Minderheitenkonflikte in Syrien: Ohne Aussicht auf Befriedung und Versöhnung
In der syrischen Provinz Suweida kam es im Juli zu blutigen Kämpfen zwischen drusischen und beduinischen Milizen. Die Waffenruhe ist fragil.
A uf dem Vorplatz des Verteidigungsministeriums in Damaskus fräst sich ein Bulldozer langsam durch einen Teppich aus Trümmern und Staub. Zweieinhalb Wochen nach dem israelischen Luftangriff klafft noch immer ein dunkles Loch in der Fassade des weiß gestrichenen, vierstöckigen Gebäudes. Zerborstener Beton, verkeilte Stahlteile. Sie bilden einen deutlichen Kontrast zur begrünten Insel des angrenzenden Umayyaden-Platzes, wo akkurat geschnittenes Gras und gelbe Blumen der trockenen Sommerhitze trotzen. „Irfa’ ra’sak enta suri“ – Hebe deinen Kopf, du bist Syrer – hallte es hier im vergangenen Dezember, als Tausende Menschen das Ende des Assad-Regimes bejubelten.
Schon damals mischten sich Zweifel in die Euphorie, ob unter den gefeierten Befreiern der islamistischen Miliz Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) und dem heutigen Präsidenten Ahmed al-Scharaa allen Menschen im Land eine sichere Zukunft vergönnt sein wird. Die Massaker an Alawit*innen im Frühling 2025, der Terroranschlag auf eine christliche Kirche in Damaskus vom Juni und das Blutvergießen im Juli in der südlichen Provinz Suweida – all das erschüttert den Glauben an einen friedlichen Neuanfang.
Syrien ist ein tief verwundetes Land, dessen Risse sich nicht schließen, sondern vertiefen – symbolisch sichtbar am Verteidigungsministerium im Zentrum der Macht. Und spürbar bei denjenigen, die mittlerweile lieber im Verborgenen sprechen als lautstark ihre Stimme zu erheben.
Man begegnet ihnen in Jaramana, einem Vorort von Damaskus mit engen Gassen und hohen, schmucklosen Wohnblöcken. Viele Christ:innen und noch mehr Drus:innen leben hier dicht an dicht. So auch Oum Wahid, die wie alle Menschen in diesem Text darum bittet, ihren echten Namen nicht zu nennen. Auf einem der rot gepolsterten Sofas in ihrem kleinen Wohnzimmer hat Oum Wahid den Kopf ihrer Mutter auf zwei Kissen gebettet. Die orientierungslos wirkende Greisin wimmert und stöhnt vor Schmerz. Ihre Tochter streicht ihr die grauen Haare aus dem Gesicht und sagt: „Schuss in den Oberschenkel.“ Außer ihrer Mutter haben noch weitere Familienmitglieder bei ihr Zuflucht vor der Gewalt in Suweida gefunden. Wirklich sicher, sagen sie, fühlen sie sich trotzdem nicht.
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Überfall auf einen Gemüsehändler
Bereits in den Monaten zuvor hatten Zusammenstöße zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppierungen Dutzende Todesopfer in den drusisch-dominierten Teilen Syriens gefordert. Auch in Jaramana. Mitte Juli setzte der Überfall auf einen drusischen Gemüsehändler die bislang verheerendste Gewaltspirale in der Provinz Suweida in Gang. Dort leben die meisten Drus:inen des Landes: Vor dem fast 14-jährigen Syrienkrieg zählten zu der religiösen Gemeinschaft, die sich vor Jahrhunderten vom schiitischen Islam abgespalten hat, rund 700.000 Menschen. Das entsprach etwa 3 Prozent der Bevölkerung. Neben Syrien existieren auch im Libanon, in Israel und den von Israel besetzten Golanhöhen sowie in Jordanien größere drusische Gemeinden. Familiäre Verflechtungen reichen oft über Landesgrenzen hinaus.
Laut der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (Sohr) starben bei den jüngsten Gefechten in Suweida 1.400 Menschen. Drusische Milizen kämpften gegen sunnitische Beduinen, woraufhin die syrische Regierung Soldaten zu deren Unterstützung entsandte und Israel wiederum Luftangriffe auf Seiten der drusischen Milizen unternahm.
Etwa 175.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen vor den Kämpfen geflohen. Ein zweiter, von den USA vermittelter und am 19. Juli in Kraft getretener Waffenstillstand, hält bislang. Noch.
Den Kämpfen zugrunde liegen zwei ungelöste Konflikte: der Jahrhunderte alte Disput um Land, Macht und Ressourcen im Süden des Landes. Und die Frage, inwieweit die Drus:innen bereit sind, sich der neuen staatlichen Ordnung Syriens unterzuordnen. In diesem Punkt ist die Religionsgemeinschaft gespalten, so wie ihre geistlichen Führer auch. Durch Verbreitung von Falschinformationen und mit ideologischer Rhetorik – das zeigt der jüngste Gewaltausbruch – können so jederzeit erneut Kämpfe aufflammen.
Sie hätten der neuen Regierung zunächst offen gegenübergestanden, sagen Oum Wahids Verwandte aus Suweida. Erste Zweifel kamen auf nach den Massakern an Alawit:innen, die derselben religiösen Minderheit angehören wie der geschasste Diktator. Assad selbst hatte sich lange als Beschützer von Minderheiten im Land inszeniert, auch einige Drus:innen in einflussreichen Positionen installiert und gehofft, die Gemeinschaft so an sich zu binden. Aus dem Syrienkrieg hat sich die drusische Gemeinschaft in Suweida weitestgehend herausgehalten. Gänzlich unberührt von der Gewalt blieb die Region dennoch nicht – 2018 griff der selbsterklärte Islamische Staat Suweida an. Außerdem protestierten hier kurz vor seinem Fall Tausende Menschen gegen das Regime.
Ein zerstörter Van
Weil ihre Gemeinschaft in den vergangenen Monaten immer mehr Gewalt erfahren habe, könnten sie ihre Waffen nicht vollständig abgeben, sagen die drusischen Geflüchteten im Wohnzimmer von Oum Wahid. Ihr Neffe Suhail tastet seinen Brustkorb nach den gebrochenen Rippen ab, der rechte Fuß des Teenagers ist eingegipst. Gemeinsam mit einem Cousin sei er von Bewaffneten angehalten worden, berichtet Suhail: „Sie haben uns als Ungläubige und Schweine verunglimpft.“ Mit ihrem Wagen hätten ihn die Männer über den Asphalt geschleift und gedroht, ihn zu überfahren. Dann schossen sie auf ihn. Sein Cousin habe die Männer angefleht, ihn am Leben zu lassen. Vergebens. Er sei exekutiert worden.
Wie die Täter ausgesehen hätten? Suhail antwortet ohne zu zögern: In schwarze Uniformen seien sie gekleidet gewesen, so wie reguläre syrische Sicherheitskräfte. Einige hätten lange Haare und Bärte getragen und eine Sprache gesprochen, die Suhail nicht verstanden habe – vielleicht ausländische Kämpfer.
Eine seiner Schwestern zeigt auf ihrem Smartphone das Bild eines lädierten, weißen Minivans, dem die Scheiben fehlen. Nachdem sie sich von ihrem Dorf bis nach Suweida-Stadt durchgeschlagen hatten, um mit dem Van aus der gleichnamigen Provinz zu fliehen, seien sie zwischen zwei Checkpoints beschossen worden, erzählt das Mädchen. Ein Onkel und eine Tante sowie zwei weitere Insass:innen seien getötet worden. Auch dieses Mal wären es syrische Sicherheitskräften gewesen, die das Feuer eröffnet hätten.
Unabhängig überprüfen lassen sich diese Schilderungen derzeit nicht.
Es wäre jedoch nicht das erste Mal, dass sich bewaffnete Einheiten, die formal der Übergangsregierung unterstehen, an konfessioneller Gewalt beteiligen. Zu diesem Schluss kam Ende Juni etwa eine Recherche der Nachrichtenagentur Reuters, in der die Namen mehrerer Einheiten genannt werden. Angesichts der Gräueltaten an der alawitisch geprägten Westküste beauftragte al-Scharaas Regierung eine Kommission zur Untersuchung der Geschehnisse. Laut dem im Juli vorgelegten Bericht wurden rund 300 Tatverdächtige ermittelt, denen Raub, Folter und Plünderungen vorgeworfen werden. Rund 40 Personen seien bisher festgenommen worden. Ob sich darunter auch Mitglieder der Sicherheitskräfte befinden, ist nicht bekannt. Racheakte, nicht Ideologie hätten bei der Gewalt im Vordergrund gestanden, erklärte die Kommission. Beweise, dass militärische Befehlshaber ihren Einheiten „Verstöße“ angeordnet haben, gibt es laut ihrem Bericht nicht. Syrische NGOs und Human Rights Watch widersprechen dieser Darstellung.
Nach dem Gewaltausbruch in Suweida verspricht die Regierung ebenfalls eine Untersuchung binnen drei Monaten. Für nicht wenige Syrer:innen hören sich solche Ankündigungen und das wiederholte Heraufbeschwören der Einheit des Landes durch die Regierung immer mehr nach Lippenbekenntnissen an. Sie sollen vor allem Investor:innen und Geldgeber:innen im Ausland besänftigen. Von einer echten Aufarbeitung der Verbrechen während des Syrienkriegs und einer Aussöhnung der Gesellschaft ist das Land hingegen weit entfernt. Mit Blick auf den kurdisch dominierten Nordosten fürchten viele bereits die nächste Eskalation. Erst recht, nachdem Syriens Regierung die Türkei laut Medienberichten um mehr Unterstützung in Verteidigungsfragen gebeten hat.
Wie weit die Spaltung der Menschen im Land aktuell reicht, wird auch in Izraa offensichtlich. Eine Kleinstadt, eine gute Autostunde südlich von Damaskus. Auf der Treppe einer Schule liegen Kleidungsstücke und Schaumstoff einer alten Matratze lose verstreut. An ihrer Außenwand hat jemand vor einigen Monaten mit frischer Farbe ein Herz in den Farben der syrischen Revolutionsfahne gepinselt, darunter steht in arabischer Schrift: „Mit Wissenschaft bauen wir das Vaterland auf“. Nun dient die Schule als Notunterkunft. Zehn Beduinenfamilien verteilen sich hier auf die Klassenzimmer. In Suweida, erzählen sie, hätten sie teilweise mit Drus*innen in denselben Dörfern gelebt. Zwar getrennt voneinander, aber doch Seite an Seite. Auch diese Menschen berichten der taz von gebrandschatzten Häusern, von Willkür und brutal getöteten Angehörigen. Nur die Täter in ihren Erzählungen sind andere.
„Lass sie verbluten“
In einem der Klassenräume sitzt Maha auf einem grünen Teppich und streckt ihr bis übers Knie eingegipste Bein von sich. Beide Arme sind bandagiert. Als Bewaffnete in ihr gemischt bewohntes Dorf eindrangen, habe sie sich mit ihrer Mutter und Großmutter sowie anderen Verwandten in einem steinernen Schuppen versteckt, erinnert sich die 17-Jährige. Über eine Stunde harrten sie darin aus, dann näherten sich die Kämpfer und feuerten so lange, bis es um das Mädchen ganz still wurde. Obwohl sie versucht habe, sich nicht zu rühren, hätten die Männer schließlich entdeckt, dass Maha als Einzige überlebt hatte. „Lass sie liegen und verbluten“, habe einer der Männer gesagt. Dann zogen sie ab.
Die Angreifer sollen einer drusischen Miliz angehört haben, die dem umstrittenen Geistlichen Hikmat al-Hijri nahesteht. Er hatte in den vergangenen Monaten während den Verhandlungen zwischen Vertretern der drusischen Gemeinschaft und der Regierung in Damaskus immer wieder verbal gegen al-Scharaas Regierung gehetzt. Während der Kämpfe im Juli rief al-Hijri die internationale Gemeinschaft zum Schutz der Drus:innen auf. Kurz bombardierte Israel Gebäude in Damaskus und stilisierte sich als Schutzmacht der Drus:innen in Syrien. Die Intervention des Nachbarstaats – mit dem Damaskus auf Drängen der USA eigentlich gerade Normalisierungsgespräche führt – trägt im derzeitig angespannten Klima zu Pauschalisierungen und Verunglimpfungen der drusischen Gemeinschaft bei.
Auch in der Schule in Izraa glauben die anwesenden beduinischen Familien, dass ihre früheren drusischen Nachbar*innen sie nun verraten haben oder verraten könnten. Drus*innen hätten etwas gegen die Sunnit*innen, sagt ein Mann, sie brächten Gewalt über seine Gemeinschaft und hielten die Beduin*innen. die seit Jahrhunderten in Suweida leben, klein.
Und was denkt er über die sunnitischen Stammeskämpfer, die aus Aleppo, Homs und anderen Landesteilen in den Süden vorgerückt sind und denen Drus:innen ebenfalls Massaker an der Zivilbevölkerung vorwerfen? „Diese Kämpfer sind gekommen, um uns zu retten“, sagt der Mann.
Für die Anerkennung des Leids der anderen ist offenbar kein Platz.
Ein Hoffnungsschimmer
Doch es gibt sie, die Grautöne. Maha erzählt, dass es drusische Nachbar:innen gewesen seien, die sie unter ihren getöteten Verwandten hervorgezerrt und in ein Krankenhaus gebracht haben. Dass das Mädchen Beduinin ist, hätten sie geheim gehalten und ihr so vermutlich das Leben gerettet. Andererseits, erzählen die Menschen in der Schule, wären sie später von der drusischen Zivilbevölkerung in einer Moschee eingeschlossen worden. Dort wurde ihnen Wasser und Nahrung verwehrt und sie seien als Geiseln gehalten worden, um wiederum gefangengenommene Drus:innen freizupressen.
Diese Schilderungen kann die taz ebenfalls nicht unabhängig überprüfen, aber es gibt ähnliche Berichte von Augenzeug*innen. Mithilfe des Roten Halbmondes wurden die beduinischen Familien schließlich aus Suweida evakuiert.
Es wird Wochen, vermutlich Monate dauern, bis einzelne Verantwortliche für die offenbar verübten Gräueltaten in Suweida identifiziert werden können. Internationale Organisationen und auch Journalist*innen hatten in den vergangenen Tagen nur begrenzt Zugang zu der Region. Hilfslieferungen haben die dort verbliebenen Menschen kaum erreicht, wofür sich Regierung und lokale Kräfte gegenseitig die Schuld geben.
In einem sind sich die Menschen einig, mit denen die taz in Jaramana und Izraa gesprochen hat: Irgendwann friedlich und wieder gemeinsam in Suweida zusammenleben – das können sie sich nicht mehr vorstellen.
Mitarbeit: Mayyar Hassan
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