Amnesty-Chefin über Luftbrücke für Gaza: „Das ist reine Symbolpolitik“
Merz' Luftbrücke für Gaza könne die Hungersnot nicht stoppen. Julia Duchrow von Amnesty Deutschland fordert Sanktionen gegen Israels Regierung.

taz: Frau Duchrow, Deutschland hat zusammen mit Jordanien eine Luftbrücke nach Gaza gestartet, um die katastrophale humanitäre Lage dort zu lindern. Was halten Sie davon?
Julia Duchrow: Das ist reine Symbolpolitik. Es ist ein sehr teures Unterfangen, das die Verteilung der Hilfsgüter nach den Prinzipien der humanitären Hilfe nicht gewährleistet. Ein Flugzeug kann nur etwa so viel transportieren wie ein Lastwagen. Die Bundesregierung muss unbedingt Druck auf die israelische Regierung ausüben, Lkw-Ladungen hereinzulassen und die Blockade in Gaza aufzuheben.
taz: Was kann die deutsche Regierung konkret tun?
Duchrow: Die Bundesregierung könnte sich für die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel einsetzen. Das Abkommen hat die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten zur Grundlage. Wir haben erdrückende Belege dafür, dass die israelische Regierung und das israelische Militär kontinuierlich Kriegsverbrechen im Gazastreifen verüben.
taz: Derzeit kommen immer mehr Berichte darüber auf, dass Gaza sich in der letzten Phase der Hungersnot befinde. Können Sie das einschätzen?
Duchrow: In Gaza gibt es ein massives Hungerproblem. In den letzten Monaten sind 101 Menschen an Unterernährung gestorben, darunter 80 Kinder. Im Winter sind Neugeborene erfroren. Die medizinische Versorgung ist völlig unzulänglich. Ab dem 7. Oktober 2023 wurde der Hunger in Gaza als Kriegstaktik und Kollektivbestrafung eingesetzt, weil eine Blockade verhängt wurde.
taz: Amnesty spricht von einem Völkermord in Gaza. Warum?
Duchrow: Im Dezember hat Amnesty International einen 300-seitigen Bericht veröffentlicht, der nach Kriterien der UN-Genozidkonvention zeigt, dass die massiven Angriffe auf die palästinensische Bevölkerung in Gaza einer genozidalen Absicht folgen. Sie sollen diese Bevölkerungsgruppe zerstören. Untersucht wurden zum Beispiel Äußerungen von Regierungsmitgliedern, die zum Genozid aufrufen. Die Totalblockade, durch die keine Nahrung, kein Wasser in das Gebiet kommen und die Angriffe auf Krankenhäuser, Friedhöfe, Schulen sind Belege für die Absicht der Zerstörung.
taz: Wenn es ein Völkermord ist, wie Sie sagen, wie kann es in der Region jemals Frieden geben?
Duchrow: Zunächst müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
taz: Wer sind die Verantwortlichen?
Duchrow: Es gibt internationale Haftbefehle gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Galant. Natürlich wurden auch gegen Hamas-Führer Haftbefehle verhängt, die leben aber nicht mehr. Es müssen alle zur Rechenschaft gezogen werden, auch jene, die den schrecklichen Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 verübt haben.
taz: Was muss für einen Frieden noch passieren?
Duchrow: Alle Verstöße gegen das Völkerrecht müssen sofort gestoppt werden. Weiter müssen die Blockade Gazas aufgehoben und die Angriffe des israelischen Militärs beendet werden. Ein nachhaltiger Waffenstillstand ist Voraussetzung für alles Weitere.
taz: Was fordern Sie von der Bundesregierung?
Duchrow: Die Bundesregierung muss den Druck auf die israelische Regierung massiv erhöhen, damit es einen Waffenstillstand gibt. Und sie muss aufhören, sich parteiisch an die Seite Israels zu stellen, auch in den Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Und es braucht einen sofortigen Stopp von Rüstungslieferungen und Militärhilfe für Israel.
taz: Deutschland hat ja die Waffenlieferungen offenbar stark reduziert. Hat die Regierung damit nicht schon Konsequenzen gezogen?
Duchrow: Nein. Es ist intransparent, welche Rüstungsgüter noch geliefert werden. Aber die Bundesregierung hat Israel auch immer wieder diplomatisch unterstützt, anstatt sich an die Seite der anderen EU-Staaten zu stellen und deutliche Worte zu finden. Zudem hat die Bundesregierung die Aussetzung des Assoziierungsabkommens blockiert. Damit hat die Bundesregierung Israels Regierung in ihrem Vorgehen in Gaza gestärkt.
taz: In New York findet eine UN-Konferenz zur Zukunft der Palästinenser und der Zweistaatenlösung statt – allerdings ohne die USA und Israel. Was erwarten Sie davon?
Duchrow: Es ist ein weiterer Versuch, diesen Völkermord zu stoppen. Ich hoffe, dass es zu einer klaren Benennung der Kriegsverbrechen kommt und zu maßgeblichem politischen Druck führt.
taz: In der fünften und letzten Stufe der Hungersnot droht Hunderttausenden Menschen in Gaza der Hungertod. Lässt sich diese Katastrophe noch verhindern?
Duchrow: Ja, indem die Blockade des Gazastreifens sofort aufgehoben wird und so viele Lastwagen wie möglich hineinkommen. Die Hilfsorganisationen – und kein Militär oder Sicherheitsfirmen – müssen die Güter nach humanitären Prinzipien, Neutralität und Unparteilichkeit verteilen können. So kann weiteres Leid noch verhindert werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Jan van Aken
„Keine Solidarität mit Hungermördern“
Zahlen der Jobcenter
Keine Belege für eine große Bürgergeld-Mafia
Schluss machen mit Spotify
Es ist aus
Wirtschaftsministerin Katherina Reiche
Im Klassenkampfmodus
Jeanswerbung mit Sydney Sweeney
White Supremacy Sells
Zugunglück und Starkregen
Das neue Normal