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Wahlkampf ist Nahkampf: Berîvan Aymaz Anfang September auf der Suche nach Wähler:innen-Kontakt in Köln-Mülheim Foto: Bernd Arnold

Köln wählt am SonntagEine Grüne, die bei Linken beliebt ist

Berîvan Aymaz will Bürgermeisterin der größten Stadt in Nordrhein-Westfalen werden. Verschiedene Milieus schätzen die Deutsch-Kurdin. Reicht das zum Regieren?

B erîvan Aymaz kämpft. Unterstützt von einem knappen Dutzend Par­tei­freun­d:in­nen der Grünen läuft die 53-Jährige Anfang September über den Wiener Platz im rechtsrheinischen Stadtteil Mülheim. Hier ist gerade Markt. Ein knappes Dutzend Händ­le­r:in­nen verkaufen Obst und Gemüse, dazu Süßigkeiten, Kleidung und Accessoires – und überdecken so die Tristesse: Wie viele öffentliche Orte in Köln ist auch der von mittelhohen, quadratisch-schmucklosen Zweckbauten umbaute Wiener Platz zugepflastert. Nur am Rand können einige wenige Bäume im Sommer Schatten werfen.

Die Landtagsabgeordnete, die bei den am Sonntag anstehenden Kommunalwahlen Oberbürgermeisterin von Deutschlands viertgrößter Stadt werden will, setzt hier auf den Direktkontakt zu den Bürger:innen. „Am 14. September ist Kommunalwahl“, spricht Aymaz potenzielle Wäh­le­r:in­nen an – und drückt ihnen Flyer mit ihrem Konterfei in die Hand, auf denen sie bezahlbare Wohnungen, besseren Nahverkehr, mehr Klimaschutz, aber auch mehr Sicherheit im öffentlichen Raum verspricht. „Gehen Sie wählen, unterstützen Sie mich“, bittet die Kandidatin.

Die Bitte hat für Aymaz eine gewisse Dringlichkeit: Die letzten Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus: Bei der Direktwahl des Stadtoberhaupts würden sich gerade einmal 13 Prozent für Aymaz entscheiden. Doch auch der Erstplatzierte, der Sozialdemokrat Torsten Burmester, bis Ende 2024 Vorstandsvorsitzender des Deutschen Olympischen Sportbunds, kommt gerade einmal auf 15 Prozent Unterstützung, ermittelte Forsa Ende August. Und auch für den CDU-Kandidaten Markus Greitemann, bisher Baudezernent in Köln, ist die Stichwahl, also das unvermeidbar scheinende Rennen zwischen den beiden Bestplatzierten, mit 11 Prozent noch in Reichweite.

Hier im Arbeiter:innen-Stadtteil Mülheim aber, wo die Arbeitslosenquote rund 50 Prozent über der 9,3-Prozent-Quote der Gesamtstadt liegt, hat Aymaz eine Art Heimspiel: Mülheim liegt rechtsrheinisch auf der „Schäl Sick“: hier befindet man sich auf der Seite des Rheins, auf die viele der Kölner:innen, die linksrheinisch rund um Dom und Altstadt wohnen, noch immer etwas herablassend herunterblicken. Fast 50 Prozent der Menschen hier haben einen Migrationshintergrund. Und die Kandidatin, die als Parteilinke gilt, spricht mit nicht wenigen Türkisch oder Kurdisch.

NRW wählt in den Kommunen

Stadt- und Gemeinderäte, Kreistage, Bezirksvertretungen, dazu die direkte Wahl von Ober­bür­ger­meis­te­r:in­nen und Landrät:innen: Am Sonntag entscheiden rund 13,7 Millionen Wäh­le­r:in­nen in Nordrhein-Westfalen, wer künftig bei ihnen vor Ort Politik macht. Im allein mehr als 5 Millionen Menschen zählenden Ruhrgebiet wird zusätzlich das Ruhrparlament gewählt, das über die Zusammenarbeit der Region entscheidet. In Nordrhein-Westfalen gibt es insgesamt 427 Kommunen: 396 Städte und Gemeinden sowie 31 Kreise.

Wählen dürfen alle, die entweder die deutsche Staatsbürgerschaft oder die eines anderen Mitgliedslands der Europäischen Union besitzen und am Wahltag mindestens 16 Jahre alt sind. Eine 5-Prozent-Prozent-Hürde gibt es in den Kommunalparlamenten nicht – allerdings eine 2,5-Prozent-Hürde in den Bezirksvertretungen der 22 kreisfreien Städte.

Remscheid im Bergischen Land ist mit rund 113.000 Ein­woh­ne­r:in­nen die kleinste unter diesen Städten, die größte ist Köln mit mehr als 1 Million Menschen. Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt Düsseldorf kommt wie Dortmund auf mehr als 600.000 Einwohner:innen, gefolgt von den Revierstädten Essen und Duisburg.

Landesweite Umfragen zur Kommunalwahl gibt es nicht. Würde am Sonntag ein neuer Landtag gewählt, hätten sich laut einer Umfrage des Instituts Insa aus dem August 35 Prozent für die CDU, 18 für die SPD, 13 für die Grünen und 8 Prozent für die Linken entschieden. Die AfD käme demnach auf 16 Prozent.

Aymaz wurde 1972 in Bingöl, einer kurdischen Provinz in der Türkei, geboren. Mit sechs Jahren kam sie zusammen mit Mutter und Bruder ins benachbarte Bonn – ihr Vater, zuvor Bürgermeister ihrer Geburtsstadt, war dort Kulturattaché der türkischen Botschaft geworden. Doch ein Regierungswechsel in der Türkei kurz vor dem Militärputsch von 1980 änderte alles. Aymaz’ Vater wurde wegen seiner kurdischen Herkunft abberufen und weigerte sich, in die Türkei zurückzukehren.

„Er wusste, was ihm drohte“, hat Aymaz einmal während eines langen Gesprächs in ihrem Landtagsbüro erzählt – die Grüne ist Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landesparlaments. Nahe Verwandte, hatte Aymaz damals erzählt, seien in der Türkei verhaftet und gefoltert worden.

Doch auch in Deutschland waren die Folgen der Repression für die Familie dramatisch: „Auf einmal waren wir ohne Pässe, papierlos“, erinnert sich die Grüne. Ihr Vater, der ehemalige Kulturattaché, versuchte, seine Familie als Gemüsehändler durchzubringen. Später sicherte sein ursprünglicher Lehrerberuf den Aufenthaltsstaus der Familie.

Heimspiel für Aymaz: Da, wo Köln nicht so schick ist, wie auf dem Wiener Platz in Mülheim, hat Aymaz ihre Wäh­le­r:in­nen Foto: Bernd Arnold

Auf dem Wiener Platz, während Aymaz’ Wahlkampftour: Freundschaftlich, fast herzlich, reagiert Elif Kabukcu auf die Kandidatin. Das Gespräch zwischen den beiden Frauen wechselt immer wieder zwischen Deutsch und Türkisch. „Eigentlich bin ich Mitglied der Linken. Und deren Kan­di­da­t:in­nen für den Stadtrat und die Bezirksvertretung habe ich per Briefwahl auch schon gewählt“, sagt die 50-jährige Kabukcu. „Als Oberbürgermeisterkandidatin habe ich mich aber für Berîvan Aymaz entschieden.“ Wohl auch, weil dem linken Spitzenkandidaten Heiner Kockerbeck kaum Chancen eingeräumt werden, es in die Stichwahl zu schaffen.

„Ich unterstütze Berîvan Aymaz, weil sie die Wohnungsnot, die Situation von obdachlosen Menschen, die Rechte von Frauen und von queeren Menschen klar thematisiert“, sagt Kabukcu. „Tiefgreifend“ seien die sozialen Probleme in Köln, erklärt die Alleinerziehende, die während Corona eine Gruppe für Ein-Eltern-Familien in Köln-Mülheim gegründet hat. „Schicksale“ habe sie dort kennengelernt, sagt Kabukcu – etwa die Mutter mit schweren Depressionen, die keine Klinik findet, die sie gemeinsam mit ihrem Kind aufnehmen kann: Wartezeiten von einem Jahr seien keine Seltenheit.

Kabukcu erzählt von anderen Fällen: Von einer Mutter, die mit ihrem fünfjährigen Kind ohne feste Wohnung sei, von Woche zu Woche zwischen Freunden und Bekannten wechsle. Das Kind gehe deshalb nicht mehr regelmäßig in die Kita. Und überhaupt: Die „chronische Unterversorgung mit Kitaplätzen insgesamt“ sei in Köln ein Problem. Diskussionen über einen besseren Nahverkehr, enger getaktete Busse und Bahnen seien dagegen nachgerade „Luxusthemen“, findet sie.

Auch Mario Gast hat bereits für Aymaz gestimmt. Seine Sorgen will der 64-Jährige der Kandidatin an diesem Tag trotzdem mitgeben: Gast spricht über Kölns neue Schulden von fast 400 Millionen Euro allein in diesem Jahr, beschlossen vom Bündnis aus Grünen, CDU und Volt. Aymaz kontert mit von ihr abgelehnten Großprojekten wie dem U-Bahn-Bau auf der Ost-West-Achse, den der Stadtrat mit Stimmen von CDU, SPD und FDP beschlossen hat – die Grüne Fraktion verließ vor der Abstimmung den Saal.

„Der Prozess um den Ratsbeschluss zum Tunnelbau ist ein Paradebeispiel dafür, was in Köln schiefläuft“, sagt Aymaz zur Ost-West-Achse. Sie klingt dabei wie Kri­ti­ke­r:in­nen vom Bündnis Verkehrswende Köln, das mit dem Slogan „Oben bleiben“ für den Ausbau der bestehenden Straßenbahn kämpft. Die U-Bahn, deren Kosten im Milliardenbereich liegen, bringe den Bür­ge­r:in­nen dagegen kaum Nutzen, argumentiert das Bündnis: Der Zeitgewinn der nur 2,3 Kilometer langen Strecke liege bei gerade einmal drei bis vier Minuten.

Wähler Gast will jetzt noch schnell über Klimaschutz reden – also erzählt Aymaz von den 2.000 Bäumen, die sie jedes Jahr in Köln pflanzen lassen will. Mehr Pflanzen, mehr Schatten: Zusammen mit ein paar Bänken könnte so auch der Wiener Platz attraktiver werden.

Doch im Wahlkampf ist der drohende Hitzekollaps von Nordrhein-Westfalens einziger Millionenstadt keinesfalls das dominierende Thema. Glaubt man einer weiteren Forsa-Umfrage, durchgeführt von Ende Juni bis Anfang Juli, ist die Verkehrspolitik mit dem Dauerstau, in dem Köln jeden Tag versinkt, der Punkt, der die Köl­ne­r:in­nen am meisten interessiert. Erst darauf folgt der dysfunktionale Wohnungsmarkt. Dabei spricht das Bündnis „Wir wollen wohnen“, zu dem sich Mietervereine, der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB und Wohlfahrtsverbände wie der Paritätische, die Arbeiterwohlfahrt oder die Caritas zusammengeschlossen haben, längst von einer „Wohnungsnot“, die in Köln „ein dramatisches Ausmaß erreicht“ habe.

Die Konkurrenz plakatiert ebenfalls: Torsten Burmester (SPD) und Markus Greitemann (CDU) wollen beide Oberbürgermeister werden Foto: Manngold/imago

Der öffentlich geförderte Wohnungsbestand, also die Zahl der Sozialwohnungen, sei von ehemals 105.000 auf aktuell 37.000 geschrumpft, rechnet das Bündnis vor. Allein in diesem Jahr verlören 4.500 Wohnungen ihre Sozialbindung. Bei Neuvermietung koste der Quadratmeter in Köln heute deshalb im Schnitt 14,99 Euro – unbezahlbar für viele Familien und gerade für Alleinerziehende, Studierende, Rentner:innen. „Zu wenig freie Wohnungen, zu teure Wohnungen, zu wenig öffentlich geförderte Wohnungen. Das ist Köln im Jahr 2025“, kritisiert Hans Jörg Depel, Geschäftsführer des Mietervereins Köln. „So verliert die Stadt ihren sozialen Zusammenhalt.“

Für Aymaz, aber auch für ihren SPD-Konkurrenten Burmester, ist bezahlbares Wohnen deshalb das Top-Thema im Wahlkampf. „In Köln haben mehr als 45 Prozent der Menschen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein. Aber nur 6,7 Prozent des Bestands sind noch Sozialwohnungen“, rechnet Aymaz den Grund für das Marktversagen vor.

Im Wahlkampf verspricht sie deshalb, eine „Offensive für bezahlbaren Wohnraum“ starten zu wollen, sollte sie als Oberbürgermeisterin ins Rathaus einziehen: Im Rahmen einer „sozial orientierten Bodenpolitik“ sollen dann städtische Grundstücke nicht mehr an „ausschließlich renditehungrige Investoren“ verkauft, sondern nur noch über Erbbaurecht vergeben werden – „möglichst an gemeinwohlorientierte Bauprojekte und Genossenschaften, die dann günstig neuen Wohnraum schaffen“, erklärt die Grüne. Außerdem will Aymaz verstärkt Wohnheime für Auszubildende und Studierende bauen lassen. Schon heute gäben viele in Köln „ihren Ausbildungs- oder Studienplatz wieder ab, nur weil sie keine bezahlbare Wohnung finden“, umwirbt sie junge Leute gezielt auf Social Media.

Auch Sozialdemokrat Burmester verspricht „6.000 neue Wohnungen pro Jahr“, davon „1.000 neue Sozialwohnungen mit städtischem Förderprogramm“. Dazu soll eine „neue Wohnungsgesellschaft der Stadt“ gegründet werden, die selbst bauen und sanieren soll. Im CDU-Wahlprogramm von Markus Greitemann stehen dagegen konservativ-klassisch „Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit“ an erster Stelle. Punkten könnte der Christdemokrat gerade mit dem Thema Sauberkeit – viele Köl­ne­r:in­nen ärgern sich über das, was die Lokalpresse die „Vermüllung“ der Stadt nennt.

Den Ton dafür gesetzt hat die scheidende Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die nicht mehr für eine dritte Amtszeit kandidiert. In einem Interview Ende Januar mit dem Kölner Stadtanzeiger zeigte sich die 68-Jährige parteilose Rathauschefin, die 2015 von Grünen, CDU, FDP und der Wählergruppe Klima-Freunde unterstützt wurde und die am Tag vor ihrer ersten Wahl durch das Messerattentat eines Rechtsextremen schwer verletzt wurde, denkbar amtsmüde: Sie sehe eine „zunehmende Verwahrlosung“ Kölns und „schäme sich“ für „diese dreckige Stadt“.

Um „dieser Verwahrlosung zu begegnen“, gebe es restriktive Mittel, schob die Noch-Oberbürgermeisterin mit Blick auf die offene Drogenszene etwa am Neumarkt in der Nähe der Fußgängerzone nach. „Einige Städte vertreiben die Obdachlosen und Drogenabhängigen aus der Stadtmitte“, sagte Reker. Doch dafür gebe es in Köln „keine Mehrheit“ im Stadtrat.

Auf klare Ablehnung trifft der von Reker frustriert eingeforderte Law-and-Order-Kurs nicht nur bei der Kandidatin Aymaz. „Verdrängung durch rein ordnungspolitische Maßnahmen ist keine Lösung“, so die Grüne in Köln-Mülheim zur taz. „Wir erleben bereits jetzt, dass die Drogenszene schon heute auf andere Stadtteile wie etwa Köln-Ehrenfeld ausweicht.“ Die Polizei sei teilweise mit mehreren Polizeimannschaftswagen auf dem Neumarkt präsent.

Mit dem Lastenrad durch den Wahlkampf: Aymaz unterwegs in Köln-Mülheim Foto: Bernd Arnold

„Suchtkranken Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Boden liegen, muss geholfen werden“, fordert Aymaz. Nötig seien weitere, rund um die Uhr verfügbare Drogenkonsumräume – und Rückzugsmöglichkeiten, wo es Essen, Duschen sowie ärztliche und soziale Betreuung geben soll. Dadurch werde auch der öffentliche Raum entlastet und die Sorgen von An­woh­ne­r:in­nen und Geschäftsleuten ernst genommen.

Ähnlich argumentiert auch SPD-Mann Burmester, der einen weiteren Drogenkonsumraum in der ehemaligen Zentrale des Kaufhof-Warenhauskonzerns in der Innenstadt fordert. Der Christdemokrat Greitemann will sich dagegen am sogenannten Züricher Modell orientieren, einer Mischung aus Prävention, Repression, Therapie – und Vertreibung: In Zürich können nur Menschen Drogeneinrichtungen nutzen, die auch in Zürich gemeldet sind. Alle anderen werden in ihre Heimatorte zurückgeschoben.

Die Kan­di­da­t:in­nen hoffen so, eine massive Unzufriedenheit der Köl­ne­r:in­nen mit der Arbeit von Politik und Stadtverwaltung aufzugreifen. In der Anfang Juli veröffentlichten Forsa-Umfrage erklärten 64 Prozent, nichts sei in den vergangenen Jahren in ihrer Stadt besser geworden. 78 Prozent sagten dagegen, die Stadt habe sich zu ihrem Nachteil verändert – und 19 Prozent meinten, sie würden lieber woanders wohnen.

Kulturkampf von rechts

Benutzt wird diese Unzufriedenheit aber auch für eine Art Kulturkampf von rechts außen, mit dem sich Ende August sogar Tech-Milliardär Elon Musk in den Kölner Kommunalwahlkampf einmischte. „Either Germany votes AfD – or it is the end of Germany“ (etwa: „Entweder Deutschland wählt die AfD oder Deutschland ist am Ende“) postete der wohl noch immer reichste Mensch der Welt auf seinem Netzwerk X. Die AfD hat Unterstützung nötig – ihr Oberbürgermeisterkandidat kam Anfang August nur auf Zustimmungswerte von 9 Prozent.

Auslöser der erneuten massiven Werbung des einstigen Trump-Kumpels Musk für die rechtsextreme Partei war wohl der Post eines anderen X-Nutzers, der die Überschrift des rechten ungarischen Magazins The European Conservative teilte: „Köln-Wahl: AfD ist die einzige Partei, die frei über Migration sprechen kann.“ Dabei bezog sich das rechte ungarische Nachrichtenportal wiederum auf die Bild-Zeitung, die getitelt hatte, in Köln gebe es eine „bizarre Wahlkampf-Einigung“, die Parteien verpflichte, „nur positiv über Migration zu sprechen“.

Das Springer-Blatt zielte damit auf ein „Fairness-Abkommen“ der Kölner Parteien, das seit 1998 immer wieder erneuert wird: 2025 hatten Grüne, CDU, SPD, Linke, FDP, Grüne, Volt und Die Partei dafür unterschrieben. Im Kern verpflichten sich die Parteien darauf, „nicht auf Kosten von unter uns lebenden Menschen Wahlkampf zu betreiben und inhaltlich fair zu bleiben“, sowie „keine Vorurteile gegen hier lebende Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge zu schüren oder in den eigenen Reihen zu dulden“.

Eigentlich demokratischer Grundkonsens also – nicht ohne Grund wurde die AfD, die in Köln Sprüche wie „Abschieben statt Einfliegen“ plakatiert, erst gar nicht um ihre Unterschrift unter das Fairness-Abkommen gebeten. Und natürlich erklärte die rechtsextreme Partei schnell, eine solche Erklärung auch überhaupt nicht unterzeichnen zu wollen.

Allerdings heißt es in dem seit fast 30 Jahren immer wieder neu aufgelegten Abkommen etwas missverständlich auch, Mi­gran­t:in­nen sollten „nicht für negative gesellschaftliche Entwicklungen wie die Arbeitslosigkeit oder die Gefährdung der inneren Sicherheit“ verantwortlich gemacht werden. Wohl gerade deshalb konnten diverse Medien das Abkommen für ihre Agenda nutzen: „Probleme durch Migration sollen in Köln nicht stattfinden – zumindest nicht im Wahlkampf“, hieß es etwa in einem Kommentar des NRW-Regionalfensters des TV-Senders RTL.

Das Magazin Focus zeigte sich „entsetzt“ über einen „Asyl-Schweigepakt“ und nannte migrantisch geprägte Stadtteile Kölns wie Mülheim „Verbrechens-Hochburgen“. Und das rechtspopulistische Online-Magazin Tichys Einblick verglich das Fairness-Abkommen mit dem Schweigegelübde Omertá der sizilianischen Mafia – und hämte, das „leidige Thema“ Migration könne schon „wegen der inzwischen alltäglichen Gewalttaten, Messerangriffe, Hinrichtung von Polizisten, Vergewaltigungen, Drogendelikten, Bandenkriegen und anderer Straftaten“ immer weniger tabuisiert werden.

Gerade der letzte Teil der Fairness-Vereinbarung, also die Verbindung zwischen Gefährdung der inneren Sicherheit und Migration, müsse vielleicht präziser formuliert werden, hat einer der beiden christlichen Ombudsleute, die über die Einhaltung des Abkommens wachen, gegenüber dem Spiegel mittlerweile eingeräumt. Natürlich müsse nach Taten wie etwa dem Terrorangriff von Solingen gesagt werden können, woher Gewalt stamme, wer Gewalt ausübe, so der evangelische Stadtsuperintendent von Köln, Bernhard Seiger. Deshalb gebe es in Köln auch keine „Sprech- und Denkverbote und auch keinen Maulkorb“.

Oberbürgermeister-Kandidatin Berîvan Aymaz, als Kind selbst Schutzsuchende in Deutschland, geht noch einen Schritt weiter: „Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet Köln zur Zielscheibe in diesem Kulturkampf von Rechten und Populisten gemacht wurde – schließlich ist unsere Stadt immer gegen Rassismus und auch die AfD aufgestanden“, sagt die Grüne.

„Grundsätzlich gibt es in Köln eine Mehrheit links der Mitte“, sagt auch der Soziologe Ansgar Hudde, der dort an der Universität lehrt und zum Thema „Politische Muster in Deutschlands Nachbarschaften“ forscht. Das zeige auch die Forsa-Umfrage von Ende August, nach der die Grünen bei der Wahl des Stadtrats mit 23 Prozent stärkste Kraft werden könnten. Die SPD käme demnach auf 20 und die Linken auf 10 Prozent. Die CDU liegt bei 17 und die AfD bei 12 Prozent. FDP und Sonstige wie etwa Volt und die Klimafreunde kommen laut der Umfrage auf zusammen 18 Prozent.

„Damit droht eine starke Zersplitterung des Stadtrats“, warnt Hudde. Zwar sei im Kölner Stadtparlarment ein Wechsel vom bisherigen grün-schwarzen, von Volt unterstützten Ratsbündnis hin zu Rot-Rot-Grün denkbar. „Eine Politik der reinen Lehre wird aber keine Partei durchsetzen können“, sagt der Soziologe.

Noch schwerer vorhersehbar sei, wer Oberbürgermeister oder Oberbürgermeisterin der Millionenstadt werde, meint Hudde: „Alle drei haben mittelmäßige Chancen“, sagt er mit Blick auf den SPD-Mann Burmester, die Grüne Aymaz und den Christdemokraten Greitemann. Bei der absehbaren Stichwahl zwischen den aktuell bestplatzierten Kan­di­da­t:in­nen am 28. September aber könne der Sozialdemokrat durchaus vor der Grünen liegen, glaubt er: „Torsten Burmester wird nicht geliebt, polarisiert aber etwas weniger als Aymaz.“ Denn ob Kölns Stadtgesellschaft, die wie etwa in Berlin auch, im Zentrum links, in den Vororten aber teils traditionell, teils konservativ und manchmal auch rechtspopulistisch tickt, in ihrer Gesamtheit wirklich reif für die erste Person mit Migrationshintergrund an der Stadtspitze ist – das gilt keineswegs als ausgemacht.

Die Kandidatur: kein Selbstläufer

Dass Aymaz’ Kandidatur alles andere als ein Selbstläufer ist, ahnen mittlerweile auch viele Grüne. Schließlich ist nicht nur die Zustimmung für die Spitzenkandidatin selbst gering. Gefragt nach der Wahl des Stadtrats, würden sich 6 Prozent weniger Wäh­le­r:in­nen für die Grünen entscheiden als bei der vorherigen Wahl 2020. Damals fuhr die Partei ein Wahlergebnis von 29 Prozent ein.

Das Problem der Grünen: Teilen der Stammwählerschaft scheint sie zu wenig progressiv. Doch wenn Aymaz gewinnen will, muss sie spätestens bei der Stichwahl eben auch die politische Mitte erreichen.

Deutlich wird das auch bei den Grünen, die Aymaz auf dem Wiener Platz unterstützen. „Viele junge Leute sagen mir: Wenn ihr eine linke Politik machen würdet, würde ich euch wählen“, erzählt die Sprecherin der Grüne Jugend Köln, Marika Esch – und freut sich, dass eine Parteilinke Rathauschefin werden will.

Teilen der Stammwählerschaft scheint Aymaz zu wenig progessiv. Doch wenn sie gewinnen will, muss sie eben auch die politische Mitte erreichen

„Gerade in der Sozialpolitik unterscheiden sich unsere Positionen kaum von denen der Linken“, findet dagegen die Anwältin Daniela Hilgers, die in Köln-Mülheim für die Bezirksvertretung kandidiert. „Manchen Wäh­le­r:in­nen sind wir zu links“, sagt die 52-Jährige, die seit 19 Monaten Parteimitglied ist, „und für andere nicht links genug.“ Und zumindest bei denen, fürchtet Hilgers, „rächt sich unser langjähriges Bündnis mit der CDU jetzt“.

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