DLRG-Präsidentin Ute Vogt: „Schwimmen ist zu einer sozialen Frage geworden“
Ute Vogt ist Präsidentin der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft. Sie kritisiert: Viele Bäder sind marode und Kinder lernen nicht mehr schwimmen.
taz: Frau Vogt, Ende Juni war dieses Jahr das bislang tödlichste Badewochenende, mindestens 15 Menschen kamen ums Leben. Über alle Altersgruppen hinweg ertrinken meistens Männer, auch die Zahl junger Ertrunkener ist gestiegen. Woran liegt das?
Ute Vogt: Das liegt ganz klar an Selbstüberschätzung. Wir kennen Fälle, wo junge Männer einen Fluss durchschwimmen wollten und die Strömung unterschätzt haben. Flüsse sind gemessen an der Zahl der Badenden die mit Abstand gefährlichsten Badegewässer. Viele achten auch nicht auf die Wassertiefe oder springen überhitzt ins Wasser und bekommen dann einen Kreislaufzusammenbruch.
Ute Vogt, 60, ist seit Oktober 2021 Präsidentin der Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Von 1994 bis 2005 und 2009 bis 2021 war sie Mitglied des Deutschen Bundestags für die SPD, zwischenzeitlich war sie stellvertrende Fraktionsvorsitzende.
taz: Durch den Klimawandel gibt es längere und intensivere Hitzeperioden. Steigt dadurch das Risiko für Badeunfälle?
Vogt: Ja, und deshalb wollen wir die Menschen dafür auch sensibilisieren. Während längerer Hitzeperioden suchen mehr Menschen Abkühlung in den Gewässern. Und wenn mehr Menschen vor Ort sind, steigt auch die Unfallgefahr. Bei Hitzewellen können vermehrt Herz-Kreislauf-Probleme auftreten. Bei Sportgeräten wie Stand-up-Paddles ist das ein echtes Problem. Da steht man lange in der Sonne, und bei einem plötzlichen Sturz ins kalte Wasser kann es richtig gefährlich werden. Wir haben auch immer wieder Nichtschwimmer auf diesen Paddles erlebt. Wichtig wäre auch eine gesetzliche Schwimmwestenpflicht für Kinder, wenn sie auf Booten sind.
Zwischenbilanz Mindestens 236 Menschen starben laut DLRG in den ersten 7 Monaten des Jahres, 16 weniger als im Vorjahreszeitraum. Ein Grund sei der regenreiche Juli. Im Juni hatte die Zahl der Badetoten noch deutlich über dem Vorjahreswert gelegen. Gemessen an der Zahl der Badenden seien Flüsse am gefährlichsten.
Badeverbot Düsseldorf verbietet ab sofort das Baden im Rhein. Bei einem Verstoß wird ein Bußgeld von bis zu 1.000 Euro verhängt, wie Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt in dieser Woche mitteilte. Immer wieder war es zuvor zu Badeunfällen gekommen. Im Juni waren binnen zwölf Tagen fünf Männer ertrunken. (dpa, afp)
taz: Wie kann man denn Badeunfällen vorbeugen?
Vogt: Wir empfehlen auch erfahrenen Schwimmern, nicht allein rauszugehen und sich vorher richtig abzukühlen. Eine spezielle Boje, die man sich umbindet, kann bei Notfällen wie Krämpfen helfen, kurzfristig über Wasser zu bleiben, um auf sich aufmerksam zu machen. Sicherer ist es, möglichst in Ufernähe zu schwimmen. Am besten badet man dort, wo es bewachte Badestellen gibt.
taz: In der Vergangenheit las man immer wieder auch von geflüchteten Menschen, die ertranken.
Vogt: Das stimmt. In manchen Ländern außerhalb Europas gibt es kaum Gelegenheit, Schwimmen zu lernen. Und hier lernen sie es auch nicht, weil es viel zu wenig Schwimmunterricht gibt. Hinzu kommt der Gruppenzwang: Mitunter trauen sich junge Männer nicht zu sagen, dass sie nicht schwimmen können, und gehen im Wasser dann unter. Viele unterschätzen Seen, dabei können auch sie gefährlich sein. Es gibt Unterströmungen, Strudel und Abbruchkanten. Außerdem werden nicht alle Seen bewacht.
taz: Expertinnen und Experten sind besorgt, dass die Gefahr für Badeunfälle noch steigt, weil viele Kinder und Jugendliche nicht mehr schwimmen lernen. Ein Grund sind marode Schwimmbäder. Wie groß ist der Sanierungsstau?
Vogt: Der ist riesig. Viele Schwimmhallen wurden in den 1970er Jahren gebaut. In den 1990er Jahren hätten die Bäder saniert werden müssen, was aber vielerorts nicht geschah. Wir gehen davon aus, dass in den nächsten vier Jahren rund 800 Bäder schließen müssen, wenn sie nicht saniert werden. Im Jahr 2000 gab es bundesweit ungefähr noch 7.800 Schwimmbäder, laut Studien sind es aktuell 6.000, Tendenz fallend. Wir schätzen, dass jährlich etwa 80 Bäder verloren gehen.
taz: Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) hat sich mit anderen Verbänden zur Initiative Bäderallianz zusammengeschlossen, darin fordern sie Investitionen von jährlich 1 Milliarde Euro über zwölf Jahre und ein Bäderförderprogramm. Ist diese Forderung realistisch angesichts der riesigen Haushaltslücken in den kommenden Jahren?
Vogt: Im Koalitionsvertrag steht, dass 1 Milliarde Euro für Sportstätten eingeplant sind. Über einen Zeitraum von vier Jahren ist das aber viel zu wenig, diese Summe bräuchte es jährlich allein für die Schwimmbäder. Ein weiteres Problem: Zwar nennt der Koalitionsvertrag auch Schwimmhallen, allerdings erst an zweiter Stelle. Es ist häufig leider so, dass beim Begriff Sportstätten, der auch Schwimmbäder umfasst, die Sporthallen bevorzugt werden. Sie sind günstiger im Unterhalt als Schwimmbäder.
taz: Wahrscheinlich wegen der Energiekosten, oder?
Vogt: Genau. Hinzu kommen noch Wasser- und Personalkosten. Es gibt mittlerweile neue Bausysteme, um Schwimmhallen günstig zu bauen. Dazu zählen das 2521‑System aus den Niederlanden oder sogenannte Einfachbäder. Diese neuen Hallen können durch den modularen Aufbau preiswerter und schneller gebaut werden, durch neue Energiekonzepte sind sie günstiger im Unterhalt. Sinnvoll wäre es, wenn sich mehr Kommunen zusammentun würden, um ein Bad zu betreiben. Sie müssten natürlich leicht erreichbar sein auch für Menschen, die kein Auto haben. Die Kommunen werden beim Bäderbau und vor allem beim Unterhalt alleingelassen.
taz: Die DLRG schätzt, dass ungefähr sechs von zehn Schulkindern am Ende ihrer Grundschulzeit keine sicheren Schwimmer sind. Der Anteil an Kindern, die nicht schwimmen können, soll sich in den letzten Jahren sogar verdoppelt haben. Sind das die direkten Folgen des Schwimmbadsterbens?
Vogt: Absolut. In den Städten ist die Versorgung meist ordentlich, im ländlichen Raum ist sie oft katastrophal. Unsere Ortsgruppen fahren teils eine Stunde, bis sie überhaupt ein Bad erreichen, in dem sie Kinder ausbilden können. Durch die weit entfernten oder maroden Bäder fällt in vielen Grundschulen der Schwimmunterricht zu oft aus. Auch die Schulschließungen während der Coronapandemie haben sich negativ ausgewirkt, die Zahl der Nichtschwimmer bei Kindern hat sich verdoppelt.
taz: An vielen Schulen fehlen auch noch die Schwimmlehrer, was die Situation verschärft.
Vogt: Ja, deshalb unterstützen wir die Lehrkräfte mit unseren Ortsgruppen. Davon haben wir bundesweit etwa 2.000, dazu gibt es noch den Deutschen Schwimmverband, der auch Unterricht gibt. Aber wir kommen an unsere Grenzen; wir können nicht ehrenamtlich auffangen, was strukturell in der Bildungspolitik versäumt wird. Die Nachfrage nach Schwimmkursen ist auf jeden Fall da. Fast jede Ortsgruppe hat eine lange Warteliste.
taz: Wie lernen die Kinder dann aber Schwimmen, wenn der Unterricht so oft ausfällt?
Vogt: Meist nur, wenn die Eltern einen besonderen Wert darauf legen. Schwimmen ist mittlerweile zu einer sozialen Frage geworden. Kinder aus wohlhabenderen Familien wird das Schwimmen eher beigebracht, weil es dort häufig eine gewisse Familientradition hat. Es ist weniger eine Geldfrage, weil die Eintrittspreise subventioniert werden. In vielen Familien mit niedrigem Einkommen geht Schwimmen vielmehr als Kulturtechnik verloren, weil es nicht als lebensnotwendig betrachtet wird. Dabei ist Schwimmen wie Lesen und Schreiben eine Grundfertigkeit, die jeder Mensch beherrschen muss.
taz: Als erstes Schwimmabzeichen können Kinder das Seepferdchen machen, das oft als Meilenstein gefeiert wird. Sind sie damit sichere Schwimmer?
Vogt: Nein, das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Das Seepferdchen ist kein Schwimmabzeichen und bedeutet, dass sich ein Kind unter optimalen Bedingungen im Schwimmbecken einige Meter über Wasser halten kann. Vielleicht kann es auch einmal kurz den Kopf unter Wasser tauchen, aber nicht sicher schwimmen. Das müssen Eltern unbedingt wissen. Wirklich sicher sind die Kinder erst, wenn sie das Schwimmabzeichen Bronze haben, früher auch Freischwimmer genannt.
taz: Sie sind als DLRG auch im Katastrophenschutz tätig, etwa bei der Flutkatastrophe im Ahrtal.
Vogt: Ja. Dort haben wir gemerkt, wie sich die Hochwasser durch den Klimawandel verändert haben. Früher waren sie oft stehendes Wasser, jetzt sind es richtige Fluten. Deshalb bilden wir mehr Menschen zu Strömungsretterinnen und Strömungsrettern aus. Sie lernen, wie man sich abseilt und gegenseitig absichert. Wir mussten auch unsere Ausrüstung anpassen. Die klassischen Hochwasserboote sind im Ahrtal reihenweise umgekippt, seitdem nutzen wir noch mehr Schlauchboote mit Aluboden.
taz: Bei der DLRG arbeiten fast alle ehrenamtlich, auch Sie im Präsidium. Gibt es genug Nachwuchs?
Vogt: Davon können wir nie genug haben (lacht). Aktuell haben wir mit 630.000 Menschen einen neuen Mitgliederrekord, das ist wunderbar. Ein Problem ist aber, dass viele junge Menschen weniger freie Zeit auch in den Ferien haben, weil sie arbeiten oder für Prüfungen lernen müssen. Das merken wir: Früher waren Rettungsschwimmer bis zu drei Wochen an der Küste oder am See, heute sind sie oft nur noch für eine Woche verfügbar.
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