aber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht kommuniziert worden. „Für ihre Nominierung waren folglich ausschließlich künstlerische Kriterien ausschlaggebend.“

Nach der Preisvergabe im März skandalisierten rechte Blogs und das Magazin Compact den Fall, bezeichneten Hanna S. als „Blutkünstlerin“ und warfen „RAF-Verehrung“ vor. Ein fränkischer AfD-Funktionär schrieb an das Bundesbildungsministerium und den ungarischen Botschafter, die Wahl sei „geschmacklos“. Das Ansehen Deutschlands werde in Ungarn „ruiniert“. Die bayerische AfD-Landtagsfraktion stellte einen Antrag, Maßnahmen gegen die Kunstakademie zu ergreifen, weil diese ihre politische Neutralitätspflicht verletzt habe. In Sachsen stellte die rechtsextreme Kleinpartei „Freie Sachsen“ einen Antrag, die Direktorin der Chemnitzer Kunstsammlung, die in der Jury des Bundeswettbewerbs saß, sofort zu suspendieren.

Das Bundesbildungsministerium und das Studierendenwerk reagierten nach nur wenigen Tagen. Mitte April erklärten sie, man sei über die „sehr schwerwiegenden“ Vorwürfe zum Zeitpunkt der Preisvergabe an Hanna S. nicht informiert gewesen – und habe diese Vergabe nun bis zum Abschluss des Strafverfahrens „auf ruhend“ gestellt. Auch das Preisgeld werde vorerst nicht ausgezahlt. Ob der Preis doch noch verliehen werde, entscheide sich dann „im Lichte eines rechtskräftigen Urteils“. Denn der Preis würdige nicht nur die Kunst, sondern auch die damit verbundene Person.

Mitstudierende stehen hinter Hanna S.

Auch die Nürnberger Kunstakademie zeigte sich bestürzt über die Verhaftung ihrer Preisträgerin und betonte ihr Leitbild, das Gewalt ablehne. Hanna S. habe die Debatte schwer belastet, sagt ihr Verteidiger. Zugleich gab es breite Solidarität: Linke Gruppen demonstrierten, Un­ter­stüt­ze­r*in­nen hielten Mahnwachen vor der JVA und begleiten jeden Prozesstag mit Applaus im Gerichtssaal.

Zahlreiche Mitstudierende stellten sich ebenfalls hinter Hanna S., verwiesen auf die Unschuldsvermutung und die Kunstfreiheit.Hannas Werke stünden doch für sich und seien doch genau deshalb prämiert worden. Und die Studierenden kritisieren die Hochschulleitung, dass diese nicht stärker diese Positionen vertritt und sich nicht „öffentlich und laut“ hinter ihre Studentin stellte. Bei einer Ausstellung in einem früheren Nürnberger Kaufhausgebäude im Mai wollte eine Kunststudentin, auch als Reaktion auf den Fall Hanna S., im Schaufenster einen meterlangen Druck ausstellen, mit der Parole „Fight Facism“. Die Hochschulleitung intervenierte, wegen Sicherheitsbedenken und weil man „jede Form demokratiefeindlicher Ideologie und Gewalt“ ablehne. Das Werk wurde im Postkartenformat in einen Innenraum verbannt – was unter Studierenden für heftige Kritik und Zensurvorwürfe sorgte. Auch an anderer Stelle schaukelten sich Konflikte in der Akademie zuletzt hoch – am Ende trat der Präsident zurück.

Erst vor wenigen Tagen erneuerten Studierende bei der Eröffnung der Jahresausstellung an der Akademie ihre Kritik am Umgang mit ihrer Kommilitonin. Seit 14 Monaten sitze Hanna S. in Haft, vorverurteilt, „ohne triftige Beweise“, sagte eine Rednerin.Deutschland wolle ein „politisches Exempel an jungen Menschen statuieren“ – während Rechtsextreme auf dem Vormarsch seien. Auch die Akademieleitung habe dem nicht genug entgegengesetzt. „Bei rechter Hetze hilft es nichts, die Beine still zu halten.“ Es brauche vielmehr „klare, öffentliche Stellungnahmen“, die die Kunstfreiheit verteidigten und sich gegen rechte Diskursverschiebungen wehrten.

Derweil setzt Hanna S. ihre Kunst in der JVA Stadelheim fort. Zuletzt schnitt sie aus den Nürnberger Nachrichten, die sie lesen darf, mit einem Buttermesser hunderte millimeterdünne Streifen und häkelte daraus einen Pullover – hart und starr wie ein Korsett. Und sie füllt weiter ihre DIN-A4-Blätter mit den Zahlen ihrer Hafttage.

Am 15. September könnte im Prozess ein Urteil fallen. Zwischen Freispruch und langer Haft scheint alles möglich. Vor Gericht sagte Hanna S., sie wolle nach der Haft ihre Liebsten in den Arm nehmen und ihren Hund knuddeln, den sie wie verrückt vermisse. Sie wolle sich Ärz­t*in­nen gegen­ ihre Schmerzen suchen – und ihr Studium und ihre Kunst fortsetzen.

Eine Botschaft war ihr besonders wichtig: Es sei für sie immer klar gewesen, dass man gegen Ungerechtigkeiten aktiv werden müsse. „Egal ob in der Kunst, in meinem Umfeld, auf meiner Arbeit oder auf der Straße: Schau hin! Tu was! Mache! Sei laut!“

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