Menschenrechtler zu Aufnahmeverfahren: „Dieser Notausgang ist jetzt grundsätzlich versperrt“
Keine humanitären Visa mehr für russische Oppositionelle? Peter Franck von der Sacharow Gesellschaft kritisiert die Entscheidung der Bundesregierung.
taz: Herr Franck, die deutsche Bundesregierung hat alle humanitäre Aufnahmeverfahren ausgesetzt. Das trifft auch russische Oppositionelle, die über diesen Weg bisher hier Schutz finden konnten. War der Schritt absehbar?
Peter Franck: Wir haben das befürchtet. Von der Regelung haben seit Beginn des umfassenden Angriffs Russlands auf die Ukraine viele profitiert. Die Stimmung im Land war und ist ja aber generell so, dass Aufnahmen aus dem Ausland eher schwieriger werden. Andererseits haben wir aber auch immer auf das vertraut, was innerhalb der letzten Bundesregierung vereinbart worden war. Denn die Situation hat sich ja nicht verändert. Noch stärkere Befürchtungen gab es aber bei den Betroffenen, die der Fortsetzung der Praxis nicht so richtig getraut haben.
taz: Die Regelung war seit Mai 2022 in Kraft. Von wie vielen Personen sprechen wir?
Franck: Im Zeitraum von Mai 2022 bis Mai 2025 reden wir von 2600 Personen aus Russland, die von der Möglichkeit, ein humanitäres Visum erhalten zu können, profitiert haben. Ich höre aus anderen Ländern, dass diese bei der Vergabe humanitärer Visa an Russ*innen wesentlich restriktiver sind. Auch die mit dem humanitären Aufenthaltsstatus in Deutschland verbundenen Sozialleistungen sind so, dass die Betroffenen in der Lage sind, ihr menschenrechtliches Engagement von hier aus fortzusetzen.
taz: Vielleicht können Sie noch ein wenig mehr darüber sagen, was genau dieses Visum bedeutet.
Franck: Dieses Visum ist wie eine Art Eintrittskarte. Mit ihr kann dann nach der Einreise ein Aufenthalt aus humanitären Gründen beantragt werden, der in der Regel gewährt wird. Das Visum ist in der Regel auf drei Monate befristet, der humanitäre Aufenthalt wird dann häufig für drei Jahre gewährt.
taz: Von der Opposition in Russland ist leider nicht mehr viel übrig. Viele sitzen in Haft oder wurden ins Exil gezwungen. Dennoch gibt es noch Menschen, die sich in Russland engagieren – allen Gefahren und Risiken zum Trotz. Was bedeutet die Entscheidung der Bundesregierung für sie?
Franck: Das kommt ganz klar als Zeichen der Entsolidarisierung an in einer Zeit wachsender Repressionen, in der diese Menschen unsere Solidarität so dringend bräuchten. Bislang war das humanitäre Visum immer noch ein Notausgang. Ohnehin nahm die Einzelfallprüfung immer auch eine gewisse Zeit in Anspruch. Aber Betroffene hatten zum Beispiel die Möglichkeit, nach Georgien zu reisen und von dort dann das humanitäre Verfahren zu durchlaufen. Dieser Notausgang ist jetzt erst einmal grundsätzlich versperrt. Sollte es dabei bleiben, werden Menschen, die sich in Russland weiter engagieren, dies bei einer Entscheidung über die Fortsetzung ihres Engagements berücksichtigen.
Ausgesetzt „Die humanitären Aufnahmeverfahren sind derzeit ausgesetzt“, heißt es seit kurzem auf der Internetseite des Bundesinnenministeriums. Der Schritt folgt auf eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag, in der stand: „Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden und keine neuen Programme auflegen.“
Geregelt Betroffen ist unter anderem die Regelung aus Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetz, die besagt, dass einem Ausländer durch den Bund aus „völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden“ könne.
Geprüft Momentan sind die Aufnahmeverfahren kategorisch ausgesetzt. Wie das Haus von Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) mehreren Medien mitteilte, werde derzeit noch geprüft, wie die Regierung in Zukunft mit der Aufnahmeregelung umgehen werde.
taz: Wie wirkt sich die Entscheidung der Bundesregierung auf Russ*innen aus, die bereits mit einem Aufenthaltsstatus in Deutschland sind?
Franck: Das führt verständlicherweise zu einer großen Verunsicherung hinsichtlich der Verlängerung ihrer Aufenthaltstitel, die zu anderen Verunsicherungen tritt: Viele dieser Menschen haben noch Verwandte in Russland, die sich in einer potenziellen Verfolgungssituation befinden. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur Wohnungsdurchsuchungen bei Eltern als Beispiel. Hinzu kommen natürlich die Probleme, die ein Leben im Exil generell mit sich bringt – allem voran das Erlernen einer neuen Sprache.
taz: In Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetz, um den es hier geht, heißt es auch, dass eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei, wenn damit die politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland gewahrt werden …..
Franck: Das ist aus meiner Sicht unbedingt gegeben. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass es überhaupt noch Menschen in Russland gibt, die demokratisch, menschenrechtlich und rechtsstaatlich orientiert weiter arbeiten, so trübe die Aussichten derzeit auch sein mögen. Eben genau dafür braucht es die Möglichkeit des Paragrafen 22. Übrigens: Wer stattdessen einen Asylantrag stellt, hat zumindest zunächst nur begrenzte Reisemöglichkeiten.
taz: Welchen Nachteil hat das politisch?
Franck: Menschenrechtler*innen und Oppositionelle arbeiten derzeit im Exil von vielen Ländern aus und halten Kontakt zu nationalen und internationalen Regierungsstellen. Sie sind deshalb auf die Reisemöglichkeiten angewiesen, die ihnen ein Aufenthaltstitel nach Paragraf 22 ermöglicht.
taz: Welches Argument würden Sie der Bundesregierung vor allem auf den Weg geben, damit Sie Ihre Entscheidung noch mal überdenkt?
Franck: Das Fenster, das wir jetzt haben, müssen wir nutzen, um so viel aufzubauen, wie möglich. Ich denke dabei vor allem an die Zeit nach einem Ende des Krieges. Da wird es darauf ankommen, dass es in Russland Menschen gibt, die sich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzen. Humanitäre Aufnahmen leisten einen Beitrag zu einem nachhaltigen Frieden. Auf diesen Zusammenhang von Frieden, gesellschaftlichem Fortschritt und Menschenrechten hat, ganz zu Recht, auch schon der Dissident Andrei Sacharow hingewiesen.
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