piwik no script img

Neue WeltordnungDas Ende des Westens

Stefan Reinecke
Essay von Stefan Reinecke

Die USA ersetzen Stärke des Rechts durch Recht des Stärkeren – und die Achse zwischen Washington und Europa bricht. Europa muss sich neu finden.

Europa braucht neue Bündnispartner Foto: Katja Gendikova

I m US-Wahlkampf 1916 warben die Demokraten mit dem Slogan „Er hat uns aus dem Krieg herausgehalten“. Gemeint waren der Krieg in Europa und Präsident Woodrow Wilson, der skeptisch gegenüber globalem Engagement war. Das schloss keineswegs aus, in Nachbarstaaten zu intervenieren. Die USA operierten in Wilsons Amtszeit in Haiti, Nicaragua, der Dominikanischen Republik, Mexiko. Die USA maßten sich laut der Monroe-Doktrin das Recht an, als Regionalmacht willfährige Regime zu installieren. 1917 Wilson änderte seine Meinung und schickte zwei Millionen Soldaten nach Europa. Der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg besiegelte die Niederlage des Deutschen Reiches – und war der Beginn des amerikanischen Jahrhunderts.

Wilson war überzeugt, dass „die göttliche Vorsehung“ die „friedfertigen“ Vereinigten Staaten beauftragt hatte, global „für Freiheit und Menschenrechte“ zu streiten. An die Stelle des zerfallenden osmanischen und Habsburger Reiches sollten Demokratien, Kapitalismus und nationale Selbstbestimmung treten. Hunderttausende feierten den US-Präsidenten im Dezember 1918 in Frankreich als Retter. Die Umsetzung von Wilsons forschem 14 Punkteprogramm, gedacht als gerechter Frieden, erwies sich angesichts der komplexen europäischen Wirklichkeit als schwieriger als gedacht. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau bemerkte bei den Friedensverhandlungen in Versailles spitz, Wilson führe sich auf wie Gott – der habe aber nur zehn Gebote erlassen, der US-Präsident gleich 14.

Woodrow Wilson verkörperte jene Mixtur aus Machtwillen und Idealismus, überlegener Feuerkraft und messianischer Moral, die für die USA in den folgenden hundert Jahren charakteristisch sein sollte. Sein politischer Traum, die Gründung des Völkerbunds, der künftig Kriege durch ein Regelwerk überflüssig machen sollte, scheiterte: Der US-Senat lehnte den Beitritt der USA ab. Schon im Moment des Aufstiegs der USA zur globalen Hegemonialmacht war die Spannung zwischen Universalismus und nationalem Egoismus, zwischen Vernunft und religiöser Verklärung spürbar.

Imperiale Überdehnung der USA

Das amerikanische Jahrhundert ist vorbei. Die USA sind im Stadium jener imperialen Überdehnung angekommen, die, wenn man dem britischen Historiker Paul Kennedy folgt, zyklisch den Aufstieg von Großmächten beendet und deren Verfall einleitet.

Es gibt in diesem Prozess ein paar zentrale Stationen, etwa den illegalen Angriffskrieg gegen den Irak 2003. Der damalige Präsident George W. Bush war, wie Wilson 1916, erst skeptisch gegen einen Kriegseinsatz, dann folgte er der Hybris der Neocons und glaubte, die göttliche Vorsehung werde den Irak mit US-Bomben in eine blühende Demokratie verwandeln. Der klägliche Rückzug aus Kabul 2021 und das Desaster in Bagdad zeigten, dass die USA mit der Rolle des Weltpolizisten überfordert waren.

Der Trumpismus ist kein Alptraum, aus dem wir aufwachen werden. Die USA und Europa haben nicht mehr die gleichen Interessen

Das Ende der globalen US-Vorherrschaft hat früher, unblutig und sachlich, begonnen – mit dem Beitritt China zur Welthandelsorganisation WTO 2001. Der politische Westen, die USA und Europa produzierten 2001 mehr als 40 Prozent aller Waren und Dienstleistungen weltweit, China damals nur drei Prozent. Heute ist der Anteil der USA und der EU auf je 14 Prozent gesunken, der chinesische hat sich auf 20 Prozent vervielfacht. Die Wohlstandsexplosion in China hat das globale Machtgefüge tiefer und radikaler verändert als jeder Krieg.

Abgehängt wie Großbritannien

Einen solch atemberaubend rasanten Aufschwung gab es Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal. Damals überholten die USA und das Deutsche Reich in extrem kurzer Zeit Großbritannien bei der Stahlproduktion. Das kündigte den Niedergang des britischen Empires und den Beginn des amerikanischen Jahrhunderts an. In gewisser Weise wiederholt sich diese Figur. Die USA heute ähneln mit sinkenden Patenten und gigantischer Verschuldung dem damals im Abstieg befindlichen britischen Weltreich, China mit seinem Innovationsgeist und machtpolitischen Ambitionen den einst aufstrebenden USA.

Es mag nahe liegen, den aktuellen Präsidenten mit seiner Mischung aus Autoritärem und intellektueller Dürftigkeit, Selbstüberschätzung und Kurzsichtigkeit für den Autor des Niedergangs der USA zu halten. Doch das ist analytisch falsch und politisch illusionär. Donald Trump ist das Symptom dieses Niedergangs.

Das Logo der taz: Weißer Schriftzung t a z und weiße Tatze auf rotem Grund.
taz debatte

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.

Die Kosten, den globalen Garanten der liberalen Weltordnung zu spielen, sind mit dem Aufstieg Chinas für die USA schlicht zu hoch geworden. Die USA verfügen zwar als einziger Staat über ein globales Netz von Militärstützpunkten. Sie geben mehr Geld für Rüstung aus als alle anderen Nato-Staaten, China und Russland zusammen. Aber sie sind ökonomisch eine Macht im Niedergang.

Trump ist eine weiten Teils deformierte Antwort auf Probleme, auf die die liberalen Eliten keine Lösungen haben. Von der Hyperglobalisierung seit 1990 haben die Superreichen im Westen und die Mittelschichten in China und in den aufstrebenden Staaten profitiert. Den Mittelschichten in den USA hat sie geschadet. Trumps Zollpolitik ist erpresserisch, ökonomisch schädlich, aber auch das Versprechen, die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Globalisierung für die US-Mittelschicht abzufedern.

Außenpolitik wie Roosevelt

Außenpolitisch markiert Trumps Politik des Rückzugs und der ökonomischen Abschottung via Zöllen eine Rückkehr zu Wilson im Wahlkampf 1916, zum Isolationismus. Theodore Roosevelt, einer von Wilsons Vorgängern, begründete 1918 seine Abneigung gegen den Völkerbund knapp und deutlich: „Wir sind keine Internationalisten, wir sind amerikanische Nationalisten“. Trump klingt heute nicht anders.

Mit dem Rückzug der USA aus der Rolle des Weltpolizisten zerfällt auch der politische Westen, die Achse Washington-Europa. Die Nato existiert zwar noch. Noch immer sind rund 80.000 US-Soldaten in Europa stationiert. Aber der Kern, das (atomare) Abschreckungsversprechen der USA für Europa, hat Trump aufgelöst, als er bekundete, Putin könne in Europa machen, was er will.

Oder ist das ein Irrtum? Auf diese Idee konnte man kommen, als Trump kürzlich Bundeskanzler Friedrich Merz und die Staatschefs Emmanuel Macron, Giorgia Meloni, Keir Starmer und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus empfing und Europas Führer in einer spektakulären live Übertragung Einigkeit mit dem gut aufgelegten US-Präsident demonstrierten.

Trump scheint – jedenfalls momentan – von der Idee ergriffen, wie Wilson 1917, Roosevelt 1941 und Clinton 1995, einen Krieg in Europa zu beenden. Waren die Untergangsprognosen also übereilt? Ist der Westen als Machtfaktor doch robuster als es scheint?

Unkalkulierbarkeit als Machtinstrument

Wer genau hinsah, entdeckte hinter der neuen transatlantischen Harmonie etwas anderes: Panik. Merz & Co versuchten fast alles zu vermeiden, was den wankelmütigen US-Präsidenten verstören könnte. Sie waren fluchtartig nach Washington gereist, um zu verhindern, dass Trump nach Putins Einflüsterungen in Alaska Selensky ein weiteres Mal öffentlich demütigen und von Hof jagen könnte. Dies war ein gut choreografierter Notfalleinsatz, geboren aus berechtigtem Misstrauen – aber keine Wiedergeburt des politischen Westens.

Hinzu kommt, dass sich Trump launisch wie ein Kind verhält, das bei jedem neuen Spielzeug das alte liegen lässt. Verlass ist bei Trump nur auf seine Unzuverlässigkeit. Rationaler formuliert: Der US-Präsident setzt, typisch für Autokraten, Unkalkulierbarkeit als Machtinstrument ein. Die USA streifen die Rolle des Welthegemon ab und verwandeln sich in eine Regionalmacht. Trumps territoriale Drohungen Richtung Panama, Grönland und Kanada wirken wie eine Wiederbelebung der Monroe-Doktrin aus dem 19. Jahrhundert.

Entsprechend geringer fällt das Interesse der posthegemonialen USA an Europa und dessen Sicherheit aus. Dass die USA Kiew irgendwann endgültig opfern, ist noch immer wahrscheinlicher als eine Renaissance des Westens in einer Anti-Putin-Allianz.

Sicherheit als Auslaufmodell

Was bedeutet das für Europa? Die USA garantierten seit 1945 die Sicherheit (West-)Europas. Das ist ein Auslaufmodell. Daher nimmt man hierzulande das Ende des Westens – gerade angesichts des russischen Revanchismus – mit einer Mischung aus Nostalgie und Angst wahr. Europa allein zu Haus. Doch sich an ein besseres Gestern zu klammern, ist selten klug.

Der Trumpismus ist kein Alptraum, aus dem wir aufwachen werden. Nüchtern betrachtet haben die USA und Europa in der postwestlichen Welt nicht mehr die gleichen Interessen. Die USA zertrümmern derzeit die internationale regelbasierte Ordnung, die Wilson und Franklin D. Roosevelt mit erschufen.

Trump ist aus der Weltgesundheitsorganisation WHO, dem Klimaabkommen, UNESCO, dem UN-Menschenrechtsrat ausgestiegen. Er hat das Iran-Atom-Abkommen und den INF Abrüstungsvertrag ruiniert. Die USA ersetzen die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren.

Europa braucht neue Bündnispartner

Europa aber ist auf eine halbwegs funktionierende rechtliche globale Ordnung angewiesen. Die EU ist selbst ein Regelwerk, das sich ohne akzeptierte Normen in Luft auflösen würde. Europa muss sich künftig Bündnispartner jenseits der USA suchen. Und es muss unabhängig werden, um in der neuen gewalttätigeren Weltordnung weder von den USA noch von Russland wirtschaftlich noch militärisch erpressbar zu sein. Das wird ein steiniger, absturzgefährdeter Weg.

Vielleicht aber ist das Ende des Westens nicht nur ein Verlust. Zur Pax Americana gehörten auch ungerechte Kriege, brutale Machtpolitik, Putsche gegen demokratisch gewählte Politiker. Der Historiker Jürgen Osterhammel hat vor ein paar Jahren bemerkt, dass der Westen von Beginn an immer minderwertige Gegner brauchte: „Kein Westen ohne Zivilisationsgefälle“. Europa nach dem Untergang des Westens ist auch die Möglichkeit, diese finstere Seite, die arrogante Überlegenheit, zu überwinden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
Mehr zum Thema

0 Kommentare