Ordensgemeinschaft in Frankreich: Totgeschwiegene sexuelle Gewalt
Opfer sexualisierter Gewalt einer internationalen ökumenischen Gemeinschaft kritisieren das Gedenken an deren ermordeten Gründer als Farce.

Das Nachrichtenportal der katholischen Kirche in Deutschland fragte zum 20. Todestag: „Frère Roger: Ein Heiliger der Herzen – auch ein Märtyrer?“ Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sagte, diee Erinnerung an den gebürtigen Schweizer zeige, „wie Glaube Brücken bauen kann – zwischen Konfessionen, Völkern und Generationen“.
In Taizé selbst wurde der Todestag am 16. August mit einer online übertragenen Gesprächsrunde begangen, unter dem Titel „Frère Roger – Zeuge der Hoffnung“.
Dass in den Würdigungen die sexualisierte Gewalt nicht zur Sprache kam, die Taizé-Brüder begingen, als Schutz die Gemeinschaft leitete, kritisieren nun Betroffene. Anne Terlongou, über deren Fall die taz 2022 berichtete, sagt: „Bei der Gesprächsrunde wurden gute und berührende Erinnerungen geteilt.“ Gefehlt habe, dass Schutz seine Verantwortung für Schutzbefohlene und einzelne Brüder nicht ausreichend wahrgenommen habe.
Gemeinschaft beschuldigt 14 ihrer Brüder
Erst im Juni hatte ein ausgetretenes Mitglied der Taizé-Gemeinschaft Anzeige gegen zwei Brüder erstattet, wegen Vorfällen 1970 und 1971. „Wenn ich mich nicht verteidigt hätte, ich wäre vergewaltigt worden“, zitiert die Lokalzeitung Le Journal de Saône-et-Loire den Mann, der im schweizerischen Genf lebt.
2019 hatte die Taizé-Gemeinschaft von sich aus erste Fälle sexualisierter Gewalt durch Brüder der Gemeinschaft öffentlich gemacht, es folgten weitere Meldungen. Von 14 beschuldigten Brüdern spricht die Gemeinschaft heute, sechs von ihnen seien tot.
2024 wurde ein von der Gemeinschaft ausgeschlossener Bruder von einem französischen Gericht wegen des massenhaften „Erwerbs von Missbrauchsdarstellungen“ schuldig gesprochen.
Seit Bekanntwerden der Übergriffe hat Taizé Melde- und Präventionsmaßnahmen ergriffen, Anzeigen erstattet und die Anerkennungs- und Wiedergutmachungskommission der französischen Orden eingeschaltet, die CRR.
Gründer soll bei internen Konflikte ausgewichen sein
Mit dieser Kommission stand auch der schweizerische Ex-Bruder in Kontakt. Er fühlte sich trotz zweifacher Prüfung seiner Akte durch die CRR „weder angehört noch respektiert, weder anerkannt noch entschädigt“, sagte er Le Journal de Saône-et-Loire. Auch kritisierte er Frère Roger Schutz dafür, Konflikten innerhalb der Gemeinschaft aus dem Weg gegangen zu sein.
Als er Schutz gefragt habe, warum er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werde, soll dieser geantwortet haben: „Da ist dein Herz und da ist das Herz so vieler Brüder.“ Es habe Jahre gedauert, wird der Ex-Bruder zitiert, bis er den wirklichen Sinn dieses Satzes erkannt habe: „Du bist ein Objekt der sexuellen Begierde vieler Brüder.“
Frère Roger Schutz hatte die Taizé-Gemeinschaft 1942 gegründet, sie sollte Vorbild sein für Versöhnung zwischen christlichen Konfessionen und verfeindeten Ländern. Heute besteht sie aus 80 Brüdern, die aus etwa 30 Ländern stammen. 15 bis 20 Brüder leben in kleinen Ablegern in afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Ländern.
Das Weiterbestehen der Gemeinschaft habe für Frère Roger Schutz über allem gestanden, sagt Anne Terlongou, die 2006 bis 2008 als Freiwillige bei den Jugendtreffen von Taizé mitgearbeitet hat. „Deshalb wurden Konflikte ausgespart, Unangenehmes nicht angesprochen. Und letztlich Verantwortung nicht wahrgenommen.“
Vorwurf eines gefährlichen Harmoniebedürfnisses
Die taz hat zwei ehemalige Brüder zur Leitungsrolle von Schutz angefragt, aber keine Antwort erhalten. Im Buch „Danke, Freré Roger“ des ausgetretenen Bruders Klaus Hamburger aber findet sich folgende Passage: „Frère Roger konnte mit nichts alles sagen. Er sah Grenzen, die er nicht überschritt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Er hatte Takt, konnte verschwiegen sein, zurückhaltend und rücksichtsvoll.“
Für Betroffene sexualisierter Gewalt klingt das wie Hohn. Eine von ihnen, die anonym bleiben möchte, sagt: „Das gefährliche Harmoniebedürfnis von Frère Roger ist nicht ansatzweise aufgearbeitet. Für mich als Betroffene ist das eine Farce.“
Mitte August sagte der heutige Leiter von Taizé, Frère Matthew, der mit bürgerlichem Namen Andrew Thorpe heißt, in einem Interview mit der katholischen Zeitung La Vie, dass gegen zwei frühere Brüder noch Gerichtsverfahren wegen sexualisierter Gewalt laufen.
Neuer Leiter: „Den Opfer zuhören ist unerlässlich“
„In der Vergangenheit gab es Fehler“, so Thorpe, „und wir verstehen die Spuren, die diese Missbräuche bei den Opfern hinterlassen, besser. Ihnen zuzuhören, ist unerlässlich.“
Die Brüder seien sich heute ihrer Autorität gegenüber jungen Menschen bewusst, so Thorpe, „obwohl wir lange Zeit dachten, wir wären in einer Position auf gleicher Ebene. In Wirklichkeit können sie sich in verletzlichen Situationen befinden, wenn sie sich uns anvertrauen.“ Prävention und Aufarbeitung seien ein fortlaufendes Projekt und eine große Verantwortung.
Dazu, sagt Anne Terlongou, gehöre aber auch die Auseinandersetzung mit den „Schwächen“ einer charismatischen Gründerfigur.
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