Geophysikerin zum Erdbeben in Russland: „Das System ist noch nicht zur Ruhe gekommen“
Das Erdbeben vor Kamtschatka war das stärkste seit Fukushima. Warum Schlimmeres trotzdem ausgeblieben ist, erklärt Geophysikerin Charlotte Krawczyk.

taz: Frau Krawczyk, Sie leiten die Geophysik-Abteilung des GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung. Was genau machen Sie als Geophysikerin?
Charlotte Krawczyk: Ich schaue mit physikalischen Methoden in die Erde. Mein Spezialgebiet ist es, nicht nur natürliche Erdbebensignale zu nutzen, sondern ich entwickle seismische Sender und Empfänger, um das ganze kontrolliert angehen zu können. Mit seismischen Wellen können wir dann in den Erdkörper schauen, ähnlich wie ein Ultraschall beim Menschen.
taz: Das Erdbeben vor Kamtschatka war mit einer Magnitude von 8,8 das stärkste weltweit seit dem Tohoku-Beben 2011, das die Katastrophe von Fukushima ausgelöst hat. Dafür sind die Schäden diesmal ziemlich gering, oder?
Krawczyk: Ja, auch die Höhe der Tsunami-Welle ist wesentlich niedriger, als man bei so einem Beben erwarten würde. Warum das so ist, kann man noch nicht genau beschreiben. Wir werten gerade die Nachbeben aus, die noch immer passieren. Das ganze System ist noch nicht zur Ruhe gekommen.
taz: Sind die geringen Schäden ungewöhnlich für ein Erdbeben dieser Stärke?
Krawczyk: Das Epizentrum des Bebens war nicht direkt unter dem Land, sondern 30 Kilometer vor der Küste Kamtschatkas. In einer Tiefe von 21 Kilometern. Das ist für ein Beben dieser Magnitude zwar nicht besonders tief, aber die Region ist einfach wesentlich weniger dicht besiedelt als zum Beispiel die Türkei und Syrien, wo 2023 die Magnitude kleiner war, aber viel mehr passiert ist. Deshalb sind dieses Mal viel weniger Menschen betroffen.
taz: Japans Küste wurde von Tsunami-Wellen mit einer Höhe zwischen 30 Zentimetern und 1,3 Metern getroffen. Für Laien klingt das erst einmal wenig. Wie gefährlich ist ein Tsunami dieser Größe?
Krawczyk: Das kommt auf den Küstenbereich an, auf den die Welle zuläuft. Ist es eine Steilküste, bei der es beispielsweise einen Abpralleffekt geben kann oder ist es eher flach und die Wellen können sehr weit ins Landesinnere auflaufen? Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Es kommt auch darauf an, wie eng die Küstenbereiche bebaut sind oder ob es Vorkehrungen gibt, damit die Wellen auslaufen können.
taz: Reichen bei 30 Zentimetern nicht Gummistiefel aus?
Krawczyk: Das kommt auf die Geschwindigkeit an. Läuft die Welle ganz langsam auf, vielleicht. Gezeiten haben ja auch diese Höhen. Wenn es aber plötzlich passiert, ist es etwas ganz anderes.
taz: Besteht in der Region noch ein akutes Risiko?
Krawczyk: Genau kann man das nicht sagen. Im Moment gehen wir davon aus, dass die Nachbeben kleiner sein werden. Aber garantieren kann man das nicht, wir arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten. Aber auch die Nachbeben, die jetzt kommen, haben große Magnituden zwischen fünf und sechs. Das sind keine kleinen Erdbeben. Insofern wird da gerade wirklich mächtig viel Spannung abgebaut, sodass man vermuten könnte, dass ein noch größeres Beben unwahrscheinlich ist.
taz: Im Raum Istanbul wird derzeit auf ein Jahrhundertbeben gewartet. Wie ist das in der Region Kamtschatka?
Krawczyk: Die Wiederholungszeit von dieser Art von Megabeben liegt bei 75 bis 100 Jahren. Das letzte historisch berichtete große Erdbeben in der Region fand 1952 statt, mit einer Magnitude wahrscheinlich neun.
taz: War das jetzige Beben so ein Wiederholungsbeben?
Krawczyk: Das kann man sich derzeit so vorstellen. Aber diese Prognosen haben natürlich eine Unschärfe.
taz: Haben die vergleichsweise geringen Schäden damit zu tun, dass das Beben vorhergesehen wurde?
Krawczyk: Dort, wo wir den Erdbebenherd lokalisiert haben, hat es vor zwei Wochen eine Schwarmbebenaktivität gegeben, also mehrere Erdbeben in sehr kurzer Zeit. Ob sie das große Beben angekündigt haben, wissen wir noch nicht, aber ohne sie hätten wir nicht so genau hingeschaut. Das Frühwarnsystem im Pazifik hat sehr gut funktioniert und die Länder konnten früh warnen und evakuieren. Deshalb sind die globalen Netzwerke so wichtig.
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